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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

dieser Heftigkeit seit Jahr und Tag nicht zu beobachten war. Das Bedenklichste
an dieser Panik war, daß sie sich Nicht auf unsere Börsen beschränkte; umgekehrt
ging die neue Erschütterung vielmehr von den ausländischen Börsen aus.
Wien, Paris, Petersburg befanden sich in einem Zustande, der der Auflösung
nahekam. An diesen Börsen hatte die Überspekulation viel weitere Kreise
gezogen als bei uns; in Paris waren die russischen Jndustriewerte, in Wien
die österreichischen derart in die Höhe getrieben, daß sie in vielen Fällen nur
noch eine Rente von 2 Prozent gewährten. Dazu kam das starke Interesse,
welches der französische Markt an Balkanwerten, namentlich an den türkischen,
serbischen und griechischen Anleihen besitzt. So war denn die Erschütterung in
Wien und Paris noch viel heftiger als in Berlin. Die genannten schweren
Jndustriewerte wie Sosnowice, Briansk, Maltzoff, Tula stürzten um mehrere
hundert Franken, 4prozentige Russen verloren 9 Prozent, Serben nicht weniger
als 21 Prozent.

Dieser bedrohliche Zustand der Börsen ließ nunmehr ein Eingreifen
erforderlich erscheinen. Die Berliner Banken vereinigten sich zu einem Jnter-
ventionskonsortium; allenthalben nehmen die Regierungen der Großmächte
Gelegenheit, durch beruhigende Erklärungen der Kriegsfurcht entgegenzuwirken
und zu betonen, daß zufolge freundschaftlicher Vereinbarung der ausbrechende
Balkankrieg lokalisiert bleiben würde. Diese Maßnahmen verfehlten ihre
Wirkung nicht. Insbesondere die außerordentlich zuversichtlichen Erklärungen
des deutschen Staatssekretärs bei dem Festmahl der Ältesten der Kaufmannschaft
in Berlin verjagten den letzten Nest der Besorgnis, daß die unmittelbare Folge
der Balkanwirren ein europäischer Krieg sein werde. Als dann noch der
Friedensschluß zwischen Italien und der Türkei endlich zur Tatsache geworden
war, hatte man allenthalben den Ereignissen gegenüber soviel Fassung gewonnen,
daß auch die Eröffnung der Feindseligkeiten auf dem Balkan und die formellen
Kriegserklärungen mit Gleichmut hingenommen wurden. Ja, der Umschwung
der Meinung war so vollständig, daß umfangreiche Rückkäufe eine stürmische
Erholung der Kurse zur Folge hatten--eine Übertreibung, die, wie der weitere
Verlauf der Dinge schon gezeigt hat, nicht zu rechtfertigen ist und sich von selbst
korrigieren muß. Immerhin darf man der Ansicht sein, daß die Spelulations-
krisis, welche sich an die plötzliche Aufrollung des Balkanproblems anschloß,
zunächst überwunden ist. Augenblicklich sind weitere Komplikationen unter den
Großmächten nicht zu fürchten; mit dieser Gewißheit ist Raum für eine nüchterne
Abschätzung der Sachlage und sür eine objektive Beurteilung der Zukunft gegeben.
Zunächst aber ist es wichtig, die Folgerungen aus den Ereignissen der jüngsten
Zeit zu ziehen und deren Lehren zu beherzigen.

So gefährlich die Situation der Börse an den kritischen Tagen sich dar¬
stellte, so ist doch mit Befriedigung zu konstatieren, daß die Widerstandskraft
des Marktes und der Spekulation eine bemerkenswert große gewesen ist. Trotz
der enormen Kursverluste ist keine irgendwie belangreiche Insolvenz vorgekommen.


Reichsspiegel

dieser Heftigkeit seit Jahr und Tag nicht zu beobachten war. Das Bedenklichste
an dieser Panik war, daß sie sich Nicht auf unsere Börsen beschränkte; umgekehrt
ging die neue Erschütterung vielmehr von den ausländischen Börsen aus.
Wien, Paris, Petersburg befanden sich in einem Zustande, der der Auflösung
nahekam. An diesen Börsen hatte die Überspekulation viel weitere Kreise
gezogen als bei uns; in Paris waren die russischen Jndustriewerte, in Wien
die österreichischen derart in die Höhe getrieben, daß sie in vielen Fällen nur
noch eine Rente von 2 Prozent gewährten. Dazu kam das starke Interesse,
welches der französische Markt an Balkanwerten, namentlich an den türkischen,
serbischen und griechischen Anleihen besitzt. So war denn die Erschütterung in
Wien und Paris noch viel heftiger als in Berlin. Die genannten schweren
Jndustriewerte wie Sosnowice, Briansk, Maltzoff, Tula stürzten um mehrere
hundert Franken, 4prozentige Russen verloren 9 Prozent, Serben nicht weniger
als 21 Prozent.

