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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schülerjahre

dahin, daß das Kind den Schulerlebnissen überhaupt nicht mehr entfliehen kann,
sondern überall von Mitwissern, Miterziehern, Mitstrebern der Schule umgeben
ist." So wenig gesund es nämlich ist, wenn das Elternhaus in seiner ganzen
Tonart der Schule entgegengesetzt wirkt, so wenig erfreulich ist es, wenn sich
das Elternhaus in eine Hilfsanstalt für die Schule verwandelt. Das in den
angeführten Worten von Gertrud Banner als Normalzustand geschilderte Ver¬
hältnis zwischen Schule und Haus beruht nicht auf dem physischen Zwang zur
Erfüllung des von der Schule Geforderten, sondern setzt in dem Schüler ein
Pflichtgefühl als selbstverständlich voraus, das im andern Falle durch den von
allen Seiten wirkenden Druck gar nicht zur Ausbildung kommen kann.

Es sollte also wieder dahin kommen, daß die Schule nicht als die Trägerin
des Erziehungswerkes angesehen und dafür verantwortlich gemacht wird, sondern
daß man in ihr nur noch einen Faktor der Erziehung steht, deren Schwer¬
gewicht im Heim und im Umgang liegt. Auch die Schule selbst sollte ihre
Bedeutung hierin nicht überschätzen. Daß sie in dieser Weise bewertet werden
kann, liegt in einer einseitigen Betonung der intellektuellen Bildung, deren
Pflege man ja von der Schule in erster Linie erwartet. Gerade diese Über¬
bewertung der "Schulbildung" und mit ihr der Schule selbst ruft als Reaktion
den Haß des Vergewaltigten hervor, dessen übrige Seelenkräfte zugunsten des
Verstandes unterdrückt werden. Die Reihe ablehnender Voden, die von Schrift¬
stellern und Dichtern über ihre Schulerfahrungen (Mathematik!) abgegeben
werden, dürfte sich so erklären. Besonders die Überlastung des Gedächtnisses
mit Wissensstoff wird da stark verworfen. In der Beurteilung des erstrebens¬
werten Schulzieles scheint sich ja eine Besserung anzubahnen; neben den Leuten,
die von der Schule verlangen, daß sie dem Schüler einen "universalen Einblick
in das ihn umflutende Natur- und Kulturleben" biete (Ed. David), stehen doch
auch andere, die es auszusprechen wagen: "daß man auf der Schule nicht viel
für das spätere Leben unmittelbar Anwendbares lernt, ist nach meiner Ansicht
kein Fehler" (H. Dove), und: "Nicht das Wissen, nicht Verstand und Charakter
verdanken wir der Schule, sondern die Handhabung des Wissens;" -- ganze
Schulwissenschaften werden gründlich vergessen, "aber eins bleibt unvergänglich,
das Ewige, für das sie ein Gleichnis waren, nämlich die Art, wissenschaftlich
zu denken" (R. Francs). --

Während sich um die Berechtigung der einzelnen Schulgattungen ein
erbitterter Streit dreht, vergißt man, daß die Stellung der Schule im Menschen¬
leben überhaupt viel zu breit genommen wird, und daß daher die Frage der
Organisation eine Frage zweiten Ranges ist. Ein tüchtiger Kerl -- das geht
denn doch aus sehr vielen Äußerungen der "Schülerjahre" hervor -- lernt auf
jeder Schule etwas Nützliches, und wäre sie auch nicht nach den Regeln der
abgestempelten Lehrpläne aufgebaut, und wären ihre Lehrer auch nach den
geltenden Begriffen schlechte Lehrer, und wären auch die hygienischen und Lehr¬
mittelverhältnisse trostlos. Der Erfolg des Schulbesuchs hängt wenig von der


Schülerjahre

dahin, daß das Kind den Schulerlebnissen überhaupt nicht mehr entfliehen kann,
sondern überall von Mitwissern, Miterziehern, Mitstrebern der Schule umgeben
ist." So wenig gesund es nämlich ist, wenn das Elternhaus in seiner ganzen
Tonart der Schule entgegengesetzt wirkt, so wenig erfreulich ist es, wenn sich
das Elternhaus in eine Hilfsanstalt für die Schule verwandelt. Das in den
angeführten Worten von Gertrud Banner als Normalzustand geschilderte Ver¬
hältnis zwischen Schule und Haus beruht nicht auf dem physischen Zwang zur
Erfüllung des von der Schule Geforderten, sondern setzt in dem Schüler ein
Pflichtgefühl als selbstverständlich voraus, das im andern Falle durch den von
allen Seiten wirkenden Druck gar nicht zur Ausbildung kommen kann.

