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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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"V/e ohne iäesls!"

wie für das amerikanische Geistesleben insbesondere hochbedeutsamen Sammlung
möchten wir unseren Lesern -- und unseren Gegnern -- eine Blütenlese von
Gedanken vorsetzen; nur die Theologen übergehen wir, weil die Notwendigkeit ihrer
klassischen Vorbildung bei uns nur erst ganz vereinzelt bezweifelt worden ist.

Wir beginnen mit klassischen Philologen und Philosophen, deren Stellung
zu der Frage am begreiflichsten ist. Die große Masse in Amerika ist ver¬
materialisiert, aber unter den Denkenden macht sich eine Reaktion zugunsten des
Humanismus geltend: sie sehen mit Besorgnis die Scheu der Studierenden, die
angeblich schwierigen oder nutzlosen alten Sprachen für ihre Allgemeinbildung zu
treiben. Wer darüber klagt, daß er später lateinische und griechische Texte nicht
mehr lesen könne, vergißt, daß er auch viel anderes Schulwissen mit der Zeit
eingebüßt hat. Zu erziehlichen Zwecken sind aber die Originale der Über¬
setzungen vorzuziehen. Unzweifelhaft insonderheit ist der Wert der klassischen
Sprachen, wenn es sich um Interpretation fremder Gedanken handelt. Gelehr¬
samkeit, Wissen, Originalität, Beredsamkeit, Genie können auch ohne klassische
Bildung bestehen; kritischer Sinn und richtiges Gefühl für die Relativität der
Wortbedeutung selten oder nie. Nichtberufliche Erziehung ist zu allen Zeiten
literarisch und sprachlich gewesen, beruhend auf einer klassischen Literatur. Die
Griechen bilden nur eine scheinbare Ausnahme: sie studierten Homer und ihre
älteren Klassiker, um ihren Geist zu bilden, nicht um sich zu unterrichten. Die
antiken Klassiker müssen einen Platz in der höheren Erziehung behaupten, der
ihrer Bedeutung für unsere gesamte Kultur entspricht: man kann sie nicht auf
das Niveau einer gelehrten Spezialität hinabdrücken, ohne unfere Bildung zu
entmannen und unsere Kultur ärmer zu machen. Angriffe gegen sie entspringen
der Auflehnung gegen Disziplin und schwierigere Arbeit, dem Verlangen nach
schnellen Nützlichkeitsergebnissen und dem Aufgehen im Kulte des Modernen.
Solche Bundesgenossen sind auch für die Naturwissenschaftler gefährlich, und
auch für die Neusprachler: für den "praktischen" Menschen sind Corneille und
Lessing ebenso tot wie Homer und Aristoteles. Die klassischen Studien sind das
unentbehrliche Fundament für jegliche historische und literarische Gelehrsamkeit
an der Universität, der Schlüssel für die letzten vierhundert Jahre unserer Kultur.
Ein gewisser Prozentsatz der Gebildeten wenigstens muß sie getrieben haben.
Wenn, der zehnjährige Unterricht mäßige Erfolge hat, so liegt das am Unter¬
richt, nicht an den klassischen Sprachen (Shorev, Univ. Chicago). Man sollte
nicht zuerst an den künftigen Beruf denken, sondern vor allem daran, den
Menschen zu bilden; des Menschen Erziehung ist des Menschen Gericht. Dazu
aber sind die klassischen Studien die beste Vorbereitung: es scheint unvermeidlich,
daß wir, wenn wir erst zu einer gesunden Auffassung der Erziehungsfragen
zurückgekehrt sind, ein Wiederaufleben der klassischen Studien als eine wesentliche
Begleiterscheinung dieser Rückkehr erleben werden. Freilich sollten Nicht¬
Philologen unter geringerer Betonung alles Formalistischen in sie eingeführt
werden (Wenley, Univ. Ann-Arbor).


