Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Agrare Reformen in Rußland ohne Zweifel recht, wenn er der individualistischen Wirtschaftsform den Vorzug Was wird? Die wirtschaftlichen Folgen der Abschaffung des Mir scheint G, Lleinow Agrare Reformen in Rußland ohne Zweifel recht, wenn er der individualistischen Wirtschaftsform den Vorzug Was wird? Die wirtschaftlichen Folgen der Abschaffung des Mir scheint G, Lleinow <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0039" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322440"/> <fw type="header" place="top"> Agrare Reformen in Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_77" prev="#ID_76"> ohne Zweifel recht, wenn er der individualistischen Wirtschaftsform den Vorzug<lb/> gibt vor der genossenschaftlichen, kommunistischen. Dann wird man bald in<lb/> Rußland Hunderttausende fleißiger Chinesen bei den Erntearbeiten sehen und<lb/> das russische Getreide wird die Welt überschwemmen. Solche Erfolge mögen<lb/> kommen, wenn die russische Regierung das russische Volk preisgeben wollte<lb/> zugunsten der Amerikanisierung. Wird sie es tun? Die Folgen wären unberechenbar,<lb/> nicht nur für Rußland!</p><lb/> <p xml:id="ID_78"> Was wird? Die wirtschaftlichen Folgen der Abschaffung des Mir scheint<lb/> mir Herr Dr. Linde im allgemeinen richtig zu erkennen. Die Getreideproduktion<lb/> wird sich heben — bis zu einem, wie ich glaube, nicht sehr hohen Grade.<lb/> Die Gefahren einer Dürre scheinen mir aber heute für Rußland (wirtschaftlich<lb/> und politisch betrachtet) größer, als vor der Reform Stolypins. Bis dahin<lb/> hungerten die Bauern auf den Dörfern weit ab von der Eisenbahn und von<lb/> den Städten, und die Polizeichefs von Petersburg, Moskau und Charkow oder<lb/> Briansk brauchten sich keine Sorge zu machen, wenn Arbeiterentlassungen das<lb/> brodlose Proletariat von heute auf morgen um Tausende vermehrten: mit Sonder¬<lb/> zügen wurden die Leute in die Dörfer abgeschoben; dort konnten sie kein Unheil<lb/> anrichten, mochten sie auch zu Skeletten abmagern. Jetzt geht das nicht mehr<lb/> und in weiteren fünf Jahren wird es vollständig ausgeschlossen sein, wenn die<lb/> Auflösung des Mir im bisherigen Tempo weiterschreitet. Die Dürre wird ihre<lb/> Begleiterscheinungen fortab vorwiegend in den Industriestädten zeigen. Die<lb/> russische Industrie, die auf dem Weltmarkte noch nicht konkurrenzfähig ist, wird<lb/> noch abhängiger vom innerrussischen Markt sein, wie bisher und das Industrie¬<lb/> kapital, das bisher schon in Jahren schlechter Ernten große Opfer bringen<lb/> mußte, wird fortab noch ganz anders bluten, wenn es einmal wieder in Süd¬<lb/> rußland nicht gelungen sein sollte, das Saatkorn am richtigen Tage in die Erde<lb/> zu bringen. Das ist die wirtschaftliche Kehrseite der Agrarreform Stolypins.<lb/> Die politische ergibt sich von selbst: Rußland steuert der Revolution zu, weil<lb/> die Regierung nur den Interessen des Großkapitals Sorge tragend alles ver¬<lb/> nachlässigt hat, was der großen Volksmasse zur Entwicklung auf dem sichern<lb/> Boden der heimatlichen Scholle notwendig war. Mehr als früher sind wir<lb/> berechtigt dies russische Reich einen Koloß auf tönernen Füßen zu nennen.</p><lb/> <note type="byline"> G, Lleinow</note><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0039]
Agrare Reformen in Rußland
ohne Zweifel recht, wenn er der individualistischen Wirtschaftsform den Vorzug
gibt vor der genossenschaftlichen, kommunistischen. Dann wird man bald in
Rußland Hunderttausende fleißiger Chinesen bei den Erntearbeiten sehen und
das russische Getreide wird die Welt überschwemmen. Solche Erfolge mögen
kommen, wenn die russische Regierung das russische Volk preisgeben wollte
zugunsten der Amerikanisierung. Wird sie es tun? Die Folgen wären unberechenbar,
nicht nur für Rußland!
Was wird? Die wirtschaftlichen Folgen der Abschaffung des Mir scheint
mir Herr Dr. Linde im allgemeinen richtig zu erkennen. Die Getreideproduktion
wird sich heben — bis zu einem, wie ich glaube, nicht sehr hohen Grade.
Die Gefahren einer Dürre scheinen mir aber heute für Rußland (wirtschaftlich
und politisch betrachtet) größer, als vor der Reform Stolypins. Bis dahin
hungerten die Bauern auf den Dörfern weit ab von der Eisenbahn und von
den Städten, und die Polizeichefs von Petersburg, Moskau und Charkow oder
Briansk brauchten sich keine Sorge zu machen, wenn Arbeiterentlassungen das
brodlose Proletariat von heute auf morgen um Tausende vermehrten: mit Sonder¬
zügen wurden die Leute in die Dörfer abgeschoben; dort konnten sie kein Unheil
anrichten, mochten sie auch zu Skeletten abmagern. Jetzt geht das nicht mehr
und in weiteren fünf Jahren wird es vollständig ausgeschlossen sein, wenn die
Auflösung des Mir im bisherigen Tempo weiterschreitet. Die Dürre wird ihre
Begleiterscheinungen fortab vorwiegend in den Industriestädten zeigen. Die
russische Industrie, die auf dem Weltmarkte noch nicht konkurrenzfähig ist, wird
noch abhängiger vom innerrussischen Markt sein, wie bisher und das Industrie¬
kapital, das bisher schon in Jahren schlechter Ernten große Opfer bringen
mußte, wird fortab noch ganz anders bluten, wenn es einmal wieder in Süd¬
rußland nicht gelungen sein sollte, das Saatkorn am richtigen Tage in die Erde
zu bringen. Das ist die wirtschaftliche Kehrseite der Agrarreform Stolypins.
Die politische ergibt sich von selbst: Rußland steuert der Revolution zu, weil
die Regierung nur den Interessen des Großkapitals Sorge tragend alles ver¬
nachlässigt hat, was der großen Volksmasse zur Entwicklung auf dem sichern
Boden der heimatlichen Scholle notwendig war. Mehr als früher sind wir
berechtigt dies russische Reich einen Koloß auf tönernen Füßen zu nennen.
G, Lleinow
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