Es sollte also wieder dahin kommen, daß die Schule nicht als die Trägerin
des Erziehungswerkes angesehen und dafür verantwortlich gemacht wird, sondern
daß man in ihr nur noch einen Faktor der Erziehung steht, deren Schwer¬
gewicht im Heim und im Umgang liegt. Auch die Schule selbst sollte ihre
Bedeutung hierin nicht überschätzen. Daß sie in dieser Weise bewertet werden
kann, liegt in einer einseitigen Betonung der intellektuellen Bildung, deren
Pflege man ja von der Schule in erster Linie erwartet. Gerade diese Über¬
bewertung der „Schulbildung" und mit ihr der Schule selbst ruft als Reaktion
den Haß des Vergewaltigten hervor, dessen übrige Seelenkräfte zugunsten des
Verstandes unterdrückt werden. Die Reihe ablehnender Voden, die von Schrift¬
stellern und Dichtern über ihre Schulerfahrungen (Mathematik!) abgegeben
werden, dürfte sich so erklären. Besonders die Überlastung des Gedächtnisses
mit Wissensstoff wird da stark verworfen. In der Beurteilung des erstrebens¬
werten Schulzieles scheint sich ja eine Besserung anzubahnen; neben den Leuten,
die von der Schule verlangen, daß sie dem Schüler einen „universalen Einblick
in das ihn umflutende Natur- und Kulturleben" biete (Ed. David), stehen doch
auch andere, die es auszusprechen wagen: „daß man auf der Schule nicht viel
für das spätere Leben unmittelbar Anwendbares lernt, ist nach meiner Ansicht
kein Fehler" (H. Dove), und: „Nicht das Wissen, nicht Verstand und Charakter
verdanken wir der Schule, sondern die Handhabung des Wissens;" — ganze
Schulwissenschaften werden gründlich vergessen, „aber eins bleibt unvergänglich,
das Ewige, für das sie ein Gleichnis waren, nämlich die Art, wissenschaftlich
zu denken" (R. Francs). —

Während sich um die Berechtigung der einzelnen Schulgattungen ein
erbitterter Streit dreht, vergißt man, daß die Stellung der Schule im Menschen¬
leben überhaupt viel zu breit genommen wird, und daß daher die Frage der
Organisation eine Frage zweiten Ranges ist. Ein tüchtiger Kerl — das geht
denn doch aus sehr vielen Äußerungen der „Schülerjahre" hervor — lernt auf
jeder Schule etwas Nützliches, und wäre sie auch nicht nach den Regeln der
abgestempelten Lehrpläne aufgebaut, und wären ihre Lehrer auch nach den
geltenden Begriffen schlechte Lehrer, und wären auch die hygienischen und Lehr¬
mittelverhältnisse trostlos. Der Erfolg des Schulbesuchs hängt wenig von der


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[0079] Schülerjahre dahin, daß das Kind den Schulerlebnissen überhaupt nicht mehr entfliehen kann, sondern überall von Mitwissern, Miterziehern, Mitstrebern der Schule umgeben ist." So wenig gesund es nämlich ist, wenn das Elternhaus in seiner ganzen Tonart der Schule entgegengesetzt wirkt, so wenig erfreulich ist es, wenn sich das Elternhaus in eine Hilfsanstalt für die Schule verwandelt. Das in den angeführten Worten von Gertrud Banner als Normalzustand geschilderte Ver¬ hältnis zwischen Schule und Haus beruht nicht auf dem physischen Zwang zur Erfüllung des von der Schule Geforderten, sondern setzt in dem Schüler ein Pflichtgefühl als selbstverständlich voraus, das im andern Falle durch den von allen Seiten wirkenden Druck gar nicht zur Ausbildung kommen kann. Es sollte also wieder dahin kommen, daß die Schule nicht als die Trägerin des Erziehungswerkes angesehen und dafür verantwortlich gemacht wird, sondern daß man in ihr nur noch einen Faktor der Erziehung steht, deren Schwer¬ gewicht im Heim und im Umgang liegt. Auch die Schule selbst sollte ihre Bedeutung hierin nicht überschätzen. Daß sie in dieser Weise bewertet werden kann, liegt in einer einseitigen Betonung der intellektuellen Bildung, deren Pflege man ja von der Schule in erster Linie erwartet. Gerade diese Über¬ bewertung der „Schulbildung" und mit ihr der Schule selbst ruft als Reaktion den Haß des Vergewaltigten hervor, dessen übrige Seelenkräfte zugunsten des Verstandes unterdrückt werden. Die Reihe ablehnender Voden, die von Schrift¬ stellern und Dichtern über ihre Schulerfahrungen (Mathematik!) abgegeben werden, dürfte sich so erklären. Besonders die Überlastung des Gedächtnisses mit Wissensstoff wird da stark verworfen. In der Beurteilung des erstrebens¬ werten Schulzieles scheint sich ja eine Besserung anzubahnen; neben den Leuten, die von der Schule verlangen, daß sie dem Schüler einen „universalen Einblick in das ihn umflutende Natur- und Kulturleben" biete (Ed. David), stehen doch auch andere, die es auszusprechen wagen: „daß man auf der Schule nicht viel für das spätere Leben unmittelbar Anwendbares lernt, ist nach meiner Ansicht kein Fehler" (H. Dove), und: „Nicht das Wissen, nicht Verstand und Charakter verdanken wir der Schule, sondern die Handhabung des Wissens;" — ganze Schulwissenschaften werden gründlich vergessen, „aber eins bleibt unvergänglich, das Ewige, für das sie ein Gleichnis waren, nämlich die Art, wissenschaftlich zu denken" (R. Francs). — Während sich um die Berechtigung der einzelnen Schulgattungen ein erbitterter Streit dreht, vergißt man, daß die Stellung der Schule im Menschen¬ leben überhaupt viel zu breit genommen wird, und daß daher die Frage der Organisation eine Frage zweiten Ranges ist. Ein tüchtiger Kerl — das geht denn doch aus sehr vielen Äußerungen der „Schülerjahre" hervor — lernt auf jeder Schule etwas Nützliches, und wäre sie auch nicht nach den Regeln der abgestempelten Lehrpläne aufgebaut, und wären ihre Lehrer auch nach den geltenden Begriffen schlechte Lehrer, und wären auch die hygienischen und Lehr¬ mittelverhältnisse trostlos. Der Erfolg des Schulbesuchs hängt wenig von der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/79>, abgerufen am 03.07.2024.