Dieser bedrohliche Zustand der Börsen ließ nunmehr ein Eingreifen
erforderlich erscheinen. Die Berliner Banken vereinigten sich zu einem Jnter-
ventionskonsortium; allenthalben nehmen die Regierungen der Großmächte
Gelegenheit, durch beruhigende Erklärungen der Kriegsfurcht entgegenzuwirken
und zu betonen, daß zufolge freundschaftlicher Vereinbarung der ausbrechende
Balkankrieg lokalisiert bleiben würde. Diese Maßnahmen verfehlten ihre
Wirkung nicht. Insbesondere die außerordentlich zuversichtlichen Erklärungen
des deutschen Staatssekretärs bei dem Festmahl der Ältesten der Kaufmannschaft
in Berlin verjagten den letzten Nest der Besorgnis, daß die unmittelbare Folge
der Balkanwirren ein europäischer Krieg sein werde. Als dann noch der
Friedensschluß zwischen Italien und der Türkei endlich zur Tatsache geworden
war, hatte man allenthalben den Ereignissen gegenüber soviel Fassung gewonnen,
daß auch die Eröffnung der Feindseligkeiten auf dem Balkan und die formellen
Kriegserklärungen mit Gleichmut hingenommen wurden. Ja, der Umschwung
der Meinung war so vollständig, daß umfangreiche Rückkäufe eine stürmische
Erholung der Kurse zur Folge hatten—eine Übertreibung, die, wie der weitere
Verlauf der Dinge schon gezeigt hat, nicht zu rechtfertigen ist und sich von selbst
korrigieren muß. Immerhin darf man der Ansicht sein, daß die Spelulations-
krisis, welche sich an die plötzliche Aufrollung des Balkanproblems anschloß,
zunächst überwunden ist. Augenblicklich sind weitere Komplikationen unter den
Großmächten nicht zu fürchten; mit dieser Gewißheit ist Raum für eine nüchterne
Abschätzung der Sachlage und sür eine objektive Beurteilung der Zukunft gegeben.
Zunächst aber ist es wichtig, die Folgerungen aus den Ereignissen der jüngsten
Zeit zu ziehen und deren Lehren zu beherzigen.

So gefährlich die Situation der Börse an den kritischen Tagen sich dar¬
stellte, so ist doch mit Befriedigung zu konstatieren, daß die Widerstandskraft
des Marktes und der Spekulation eine bemerkenswert große gewesen ist. Trotz
der enormen Kursverluste ist keine irgendwie belangreiche Insolvenz vorgekommen.


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[0203] Reichsspiegel dieser Heftigkeit seit Jahr und Tag nicht zu beobachten war. Das Bedenklichste an dieser Panik war, daß sie sich Nicht auf unsere Börsen beschränkte; umgekehrt ging die neue Erschütterung vielmehr von den ausländischen Börsen aus. Wien, Paris, Petersburg befanden sich in einem Zustande, der der Auflösung nahekam. An diesen Börsen hatte die Überspekulation viel weitere Kreise gezogen als bei uns; in Paris waren die russischen Jndustriewerte, in Wien die österreichischen derart in die Höhe getrieben, daß sie in vielen Fällen nur noch eine Rente von 2 Prozent gewährten. Dazu kam das starke Interesse, welches der französische Markt an Balkanwerten, namentlich an den türkischen, serbischen und griechischen Anleihen besitzt. So war denn die Erschütterung in Wien und Paris noch viel heftiger als in Berlin. Die genannten schweren Jndustriewerte wie Sosnowice, Briansk, Maltzoff, Tula stürzten um mehrere hundert Franken, 4prozentige Russen verloren 9 Prozent, Serben nicht weniger als 21 Prozent. Dieser bedrohliche Zustand der Börsen ließ nunmehr ein Eingreifen erforderlich erscheinen. Die Berliner Banken vereinigten sich zu einem Jnter- ventionskonsortium; allenthalben nehmen die Regierungen der Großmächte Gelegenheit, durch beruhigende Erklärungen der Kriegsfurcht entgegenzuwirken und zu betonen, daß zufolge freundschaftlicher Vereinbarung der ausbrechende Balkankrieg lokalisiert bleiben würde. Diese Maßnahmen verfehlten ihre Wirkung nicht. Insbesondere die außerordentlich zuversichtlichen Erklärungen des deutschen Staatssekretärs bei dem Festmahl der Ältesten der Kaufmannschaft in Berlin verjagten den letzten Nest der Besorgnis, daß die unmittelbare Folge der Balkanwirren ein europäischer Krieg sein werde. Als dann noch der Friedensschluß zwischen Italien und der Türkei endlich zur Tatsache geworden war, hatte man allenthalben den Ereignissen gegenüber soviel Fassung gewonnen, daß auch die Eröffnung der Feindseligkeiten auf dem Balkan und die formellen Kriegserklärungen mit Gleichmut hingenommen wurden. Ja, der Umschwung der Meinung war so vollständig, daß umfangreiche Rückkäufe eine stürmische Erholung der Kurse zur Folge hatten—eine Übertreibung, die, wie der weitere Verlauf der Dinge schon gezeigt hat, nicht zu rechtfertigen ist und sich von selbst korrigieren muß. Immerhin darf man der Ansicht sein, daß die Spelulations- krisis, welche sich an die plötzliche Aufrollung des Balkanproblems anschloß, zunächst überwunden ist. Augenblicklich sind weitere Komplikationen unter den Großmächten nicht zu fürchten; mit dieser Gewißheit ist Raum für eine nüchterne Abschätzung der Sachlage und sür eine objektive Beurteilung der Zukunft gegeben. Zunächst aber ist es wichtig, die Folgerungen aus den Ereignissen der jüngsten Zeit zu ziehen und deren Lehren zu beherzigen. So gefährlich die Situation der Börse an den kritischen Tagen sich dar¬ stellte, so ist doch mit Befriedigung zu konstatieren, daß die Widerstandskraft des Marktes und der Spekulation eine bemerkenswert große gewesen ist. Trotz der enormen Kursverluste ist keine irgendwie belangreiche Insolvenz vorgekommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/203>, abgerufen am 15.01.2025.