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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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hundertsiebzig alte "Gelehrtenschulen" vierhundertfünfzig Anstalten realistischen
Charakters gegenüber. Dies Verhältnis befriedigt aber die Verfechter eines
neuen Bildungsideals, mit dem sie nach homöopathischen Rezept die Schäden
der Zeit kurieren zu können hoffen, so wenig, daß der Kampf um das Monopol
des Gymnasiums jetzt zu einem Kampf um seine Existenz geworden ist. In
diesem Kampfe sind uns "Bremsern" unter anderem auch außerhalb unseres
Vaterlandes wertvolle Bundesgenossen erstanden. Nicht nur, daß jede durch
Majoritätsbeschlüsse herbeigeführte politische, soziale, wirtschaftliche Maßregel
allerorten ihre überzeugten Gegner behält, es sind, trotzdem die Wirkungen
einer anderen Orientierung in Erziehungsfragen sich nicht sofort und allgemein
bemerkbar machen und festgestellt werden können, in einigen der den klassischen
Studien untreu gewordenen Ländern früher als zu denken war so unerwartete
und nachdrückliche Proteste gegen die neue Schule und Rufe nach der auf¬
gegebenen alten erhoben worden, daß sie nicht bloßem Widerspruchsgeist und
kultureller Rückständigkeit entstammen können. Ausgehend von der Verwilderung
des französischen Stils, der Verflachung der allgemeinen Bildung und dem zu¬
nehmenden Mangel an Klarheit und Schärfe des Denkens und Ausdrucks haben
in den letzten Jahren nicht nur französische Schriftsteller, Gelehrte und Studenten,
fondern auch Großindustrielle nicht aufgehört, auf eine Revision der Lehr¬
pläne von 1902 zugunsten eines kräftigeren Betriebs der klassischen Sprachen
zu dringen, und bezeichnend ist, daß soeben in der Educational Review eine
Stimme aus England, wo man neuerdings gegen die die Kenntnis des Lateinischen
und Griechischen fordernden Ausnahmebedingungen der Universitäten Oxford und
Cambridge Sturm läuft, warnend auf den "Schiffbruch, den Frankreich bei dem
Experiment der praktischen Erziehung erlitten habe", hinweist: "seine Jugend
in Arkadien verbracht zu haben," lesen wir da, "ist die beste Vorbereitung selbst
für einen künftigen Hüttenbesitzer."

Eine auf den ersten Blick viel auffallendere Bewegung für eine intensivere
und ausgedehntere Berücksichtigung des Humanismus als Bildungsfaktors hat
aber seit einigen Jahren in Amerika eingesetzt, also gerade dem Lande, das
den alten Kulturvölkern den Namen für eine materialistische Lebensauffassung
hergeliehen hat, einem Lande ohne solche jahrtausendalte Tradition, wie sie
nach Meinung unserer pädagogischen Amokläufer bei uns träge, zähe und vor¬
urteilsvolle Feinde jeglichen Fortschritts erzieht.

Seit 1906 hat die Universität Ann-Arbor, Michigan, alljährlich sogenannte
Symposien, d. h. Diskussionen, über den Wert des Humanismus, insbesondere
des Studiums der klassischen Sprachen für die verschiedenen Berufe veranstaltet:
Mediziner, Ingenieure, Juristen, Theologen, Kaufleute, Professoren der philo¬
sophischen Fakultät sind der Reihe nach zu Worte gekommen. Eine Gesamt¬
publikation dieser Symposien, vermehrt uni Meinungsäußerungen anderer her¬
vorragender Männer des öffentlichen Lebens, hat 1911 ihr Organisator W. Kelsey
in New Aork erscheinen lassen: aus dieser in pädagogischer Hinsicht überhaupt


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hundertsiebzig alte „Gelehrtenschulen" vierhundertfünfzig Anstalten realistischen
Charakters gegenüber. Dies Verhältnis befriedigt aber die Verfechter eines
neuen Bildungsideals, mit dem sie nach homöopathischen Rezept die Schäden
der Zeit kurieren zu können hoffen, so wenig, daß der Kampf um das Monopol
des Gymnasiums jetzt zu einem Kampf um seine Existenz geworden ist. In
diesem Kampfe sind uns „Bremsern" unter anderem auch außerhalb unseres
Vaterlandes wertvolle Bundesgenossen erstanden. Nicht nur, daß jede durch
Majoritätsbeschlüsse herbeigeführte politische, soziale, wirtschaftliche Maßregel
allerorten ihre überzeugten Gegner behält, es sind, trotzdem die Wirkungen
einer anderen Orientierung in Erziehungsfragen sich nicht sofort und allgemein
bemerkbar machen und festgestellt werden können, in einigen der den klassischen
Studien untreu gewordenen Ländern früher als zu denken war so unerwartete
und nachdrückliche Proteste gegen die neue Schule und Rufe nach der auf¬
gegebenen alten erhoben worden, daß sie nicht bloßem Widerspruchsgeist und
kultureller Rückständigkeit entstammen können. Ausgehend von der Verwilderung
des französischen Stils, der Verflachung der allgemeinen Bildung und dem zu¬
nehmenden Mangel an Klarheit und Schärfe des Denkens und Ausdrucks haben
in den letzten Jahren nicht nur französische Schriftsteller, Gelehrte und Studenten,
fondern auch Großindustrielle nicht aufgehört, auf eine Revision der Lehr¬
pläne von 1902 zugunsten eines kräftigeren Betriebs der klassischen Sprachen
zu dringen, und bezeichnend ist, daß soeben in der Educational Review eine
Stimme aus England, wo man neuerdings gegen die die Kenntnis des Lateinischen
und Griechischen fordernden Ausnahmebedingungen der Universitäten Oxford und
Cambridge Sturm läuft, warnend auf den „Schiffbruch, den Frankreich bei dem
Experiment der praktischen Erziehung erlitten habe", hinweist: „seine Jugend
in Arkadien verbracht zu haben," lesen wir da, „ist die beste Vorbereitung selbst
für einen künftigen Hüttenbesitzer."

Eine auf den ersten Blick viel auffallendere Bewegung für eine intensivere
und ausgedehntere Berücksichtigung des Humanismus als Bildungsfaktors hat
aber seit einigen Jahren in Amerika eingesetzt, also gerade dem Lande, das
den alten Kulturvölkern den Namen für eine materialistische Lebensauffassung
hergeliehen hat, einem Lande ohne solche jahrtausendalte Tradition, wie sie
nach Meinung unserer pädagogischen Amokläufer bei uns träge, zähe und vor¬
urteilsvolle Feinde jeglichen Fortschritts erzieht.

Seit 1906 hat die Universität Ann-Arbor, Michigan, alljährlich sogenannte
Symposien, d. h. Diskussionen, über den Wert des Humanismus, insbesondere
des Studiums der klassischen Sprachen für die verschiedenen Berufe veranstaltet:
Mediziner, Ingenieure, Juristen, Theologen, Kaufleute, Professoren der philo¬
sophischen Fakultät sind der Reihe nach zu Worte gekommen. Eine Gesamt¬
publikation dieser Symposien, vermehrt uni Meinungsäußerungen anderer her¬
vorragender Männer des öffentlichen Lebens, hat 1911 ihr Organisator W. Kelsey
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/171>, abgerufen am 15.01.2025.