Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Karl Scilzor gesprochen werden. Wenn man das sieben Jahre täglich hört, lernt mein's auch "Introilzo ani Altare Oel! /^et Osum, cui laetikicat juventutem meam!" Aber heute geht es doch nicht so fließend wie sonst. Er muß beständig daran Nach der Messe geht er zum Pariser Tor hinaus und die Rabenheimer Karl findet das Tor wirklich verschlossen. Da schiebt er sein Gesangbuch in Es ist nichts zu hören, nnr sein eigen Herz klopft so laut, daß er den Mund Auf den Fußspitzen schleicht er weiter, die Augen weit offen, der Gehörsinn Die Sonne! jubelt es da in ihm, und über die Bäume des Parkes hinweg, Karl Scilzor gesprochen werden. Wenn man das sieben Jahre täglich hört, lernt mein's auch „Introilzo ani Altare Oel! /^et Osum, cui laetikicat juventutem meam!" Aber heute geht es doch nicht so fließend wie sonst. Er muß beständig daran Nach der Messe geht er zum Pariser Tor hinaus und die Rabenheimer Karl findet das Tor wirklich verschlossen. Da schiebt er sein Gesangbuch in Es ist nichts zu hören, nnr sein eigen Herz klopft so laut, daß er den Mund Auf den Fußspitzen schleicht er weiter, die Augen weit offen, der Gehörsinn Die Sonne! jubelt es da in ihm, und über die Bäume des Parkes hinweg, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0276" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322678"/> <fw type="header" place="top"> Karl Scilzor</fw><lb/> <p xml:id="ID_1268" prev="#ID_1267"> gesprochen werden. Wenn man das sieben Jahre täglich hört, lernt mein's auch<lb/> und hat dann immerdar seine Freude daran, die lateinische Messe anzubeten.<lb/> Er kann zwar das Lateinische nicht übersetzen, aber rechts die Gebete hat er auch<lb/> schon hundertmal gelesen, um zu wissen, was das Lateinische eigentlich heißt. Ein<lb/> Pfarrer kann diese lateinischen Gebete schon ziemlich rasch sprechen, aber er ist<lb/> ein Stümper gegen seine Ministranten, die ihre Antworten herunterrasseln, als<lb/> sei eine Raspelmaschine in Tätigkeit gesetzt. Darum schadet es auch gar nichts,<lb/> wenn Karl ein bißchen später in die Kirche kommt und der Pfarrer das Staffel¬<lb/> gebet bereits beendet hat. Karl Salzer, gewesener Meßdiener, holt ihn noch ein.</p><lb/> <p xml:id="ID_1269"> „Introilzo ani Altare Oel! /^et Osum, cui laetikicat juventutem meam!"</p><lb/> <p xml:id="ID_1270"> Aber heute geht es doch nicht so fließend wie sonst. Er muß beständig daran<lb/> denken, daß er nachher auf den Friedhof gehen, daß er da seines Vaters Grab<lb/> sehen wird. Wie das aussehen mag unter den anderen? Gewiß nicht schön I Ob<lb/> und kahl, die anderen dagegen blühend. Noch vor der Kirchweihe, die in acht<lb/> Tagen ist, wird er es mit Blumen bepflanzen. Tante Male wird ihm sicher einige<lb/> Geranimstöcke aus ihrem Garten geben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1271"> Nach der Messe geht er zum Pariser Tor hinaus und die Rabenheimer<lb/> Chaussee hinauf. Den Haupteingang, der an der Kneisenheimer Straße liegt,<lb/> will er nicht benutzen; man soll ihn nicht sehen. An der Nordseite des Friedhofs<lb/> führt ein Weg vorbei- dort ist auch ein Tor. Mitunter steht es auf; man kann<lb/> einmal probieren. Ist es aber verschlossen, so kann man ja oben drüber klettern.</p><lb/> <p xml:id="ID_1272"> Karl findet das Tor wirklich verschlossen. Da schiebt er sein Gesangbuch in<lb/> die Rocktasche; recht zwängen muß er es, denn es ist klotzig und dick wie ein<lb/> Backstein. Dann drückt er den Hut fester in den Kopf und schaut sich noch einmal<lb/> scheu um, ob ihn auch keiner belauern könne. Aber in der Sonntagsfrühe sind<lb/> die Felder leer von Menschen, und Fuhrverkehr ist auf der Rabenheimer Chaussee<lb/> Sonntags auch nicht. So steigt er unbemerkt auf das Lattentor und schwingt<lb/> sich darüber — drunten steht er auf dem Kiesweg des Friedhofs, steht stille<lb/> und lauscht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1273"> Es ist nichts zu hören, nnr sein eigen Herz klopft so laut, daß er den Mund<lb/> öffnen muß. Wohl hundertmal sagt er es sich vor, daß er kein Dieb sei, sondern<lb/> wie jeder das Recht habe, den Kirchhof zu besuchen, aber seine Beklemmung will<lb/> nicht weichen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1274"> Auf den Fußspitzen schleicht er weiter, die Augen weit offen, der Gehörsinn<lb/> aufs äußerste gespannt, der Oberkörper nach vorn gereckt. Erst als er mehrere<lb/> Seitenwege gekreuzt hat, merkt er sich seinen Diebsgang an. Im stillen schilt er<lb/> sich einen Esel und sucht seine erregten Nerven zu einer Dämpfung zu zwingen.<lb/> Vor allem tritt er nun mit vollem Fuße auf. Aber schon gleich darauf erschrickt<lb/> er vor seinem eigenen Schritt. Zwar ist es hellichter Tag, die Vögel tirilieren,<lb/> und die liebe Sonne scheint.</p><lb/> <p xml:id="ID_1275"> Die Sonne! jubelt es da in ihm, und über die Bäume des Parkes hinweg,<lb/> über denen sie steht, schaut er zu ihr auf. Im September kann ein starkes Auge<lb/> schon in ihr Leuchten hineinsehen, so lange sie noch im Osten steht, und Karl schaut<lb/> ihr tief ins reine Antlitz. Das gibt ihm Mut. Das hat er nun schon vom Unkel<lb/> Hannes gelernt, Mut zu schöpfen und seelische Ruhe aus dem bloßen Anblick der<lb/> Sonne, die er als lebendiges Körperwesen fühlt.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0276]
Karl Scilzor
gesprochen werden. Wenn man das sieben Jahre täglich hört, lernt mein's auch
und hat dann immerdar seine Freude daran, die lateinische Messe anzubeten.
