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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Aarl Salzer

Aber, wie gesagt, besonders in den ersten Monaten nach dem Tode eines
Lieben gehen sie eifrig auf den Friedhof. Da blühen die Gräber in aller Pracht;
ja, sie sind stolz auf ihre Gräber. Man kann sagen: es wird ein wahrer Luxus
getrieben in Blumen und Kränzen, und an Allerheiligen-Allerseelen erreicht
er seinen Höhepunkt, bis dann der erste Frost alles knickt und schwarz und
welk macht.

Allein im September ist noch alles blühend, wenigstens auf dem neuen
Teil des Gottesackers. Auf den alten Gräbern, auf denen die verwitterten Kreuze
und Steine stehen, wuchert meist Gras, und Fliederbäume senken ihre Wurzeln
tief gradem.

Unter den neuen Gräbern ist da eines, das nicht blüht. staubig liegt der
Lehmhügel. Sonntags nach dem Hochamt steht auch niemand da, der betet. Auch
nachmittags nach dem Kaffeetrinken, wenn die Weiber vor der Rosenkranzandacht
oder danach ihren Spaziergang auf den Kirchhof machen, ist niemand am Grabe,
der mit sanften Worten von dem spricht, der da drunten ruht. Immer liegt das
Grab allein und verlassen. Höchstens daß die Vorübergehenden auf das Kreuz
deuten und hämisch dazu lachen.

Aber da ist nun der zweite Sonntag im September angebrochen, und .Karl
Salzer macht sich in der Frühe parat, um in die Sechsuhrmesse zu gehen. Er
steht vor der Waschschüssel, tunkt den Kamm in das Wasser, in dem er sich bereits
gewaschen hat und fährt damit durchs Haar, strahlt die nassen Haare alle nach vorn
und zieht dann übers linke Auge den Scheitel. Unkel Hannes nennt Karls
Scheitel ein feines Lauspfädchen. Wie der Bursche sich herumdreht, um aus dem
Schranke einen frischen Kragen zu holen, sieht er die Tante Male durch den
Hof gehen.

"G' Morje, Tante Male!" ruft er zum Fenster hinunter. "El, ich wollt Euch
nur mal fragen, ob ich heut schon vor der Kirch meinen Kaffee trinken könnt?"

"El jol" erwidert Male, "das kannst du; ich brüh ihn jetzert über. Hast
du was vor?"

Da legt der Junge die beiden Hände hohl um den Mund und ruft halblaut
hinunter:

"Tante Male, ich kann's jetzert net mehr aushalten, ich will mal auf den
Kirchhof gehen an meinem Vater sein GrabI"

"'s recht, lieber Bub, das tu du nurl" entgegnet Male Holtner erfreut, die
schon mehrmals dem Bruder Hannes gesagt hat, dasz er den Burschen doch einmal
auf den Kirchhof stäuben solle, wohingegen der Bruder Hannes stets erklärt hat,
dazu dürfe man den Karl nicht zwingen, das müsse von selber kommen.

Karl wartet immer, bis es "ausgeläutet" hat, und geht dann erst aus dem
Hause. So ist er sicher, auf dem Kirchwege ziemlich allein zu sein. Auch heilte
macht er es so.

In der Kirche stellt er sich unter die Stiege, die auf die Empore führt; da
ist er unbeachtet. Er klappt sein Gesangbuch auf und blättert sich zur ersten Me߬
andacht, das ist die, wie der Priester sie am Altare betet. Auf der linken Spalte
stehen die Gebete in lateinischer Sprache, aus der rechten in deutscher. Karl war
als Schüler Meßdiener gewesen. So weiß er alle Antworten des Ministranten
auswendig, und auch die Gebete des Priesters sind ihm geläufig, soweit sie laut


Aarl Salzer

Aber, wie gesagt, besonders in den ersten Monaten nach dem Tode eines
Lieben gehen sie eifrig auf den Friedhof. Da blühen die Gräber in aller Pracht;
ja, sie sind stolz auf ihre Gräber. Man kann sagen: es wird ein wahrer Luxus
getrieben in Blumen und Kränzen, und an Allerheiligen-Allerseelen erreicht
er seinen Höhepunkt, bis dann der erste Frost alles knickt und schwarz und
welk macht.

Allein im September ist noch alles blühend, wenigstens auf dem neuen
Teil des Gottesackers. Auf den alten Gräbern, auf denen die verwitterten Kreuze
und Steine stehen, wuchert meist Gras, und Fliederbäume senken ihre Wurzeln
tief gradem.

Unter den neuen Gräbern ist da eines, das nicht blüht. staubig liegt der
Lehmhügel. Sonntags nach dem Hochamt steht auch niemand da, der betet. Auch
nachmittags nach dem Kaffeetrinken, wenn die Weiber vor der Rosenkranzandacht
oder danach ihren Spaziergang auf den Kirchhof machen, ist niemand am Grabe,
der mit sanften Worten von dem spricht, der da drunten ruht. Immer liegt das
Grab allein und verlassen. Höchstens daß die Vorübergehenden auf das Kreuz
deuten und hämisch dazu lachen.

Aber da ist nun der zweite Sonntag im September angebrochen, und .Karl
Salzer macht sich in der Frühe parat, um in die Sechsuhrmesse zu gehen. Er
steht vor der Waschschüssel, tunkt den Kamm in das Wasser, in dem er sich bereits
gewaschen hat und fährt damit durchs Haar, strahlt die nassen Haare alle nach vorn
und zieht dann übers linke Auge den Scheitel. Unkel Hannes nennt Karls
Scheitel ein feines Lauspfädchen. Wie der Bursche sich herumdreht, um aus dem
Schranke einen frischen Kragen zu holen, sieht er die Tante Male durch den
Hof gehen.