„V/e ohne iäesls!"

wie für das amerikanische Geistesleben insbesondere hochbedeutsamen Sammlung
möchten wir unseren Lesern — und unseren Gegnern — eine Blütenlese von
Gedanken vorsetzen; nur die Theologen übergehen wir, weil die Notwendigkeit ihrer
klassischen Vorbildung bei uns nur erst ganz vereinzelt bezweifelt worden ist.

Wir beginnen mit klassischen Philologen und Philosophen, deren Stellung
zu der Frage am begreiflichsten ist. Die große Masse in Amerika ist ver¬
materialisiert, aber unter den Denkenden macht sich eine Reaktion zugunsten des
Humanismus geltend: sie sehen mit Besorgnis die Scheu der Studierenden, die
angeblich schwierigen oder nutzlosen alten Sprachen für ihre Allgemeinbildung zu
treiben. Wer darüber klagt, daß er später lateinische und griechische Texte nicht
mehr lesen könne, vergißt, daß er auch viel anderes Schulwissen mit der Zeit
eingebüßt hat. Zu erziehlichen Zwecken sind aber die Originale der Über¬
setzungen vorzuziehen. Unzweifelhaft insonderheit ist der Wert der klassischen
Sprachen, wenn es sich um Interpretation fremder Gedanken handelt. Gelehr¬
samkeit, Wissen, Originalität, Beredsamkeit, Genie können auch ohne klassische
Bildung bestehen; kritischer Sinn und richtiges Gefühl für die Relativität der
Wortbedeutung selten oder nie. Nichtberufliche Erziehung ist zu allen Zeiten
literarisch und sprachlich gewesen, beruhend auf einer klassischen Literatur. Die
Griechen bilden nur eine scheinbare Ausnahme: sie studierten Homer und ihre
älteren Klassiker, um ihren Geist zu bilden, nicht um sich zu unterrichten. Die
antiken Klassiker müssen einen Platz in der höheren Erziehung behaupten, der
ihrer Bedeutung für unsere gesamte Kultur entspricht: man kann sie nicht auf
das Niveau einer gelehrten Spezialität hinabdrücken, ohne unfere Bildung zu
entmannen und unsere Kultur ärmer zu machen. Angriffe gegen sie entspringen
der Auflehnung gegen Disziplin und schwierigere Arbeit, dem Verlangen nach
schnellen Nützlichkeitsergebnissen und dem Aufgehen im Kulte des Modernen.
Solche Bundesgenossen sind auch für die Naturwissenschaftler gefährlich, und
auch für die Neusprachler: für den „praktischen" Menschen sind Corneille und
Lessing ebenso tot wie Homer und Aristoteles. Die klassischen Studien sind das
unentbehrliche Fundament für jegliche historische und literarische Gelehrsamkeit
an der Universität, der Schlüssel für die letzten vierhundert Jahre unserer Kultur.
Ein gewisser Prozentsatz der Gebildeten wenigstens muß sie getrieben haben.
Wenn, der zehnjährige Unterricht mäßige Erfolge hat, so liegt das am Unter¬
richt, nicht an den klassischen Sprachen (Shorev, Univ. Chicago). Man sollte
nicht zuerst an den künftigen Beruf denken, sondern vor allem daran, den
Menschen zu bilden; des Menschen Erziehung ist des Menschen Gericht. Dazu
aber sind die klassischen Studien die beste Vorbereitung: es scheint unvermeidlich,
daß wir, wenn wir erst zu einer gesunden Auffassung der Erziehungsfragen
zurückgekehrt sind, ein Wiederaufleben der klassischen Studien als eine wesentliche
Begleiterscheinung dieser Rückkehr erleben werden. Freilich sollten Nicht¬
Philologen unter geringerer Betonung alles Formalistischen in sie eingeführt
werden (Wenley, Univ. Ann-Arbor).


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/172>, abgerufen am 15.01.2025.