Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Max Dauthendey Von den Gedichtbänden ist der beste und reichste das "Lusamgärtlein". Dem neuesten, schön ausgestatteten Gedichtband Dauthendeys, der "Ge¬ Max Dauthendey Von den Gedichtbänden ist der beste und reichste das „Lusamgärtlein". Dem neuesten, schön ausgestatteten Gedichtband Dauthendeys, der „Ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0241" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322643"/> <fw type="header" place="top"> Max Dauthendey</fw><lb/> <p xml:id="ID_1125"> Von den Gedichtbänden ist der beste und reichste das „Lusamgärtlein".<lb/> Jünger, wenn man so sagen kann, auch nervöser sind die „Ewige Hochzeit"<lb/> und der „Brennende Kalender." Letzterer, eine Art lyrisches Tagebuch, zeigt<lb/> so recht, wie die Gedichte unter der Gewalt des Augenblicks entstehen und sich<lb/> zwanglos zu bunten Kränzen reihen. Im ganzen monotoner, wenn auch nicht<lb/> ohne herrliche Einzelstücke, sind die beiden Bünde „In sich versunkene Lieder<lb/> im Laub" und der „Weiße Schlaf". Teilweise ganz neue Töne bringt dann<lb/> „Weltspuk". Neben manchem, noch nicht ganz Geklärten, gibt es hier ein paar<lb/> Gedichte, die direkt aus bildender Volksphantasie, wie sie sich in alten Natur¬<lb/> mythen ausspricht, entsprungen zu sein scheinen. Wie Böcklin aus einer Stimmung<lb/> heraus die Gestalt des „Schweigens im Walde" schuf oder aus einem Geräusch<lb/> die „Meeresbrandung", jene Meerfei, die harfend in einer Felsenspalte steht,<lb/> so erzählt Dauthendey von dem gespenstischen Nebelschwein, das im nassen<lb/> Herbstwalde wühlt oder der Nebelkuh, die vorm Fenster brüllt oder von den<lb/> sieben Weltgespenstern. Und immer wieder bewundert man, wie diesem Dichter<lb/> alle Töne zu Gebote stehen, vom hellsten Liebesjubel bis zur dumpfesten<lb/> Verzweiflung und der lastenden Gedrücktheit, von der der „Weiße Schlaf"<lb/> voll ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1126" next="#ID_1127"> Dem neuesten, schön ausgestatteten Gedichtband Dauthendeys, der „Ge¬<lb/> flügelten Erde", steht man allerdings nicht ohne Verlegenheit gegenüber. Er ist voll<lb/> von großen Schönheiten, ich hebe nur Agra, die Kulibajadere, die shoe-bagon<lb/> Pagode, auf den Ceylonstraßen, Kanton hervor, aber das Ganze ist unerquicklich.<lb/> Der Dichter besingt hier eine Weltreise. Nun kann man das gewiß tun, wie<lb/> es auch Byron vor einem Jahrhundert mit seiner Europareise getan hat. Aber<lb/> diese Europareise, ich meine natürlich „Childe Harolds Pilgrimage", ist formal<lb/> mehr zusammengehalten, von einer einheitlichen Stimmung beherrscht und<lb/> behandelt nur Gegenstände, die im Allgemeinbewußtsein lebten und zu unserem<lb/> Gefühl in lebhafter Beziehung standen. Bei Dauthendey aber weiß man<lb/> nicht, besingt er nun eine Reise oder gibt er eine lose (dann aber viel<lb/> zu ausgedehnte) Reihe von Stimmungsgedichten über Naturschönheiten und<lb/> Sehenswürdigkeiten. Seine Gedichte, sagte ich, formen sich von innen heraus<lb/> aus sich selbst, das ergibt einen Strauß, aber ein Strauß ist kein Gemälde,<lb/> und eine Reihe von Gedichten kein Epos. Der Dichter scheint selbst das Be¬<lb/> dürfnis empfunden zu haben, eine Einheit zu schaffen und spricht daher bei<lb/> allen passenden, und wie wir leider gestehen müssen, auch unpassenden Gelegen¬<lb/> heiten von seiner Sehnsucht nach der daheim weilenden Geliebten. Aber dadurch<lb/> wird nichts besser, denn Sehnsucht nach der Geliebten und eine Weltreise sind<lb/> Dinge, die schlecht zueinander passen. Man wird mir die Odyssee vorhalten,<lb/> aber das ist eine Heimfahrt, die Heimfahrt eines heldenhaften Dulders. Dauthendey<lb/> ist kein Held, er unternimmt auch keine Heimfahrt, sondern nur eine Rundreise,<lb/> und eine dichterische Notwendigkeit, daß die beiden Liebenden sich trennten, ist<lb/> mit keinem Wort angedeutet. Und schließlich sind uns die meisten Gegenstände</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0241]
Max Dauthendey
Von den Gedichtbänden ist der beste und reichste das „Lusamgärtlein".