Er kann zwar das Lateinische nicht übersetzen, aber rechts die Gebete hat er auch
schon hundertmal gelesen, um zu wissen, was das Lateinische eigentlich heißt. Ein
Pfarrer kann diese lateinischen Gebete schon ziemlich rasch sprechen, aber er ist
ein Stümper gegen seine Ministranten, die ihre Antworten herunterrasseln, als
sei eine Raspelmaschine in Tätigkeit gesetzt. Darum schadet es auch gar nichts,
wenn Karl ein bißchen später in die Kirche kommt und der Pfarrer das Staffel¬
gebet bereits beendet hat. Karl Salzer, gewesener Meßdiener, holt ihn noch ein.
„Introilzo ani Altare Oel! /^et Osum, cui laetikicat juventutem meam!"
Aber heute geht es doch nicht so fließend wie sonst. Er muß beständig daran
denken, daß er nachher auf den Friedhof gehen, daß er da seines Vaters Grab
sehen wird. Wie das aussehen mag unter den anderen? Gewiß nicht schön I Ob
und kahl, die anderen dagegen blühend. Noch vor der Kirchweihe, die in acht
Tagen ist, wird er es mit Blumen bepflanzen. Tante Male wird ihm sicher einige
Geranimstöcke aus ihrem Garten geben.
Nach der Messe geht er zum Pariser Tor hinaus und die Rabenheimer
Chaussee hinauf. Den Haupteingang, der an der Kneisenheimer Straße liegt,
will er nicht benutzen; man soll ihn nicht sehen. An der Nordseite des Friedhofs
führt ein Weg vorbei- dort ist auch ein Tor. Mitunter steht es auf; man kann
einmal probieren. Ist es aber verschlossen, so kann man ja oben drüber klettern.
Karl findet das Tor wirklich verschlossen. Da schiebt er sein Gesangbuch in
die Rocktasche; recht zwängen muß er es, denn es ist klotzig und dick wie ein
Backstein. Dann drückt er den Hut fester in den Kopf und schaut sich noch einmal
scheu um, ob ihn auch keiner belauern könne. Aber in der Sonntagsfrühe sind
die Felder leer von Menschen, und Fuhrverkehr ist auf der Rabenheimer Chaussee
Sonntags auch nicht. So steigt er unbemerkt auf das Lattentor und schwingt
sich darüber — drunten steht er auf dem Kiesweg des Friedhofs, steht stille
und lauscht.
Es ist nichts zu hören, nnr sein eigen Herz klopft so laut, daß er den Mund
öffnen muß. Wohl hundertmal sagt er es sich vor, daß er kein Dieb sei, sondern
wie jeder das Recht habe, den Kirchhof zu besuchen, aber seine Beklemmung will
nicht weichen.
Auf den Fußspitzen schleicht er weiter, die Augen weit offen, der Gehörsinn
aufs äußerste gespannt, der Oberkörper nach vorn gereckt. Erst als er mehrere
Seitenwege gekreuzt hat, merkt er sich seinen Diebsgang an. Im stillen schilt er
sich einen Esel und sucht seine erregten Nerven zu einer Dämpfung zu zwingen.
Vor allem tritt er nun mit vollem Fuße auf. Aber schon gleich darauf erschrickt
er vor seinem eigenen Schritt. Zwar ist es hellichter Tag, die Vögel tirilieren,
und die liebe Sonne scheint.
Die Sonne! jubelt es da in ihm, und über die Bäume des Parkes hinweg,
über denen sie steht, schaut er zu ihr auf. Im September kann ein starkes Auge
schon in ihr Leuchten hineinsehen, so lange sie noch im Osten steht, und Karl schaut
ihr tief ins reine Antlitz. Das gibt ihm Mut. Das hat er nun schon vom Unkel
Hannes gelernt, Mut zu schöpfen und seelische Ruhe aus dem bloßen Anblick der
Sonne, die er als lebendiges Körperwesen fühlt.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |