Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Katholizismus und Anltur das Evangelium dem Menschen sein höchstes Kulturideal vor Augen. Kant, Nur darf man nicht, wie die frommen Enthusiasten und die Apologeten Katholizismus und Anltur das Evangelium dem Menschen sein höchstes Kulturideal vor Augen. Kant, Nur darf man nicht, wie die frommen Enthusiasten und die Apologeten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0223" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322625"/> <fw type="header" place="top"> Katholizismus und Anltur</fw><lb/> <p xml:id="ID_1014" prev="#ID_1013"> das Evangelium dem Menschen sein höchstes Kulturideal vor Augen. Kant,<lb/> Fichte und Schiller haben es unter dem Namen des Vernunststaates erneuert,<lb/> und die Utopien unserer Sozialisten und Soziologen sind Kopien davon, die<lb/> sich vom kirchlichen Ideal durch zweierlei unterscheiden. Sie sollen im Diesseits<lb/> ohne Rest verwirklicht werden, während die Kirche, die Menschennatur richtiger<lb/> beurteilend, nur die Vorbereitung im Diesseits fordert, die Vollendung ins<lb/> Jenseits verlegt, und nach sozialistischer Ansicht soll die dem Ideal entsprechende<lb/> edle Gesinnung durch Umgestaltung des Gesellschaftszustandes bewirkt werden,<lb/> während das Christentum die äußeren Zustände durch Besserung der Herzen<lb/> umwandeln will. Eine ganz besondere Bedeutung gewinnt der christliche Glaube<lb/> gegenüber dem naturphilosophischen Materialismus und Atheismus, der heute<lb/> gepredigt wird. Der blinde, sinnlose, unerbittliche Kausalitätsmechanismus statt<lb/> des allgütigen fürsorgenden Gottes, mit dem leeren Nichts vor und dem leeren<lb/> Nichts hinter ihm, kann bei anhaltend Nachdenkenden nichts anderes als Ver¬<lb/> zweiflung erzeugen, und wenn unter den Anhängern des neuen Glaubens nicht<lb/> eine Selbstmordmanie einreißt, so ist das nur den beiden Umständen zu danken,<lb/> daß die meisten Menschen oberflächlich und gedankenlos sind, von den Tieferen<lb/> aber die optimistisch Angelegten durch schöne äußere Erfolge bei guter Laune<lb/> erhalten werden. (Eine treffende Schilderung des Gemütszustandes des modernen<lb/> Menschen, dem sich das gräßliche Bild der entgötterten Welt enthüllt hat, finde<lb/> ich eben an einem Orte, wo sie niemand leicht suchen wird: Deutsche Maler<lb/> und Zeichner im neunzehnten Jahrhundert von Karl Scheffler S. 143<lb/> Insel-Verlag.) Durch welche besondere Leistungen die alte Kirche sich<lb/> außerdem verdient gemacht hat. ist so bekannt, daß kaum daran erinnert<lb/> zu werden braucht. Es war nur Sorge sür rationelle Förderung des<lb/> Seelenheils seiner Mönche, was Benedikt von Nursia zu der Vorschrift<lb/> bestimmte, daß sie alle Lebensbedürfnisse durch eigene körperliche Arbeit beschaffen<lb/> und namentlich auch Bücher abschreiben sollten. Aber hierdurch sind sie die<lb/> Retter der antiken Kultur für die europäischen Völker, die Erzieher der kriegs-<lb/> und jagdlustigen Germanen zur landwirtschaftlichen und gewerblichen Arbeit<lb/> geworden. Ihre Schulen haben ein grundsätzlich bücherfeindliches Volk von<lb/> Analphabeten ans Bücherwesen gewöhnt, im methodischen Denken geübt, seinen<lb/> Sinn für Metaphysik und hierdurch auch für Physik erschlossen (keine exakte<lb/> Wissenschaft ohne Mathematik, also ohne Abstraktion!) und so die um 1500<lb/> beginnende moderne Wissenschaft vorbereitet. Durch ihren symbolischen Gottes¬<lb/> dienst und den biblischen und legendären Stoff, den sie den Künstlern lieferte,<lb/> wurde die Kirche Pflegerin der bildenden Künste, und mit ihrer hierarchischen<lb/> Verfassung, mit ihrer geordneten Vermögensverwaltung, wurde sie die Lehrerin<lb/> der Politik und Staatsverwaltung und hat in barbarischen Zeiten den Staat<lb/> ersetzt, wo und so oft er fehlte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1015" next="#ID_1016"> Nur darf man nicht, wie die frommen Enthusiasten und die Apologeten<lb/> tun, alle Kulturschöpfungen der christlichen Ära dem Christentum oder gar der</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0223]
Katholizismus und Anltur
das Evangelium dem Menschen sein höchstes Kulturideal vor Augen. Kant,
Fichte und Schiller haben es unter dem Namen des Vernunststaates erneuert,
und die Utopien unserer Sozialisten und Soziologen sind Kopien davon, die
sich vom kirchlichen Ideal durch zweierlei unterscheiden. Sie sollen im Diesseits
ohne Rest verwirklicht werden, während die Kirche, die Menschennatur richtiger
beurteilend, nur die Vorbereitung im Diesseits fordert, die Vollendung ins
Jenseits verlegt, und nach sozialistischer Ansicht soll die dem Ideal entsprechende
edle Gesinnung durch Umgestaltung des Gesellschaftszustandes bewirkt werden,
während das Christentum die äußeren Zustände durch Besserung der Herzen
umwandeln will. Eine ganz besondere Bedeutung gewinnt der christliche Glaube
gegenüber dem naturphilosophischen Materialismus und Atheismus, der heute
gepredigt wird. Der blinde, sinnlose, unerbittliche Kausalitätsmechanismus statt
des allgütigen fürsorgenden Gottes, mit dem leeren Nichts vor und dem leeren
Nichts hinter ihm, kann bei anhaltend Nachdenkenden nichts anderes als Ver¬
zweiflung erzeugen, und wenn unter den Anhängern des neuen Glaubens nicht
eine Selbstmordmanie einreißt, so ist das nur den beiden Umständen zu danken,
daß die meisten Menschen oberflächlich und gedankenlos sind, von den Tieferen
aber die optimistisch Angelegten durch schöne äußere Erfolge bei guter Laune
erhalten werden. (Eine treffende Schilderung des Gemütszustandes des modernen
Menschen, dem sich das gräßliche Bild der entgötterten Welt enthüllt hat, finde
ich eben an einem Orte, wo sie niemand leicht suchen wird: Deutsche Maler
und Zeichner im neunzehnten Jahrhundert von Karl Scheffler S. 143
Insel-Verlag.) Durch welche besondere Leistungen die alte Kirche sich
außerdem verdient gemacht hat. ist so bekannt, daß kaum daran erinnert
zu werden braucht. Es war nur Sorge sür rationelle Förderung des
Seelenheils seiner Mönche, was Benedikt von Nursia zu der Vorschrift
bestimmte, daß sie alle Lebensbedürfnisse durch eigene körperliche Arbeit beschaffen
und namentlich auch Bücher abschreiben sollten. Aber hierdurch sind sie die
Retter der antiken Kultur für die europäischen Völker, die Erzieher der kriegs-
und jagdlustigen Germanen zur landwirtschaftlichen und gewerblichen Arbeit
geworden. Ihre Schulen haben ein grundsätzlich bücherfeindliches Volk von
Analphabeten ans Bücherwesen gewöhnt, im methodischen Denken geübt, seinen
Sinn für Metaphysik und hierdurch auch für Physik erschlossen (keine exakte
Wissenschaft ohne Mathematik, also ohne Abstraktion!) und so die um 1500
beginnende moderne Wissenschaft vorbereitet. Durch ihren symbolischen Gottes¬
dienst und den biblischen und legendären Stoff, den sie den Künstlern lieferte,
wurde die Kirche Pflegerin der bildenden Künste, und mit ihrer hierarchischen
Verfassung, mit ihrer geordneten Vermögensverwaltung, wurde sie die Lehrerin
der Politik und Staatsverwaltung und hat in barbarischen Zeiten den Staat
ersetzt, wo und so oft er fehlte.
Nur darf man nicht, wie die frommen Enthusiasten und die Apologeten
tun, alle Kulturschöpfungen der christlichen Ära dem Christentum oder gar der
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