Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Max Dauthendey als in der stets veränderten, von der Stimmung des Augenblicks bedingten Was nun die Form betrifft, so wird sie manchem zuerst kraus vorkommen, Grenzboten IV 1912 30
Max Dauthendey als in der stets veränderten, von der Stimmung des Augenblicks bedingten Was nun die Form betrifft, so wird sie manchem zuerst kraus vorkommen, Grenzboten IV 1912 30
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0240" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322642"/> <fw type="header" place="top"> Max Dauthendey</fw><lb/> <p xml:id="ID_1123" prev="#ID_1122"> als in der stets veränderten, von der Stimmung des Augenblicks bedingten<lb/> Art, den an sich nicht großen Kreis der Dinge anzuschauen. Die „Ewige<lb/> Hochzeit" enthält gleich fünf Gedichte hintereinander, die alle die Überschrift<lb/> „Deine Augen" tragen, doch könnte man noch mehreren aus demselben Buche<lb/> die gleiche geben. Mit diesem Reichtum der Anschauung hängt die Fülle und<lb/> Treffsicherheit seiner Vergleiche zusammen, von denen ich einige Beispiele geben<lb/> will. Bei einer Japanerin ist Gesellschaft und alles schwatzt durcheinander.<lb/> Da heißt es: „Das Zimmer war laut wie ein Baum, in dem eine Sperlings¬<lb/> schar plaudert", und später: „Die Schar von (indiskreten) Fragen baute sich<lb/> wie eine Dornenhecke um Hanale (die Heldin) auf." Oder eine alte Dame<lb/> sagt: „Wieviele Gedanken mögen an den Sternen hängen. Wieviele Tausende<lb/> von Seereisenden haben nachts mit offenen Augen hier unter den Sternen auf<lb/> wandernden Schiffen gesessen. Jeder Stern ist wie eine eingepuppte Seiden¬<lb/> raupe, von der man Gedanken wie Seidenfäden abspinnt." Oder in der Nähe<lb/> von Bombay: „Alles Leben atmet breit, wenn nicht ein Geierschrei aufgellt<lb/> und wie ein Beil aus blauem Himmel fällt." Aber das Erstaunlichste ist, wie<lb/> diese Vergleiche überall an ihrem Platze sind, sie sind nicht erdacht, sondern<lb/> wachsen aus der Situation heraus, wie sie anderseits wieder helfen, die Situation<lb/> anschaulich zu machen. So gehört es zu dem ersten der angeführten Beispiele<lb/> notwendig hinzu, daß es japanische Laute sind, von einer europäischen Unter¬<lb/> haltung würde man schwerlich so sprechen können; beim zweiten Beispiel müssen<lb/> es gerade indiskrete Fragen sein, und wer je unter dem flutartigen Eindringen<lb/> solcher zu leiden hatte, wird den Vergleich sofort nachempfinden. Und eben<lb/> weil diese Vergleiche, die bei Dauthendev niemals rhetorische Formeln oder<lb/> bloßer Schmuck sind, stets aus der frischesten Anschauung entspringen und<lb/> organisch notwendig an ihrer Stelle stehen, unterlasse ich es auch, Bruchstücke<lb/> aus den Gedichten herzusetzen, ihre Berechtigung läßt sich nur im Zusammen¬<lb/> hang des ganzen Gedichts nachfühlen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1124"> Was nun die Form betrifft, so wird sie manchem zuerst kraus vorkommen,<lb/> und wer z. B. von Geibel kommt, wird überhaupt das Vorhandensein von<lb/> Form leugnen, ja die einzelnen Verse holprig finden. Da sind „Regellosig¬<lb/> keiten" aller Art, lose werden die Verse verbunden, manche sehen wie ver¬<lb/> wischte Terzinen aus, dann wieder paarweise Reime und dazwischen reimlose<lb/> Zeilen. „Kommt aber nur einmal herein, begrüßt die heilige Kapelle." Da<lb/> merkt man denn bald, wie die Form dieser Gedichte gleichsam von innen<lb/> heraus entsteht, und daß hier viel strenger geformt ist als z. B. in Mörikes<lb/> »Im Frühling" oder in ähnlichen Rhapsodien des großen Schwaben. Wie<lb/> da alles Klingende gebunden ist durch Binnenreim und Assonanzen und durch<lb/> Alliterationen fortgeleitet wird und sich rundet scheinbar zwanglos und doch<lb/> ohne Wahl! Nicht eigentlich aus der Tradition erwachsender Formwille des<lb/> Dichters ist hier tätig, sondern die Stimmung des Gedichtes bildet sich organisch<lb/> aus zu immer differenzierter, ihm allein angemessener Form.</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1912 30</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0240]
Max Dauthendey
als in der stets veränderten, von der Stimmung des Augenblicks bedingten
Art, den an sich nicht großen Kreis der Dinge anzuschauen. Die „Ewige
Hochzeit" enthält gleich fünf Gedichte hintereinander, die alle die Überschrift
„Deine Augen" tragen, doch könnte man noch mehreren aus demselben Buche
die gleiche geben. Mit diesem Reichtum der Anschauung hängt die Fülle und
Treffsicherheit seiner Vergleiche zusammen, von denen ich einige Beispiele geben
will. Bei einer Japanerin ist Gesellschaft und alles schwatzt durcheinander.
Da heißt es: „Das Zimmer war laut wie ein Baum, in dem eine Sperlings¬
schar plaudert", und später: „Die Schar von (indiskreten) Fragen baute sich
wie eine Dornenhecke um Hanale (die Heldin) auf." Oder eine alte Dame
sagt: „Wieviele Gedanken mögen an den Sternen hängen. Wieviele Tausende
von Seereisenden haben nachts mit offenen Augen hier unter den Sternen auf
wandernden Schiffen gesessen. Jeder Stern ist wie eine eingepuppte Seiden¬
raupe, von der man Gedanken wie Seidenfäden abspinnt." Oder in der Nähe
von Bombay: „Alles Leben atmet breit, wenn nicht ein Geierschrei aufgellt
und wie ein Beil aus blauem Himmel fällt." Aber das Erstaunlichste ist, wie
diese Vergleiche überall an ihrem Platze sind, sie sind nicht erdacht, sondern
wachsen aus der Situation heraus, wie sie anderseits wieder helfen, die Situation
anschaulich zu machen. So gehört es zu dem ersten der angeführten Beispiele
notwendig hinzu, daß es japanische Laute sind, von einer europäischen Unter¬
haltung würde man schwerlich so sprechen können; beim zweiten Beispiel müssen
es gerade indiskrete Fragen sein, und wer je unter dem flutartigen Eindringen
solcher zu leiden hatte, wird den Vergleich sofort nachempfinden. Und eben
weil diese Vergleiche, die bei Dauthendev niemals rhetorische Formeln oder
bloßer Schmuck sind, stets aus der frischesten Anschauung entspringen und
organisch notwendig an ihrer Stelle stehen, unterlasse ich es auch, Bruchstücke
aus den Gedichten herzusetzen, ihre Berechtigung läßt sich nur im Zusammen¬
hang des ganzen Gedichts nachfühlen.
Was nun die Form betrifft, so wird sie manchem zuerst kraus vorkommen,
und wer z. B. von Geibel kommt, wird überhaupt das Vorhandensein von
Form leugnen, ja die einzelnen Verse holprig finden. Da sind „Regellosig¬
keiten" aller Art, lose werden die Verse verbunden, manche sehen wie ver¬
wischte Terzinen aus, dann wieder paarweise Reime und dazwischen reimlose
Zeilen. „Kommt aber nur einmal herein, begrüßt die heilige Kapelle." Da
merkt man denn bald, wie die Form dieser Gedichte gleichsam von innen
heraus entsteht, und daß hier viel strenger geformt ist als z. B. in Mörikes
»Im Frühling" oder in ähnlichen Rhapsodien des großen Schwaben. Wie
da alles Klingende gebunden ist durch Binnenreim und Assonanzen und durch
Alliterationen fortgeleitet wird und sich rundet scheinbar zwanglos und doch
ohne Wahl! Nicht eigentlich aus der Tradition erwachsender Formwille des
Dichters ist hier tätig, sondern die Stimmung des Gedichtes bildet sich organisch
aus zu immer differenzierter, ihm allein angemessener Form.
Grenzboten IV 1912 30
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