Jünger, wenn man so sagen kann, auch nervöser sind die „Ewige Hochzeit"
und der „Brennende Kalender." Letzterer, eine Art lyrisches Tagebuch, zeigt
so recht, wie die Gedichte unter der Gewalt des Augenblicks entstehen und sich
zwanglos zu bunten Kränzen reihen. Im ganzen monotoner, wenn auch nicht
ohne herrliche Einzelstücke, sind die beiden Bünde „In sich versunkene Lieder
im Laub" und der „Weiße Schlaf". Teilweise ganz neue Töne bringt dann
„Weltspuk". Neben manchem, noch nicht ganz Geklärten, gibt es hier ein paar
Gedichte, die direkt aus bildender Volksphantasie, wie sie sich in alten Natur¬
mythen ausspricht, entsprungen zu sein scheinen. Wie Böcklin aus einer Stimmung
heraus die Gestalt des „Schweigens im Walde" schuf oder aus einem Geräusch
die „Meeresbrandung", jene Meerfei, die harfend in einer Felsenspalte steht,
so erzählt Dauthendey von dem gespenstischen Nebelschwein, das im nassen
Herbstwalde wühlt oder der Nebelkuh, die vorm Fenster brüllt oder von den
sieben Weltgespenstern. Und immer wieder bewundert man, wie diesem Dichter
alle Töne zu Gebote stehen, vom hellsten Liebesjubel bis zur dumpfesten
Verzweiflung und der lastenden Gedrücktheit, von der der „Weiße Schlaf"
voll ist.
Dem neuesten, schön ausgestatteten Gedichtband Dauthendeys, der „Ge¬
flügelten Erde", steht man allerdings nicht ohne Verlegenheit gegenüber. Er ist voll
von großen Schönheiten, ich hebe nur Agra, die Kulibajadere, die shoe-bagon
Pagode, auf den Ceylonstraßen, Kanton hervor, aber das Ganze ist unerquicklich.
Der Dichter besingt hier eine Weltreise. Nun kann man das gewiß tun, wie
es auch Byron vor einem Jahrhundert mit seiner Europareise getan hat. Aber
diese Europareise, ich meine natürlich „Childe Harolds Pilgrimage", ist formal
mehr zusammengehalten, von einer einheitlichen Stimmung beherrscht und
behandelt nur Gegenstände, die im Allgemeinbewußtsein lebten und zu unserem
Gefühl in lebhafter Beziehung standen. Bei Dauthendey aber weiß man
nicht, besingt er nun eine Reise oder gibt er eine lose (dann aber viel
zu ausgedehnte) Reihe von Stimmungsgedichten über Naturschönheiten und
Sehenswürdigkeiten. Seine Gedichte, sagte ich, formen sich von innen heraus
aus sich selbst, das ergibt einen Strauß, aber ein Strauß ist kein Gemälde,
und eine Reihe von Gedichten kein Epos. Der Dichter scheint selbst das Be¬
dürfnis empfunden zu haben, eine Einheit zu schaffen und spricht daher bei
allen passenden, und wie wir leider gestehen müssen, auch unpassenden Gelegen¬
heiten von seiner Sehnsucht nach der daheim weilenden Geliebten. Aber dadurch
wird nichts besser, denn Sehnsucht nach der Geliebten und eine Weltreise sind
Dinge, die schlecht zueinander passen. Man wird mir die Odyssee vorhalten,
aber das ist eine Heimfahrt, die Heimfahrt eines heldenhaften Dulders. Dauthendey
ist kein Held, er unternimmt auch keine Heimfahrt, sondern nur eine Rundreise,
und eine dichterische Notwendigkeit, daß die beiden Liebenden sich trennten, ist
mit keinem Wort angedeutet. Und schließlich sind uns die meisten Gegenstände
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