„G' Morje, Tante Male!" ruft er zum Fenster hinunter. „El, ich wollt Euch
nur mal fragen, ob ich heut schon vor der Kirch meinen Kaffee trinken könnt?"

„El jol" erwidert Male, „das kannst du; ich brüh ihn jetzert über. Hast
du was vor?"

Da legt der Junge die beiden Hände hohl um den Mund und ruft halblaut
hinunter:

„Tante Male, ich kann's jetzert net mehr aushalten, ich will mal auf den
Kirchhof gehen an meinem Vater sein GrabI"

„'s recht, lieber Bub, das tu du nurl" entgegnet Male Holtner erfreut, die
schon mehrmals dem Bruder Hannes gesagt hat, dasz er den Burschen doch einmal
auf den Kirchhof stäuben solle, wohingegen der Bruder Hannes stets erklärt hat,
dazu dürfe man den Karl nicht zwingen, das müsse von selber kommen.

Karl wartet immer, bis es „ausgeläutet" hat, und geht dann erst aus dem
Hause. So ist er sicher, auf dem Kirchwege ziemlich allein zu sein. Auch heilte
macht er es so.

In der Kirche stellt er sich unter die Stiege, die auf die Empore führt; da
ist er unbeachtet. Er klappt sein Gesangbuch auf und blättert sich zur ersten Me߬
andacht, das ist die, wie der Priester sie am Altare betet. Auf der linken Spalte
stehen die Gebete in lateinischer Sprache, aus der rechten in deutscher. Karl war
als Schüler Meßdiener gewesen. So weiß er alle Antworten des Ministranten
auswendig, und auch die Gebete des Priesters sind ihm geläufig, soweit sie laut


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[0275] Aarl Salzer Aber, wie gesagt, besonders in den ersten Monaten nach dem Tode eines Lieben gehen sie eifrig auf den Friedhof. Da blühen die Gräber in aller Pracht; ja, sie sind stolz auf ihre Gräber. Man kann sagen: es wird ein wahrer Luxus getrieben in Blumen und Kränzen, und an Allerheiligen-Allerseelen erreicht er seinen Höhepunkt, bis dann der erste Frost alles knickt und schwarz und welk macht. Allein im September ist noch alles blühend, wenigstens auf dem neuen Teil des Gottesackers. Auf den alten Gräbern, auf denen die verwitterten Kreuze und Steine stehen, wuchert meist Gras, und Fliederbäume senken ihre Wurzeln tief gradem. Unter den neuen Gräbern ist da eines, das nicht blüht. staubig liegt der Lehmhügel. Sonntags nach dem Hochamt steht auch niemand da, der betet. Auch nachmittags nach dem Kaffeetrinken, wenn die Weiber vor der Rosenkranzandacht oder danach ihren Spaziergang auf den Kirchhof machen, ist niemand am Grabe, der mit sanften Worten von dem spricht, der da drunten ruht. Immer liegt das Grab allein und verlassen. Höchstens daß die Vorübergehenden auf das Kreuz deuten und hämisch dazu lachen. Aber da ist nun der zweite Sonntag im September angebrochen, und .Karl Salzer macht sich in der Frühe parat, um in die Sechsuhrmesse zu gehen. Er steht vor der Waschschüssel, tunkt den Kamm in das Wasser, in dem er sich bereits gewaschen hat und fährt damit durchs Haar, strahlt die nassen Haare alle nach vorn und zieht dann übers linke Auge den Scheitel. Unkel Hannes nennt Karls Scheitel ein feines Lauspfädchen. Wie der Bursche sich herumdreht, um aus dem Schranke einen frischen Kragen zu holen, sieht er die Tante Male durch den Hof gehen. „G' Morje, Tante Male!" ruft er zum Fenster hinunter. „El, ich wollt Euch nur mal fragen, ob ich heut schon vor der Kirch meinen Kaffee trinken könnt?" „El jol" erwidert Male, „das kannst du; ich brüh ihn jetzert über. Hast du was vor?" Da legt der Junge die beiden Hände hohl um den Mund und ruft halblaut hinunter: „Tante Male, ich kann's jetzert net mehr aushalten, ich will mal auf den Kirchhof gehen an meinem Vater sein GrabI" „'s recht, lieber Bub, das tu du nurl" entgegnet Male Holtner erfreut, die schon mehrmals dem Bruder Hannes gesagt hat, dasz er den Burschen doch einmal auf den Kirchhof stäuben solle, wohingegen der Bruder Hannes stets erklärt hat, dazu dürfe man den Karl nicht zwingen, das müsse von selber kommen. Karl wartet immer, bis es „ausgeläutet" hat, und geht dann erst aus dem Hause. So ist er sicher, auf dem Kirchwege ziemlich allein zu sein. Auch heilte macht er es so. In der Kirche stellt er sich unter die Stiege, die auf die Empore führt; da ist er unbeachtet. Er klappt sein Gesangbuch auf und blättert sich zur ersten Me߬ andacht, das ist die, wie der Priester sie am Altare betet. Auf der linken Spalte stehen die Gebete in lateinischer Sprache, aus der rechten in deutscher. Karl war als Schüler Meßdiener gewesen. So weiß er alle Antworten des Ministranten auswendig, und auch die Gebete des Priesters sind ihm geläufig, soweit sie laut

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/275>, abgerufen am 15.01.2025.