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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schülerjahre

Es ist nichts Gesundes, daß dieser Ehrbegriff den Pflichtbegriff ersetzt. Seine
Pflicht zu tun, ist allerdings Sache jedes Jungen. Aber bei aller ehrlichen
Anstrengung nicht das Gleiche erreichen wie die anderen, ist doch nicht unehren¬
haft; die augenscheinliche Verschiedenheit der geistigen Naturanlagen sollte nicht
zu einer Ehrensache gemacht werden. Eine gewisse Eitelkeit, ein begabtes Kind
ihr eigen zu nennen, der eifersüchtige Blick auf die Kinder der Nachbarn, der
Kollegenfamilie, läßt manche Eltern, besonders die Mütter, in das Kind leicht
einen ungesunden Ehrgeiz einpflanzen. Auch hat wohl jene Schablonisierung
des Massenschulbetriebes, die grundsätzlich anzunehmen genötigt ist, daß alle
Kinder gleichschnell reifen, auf die Begriffe der Eltern eingewirkt. So muß der
Ehrgeiz des langsamer sich entwickelnden Kindes angespornt werden, daß es die
letzte Nervenkraft dransetzt, um nur versetzt zu werden, obgleich es den höheren
Anforderungen der neuen Klasse, ausgepumpt, wie es nun schon ist, erst recht
nicht gewachsen sein kann.

Daß das "Sitzenbleiben" für manche Naturen ein Glück bedeutet, weil
ihre Konstitution schwächer oder anders gerichtet ist oder ihre Entwicklung lang¬
samer geht als bei anderen und daher Zeit behalten muß, sich ab und zu von
den Anstrengungen des Schullebens zu erholen, diese Wahrheit scheint noch
wenigen einzuleuchten. Und das liegt nicht nur an der Überschätzung der
Schule für die Gesamtentwicklung eines Menschen, nicht nur an dem verwerf¬
lichen Gefühl der Strafe, das dem Nichtversetztwerden anhaftet, sondern auch
an einer Anschauung, an der wir alle mehr oder weniger leiden: dem Begriff
vom unersetzbaren Wert der Zeit, einem Nebenprodukt des modernen Materia¬
lismus. Der Vater drückt den Verlust, den er durch das "Zurückbleiben" des
Söhnchens erleidet, oft einfach in barem Gelde aus (Schulgeld, späterer Abschluß
des Studienganges, hierdurch spätere Anstellung des Sohnes, Zurückbleiben in
der Karriere). Als ob nicht mancher, der sich langsam entfaltet hat, später zu um
so größeren Leistungen gediehen wäre, je weniger man ihn mit Gewaltmitteln
zu rascher Entfaltung drängte. Auch einige der Grafschen "namhaften" sind
sitzengeblieben und vielleicht nicht zu ihrem Schaden. Man vergesse doch nicht,
daß die Schulzeit noch nicht die Zeit ist, wo wirkliche Leistungen zutage treten
oder sich anbahnen, sondern nur eine Vorbereitungszeit; ob einer später etwas
leistet oder bedeutet, dafür ist die Note des Versetzungszeugnisses oder das
Datum der Reifeprüfung mehr als gleichgültig, wichtig nur, ob er ein harmonisch
vollentwickelter Mensch ist.

Im Zeitalter des "Zusammenarbeitens zwischen Schule und Haus", der
"Elternabende" usw. wirkt es nun geradezu erfrischend, wenn es jemand aus
eigener Erfahrung für das Normale erklärt, daß "die Schule eine Privat¬
angelegenheit der Kinder sei, mit der sie sich aus eigener Kraft abzufinden
hätten", und es unter die pathologischen Störungen rechnet, "wenn Schule und
Elternhaus in eine -- dem Patienten höchst unerwünschte -- Verbindung treten."
"Heute führt das gepriesene Zusammenarbeiten von Schule und Haus vielfach


Schülerjahre

Es ist nichts Gesundes, daß dieser Ehrbegriff den Pflichtbegriff ersetzt. Seine
Pflicht zu tun, ist allerdings Sache jedes Jungen. Aber bei aller ehrlichen
Anstrengung nicht das Gleiche erreichen wie die anderen, ist doch nicht unehren¬
haft; die augenscheinliche Verschiedenheit der geistigen Naturanlagen sollte nicht
zu einer Ehrensache gemacht werden. Eine gewisse Eitelkeit, ein begabtes Kind
ihr eigen zu nennen, der eifersüchtige Blick auf die Kinder der Nachbarn, der
Kollegenfamilie, läßt manche Eltern, besonders die Mütter, in das Kind leicht
einen ungesunden Ehrgeiz einpflanzen. Auch hat wohl jene Schablonisierung
des Massenschulbetriebes, die grundsätzlich anzunehmen genötigt ist, daß alle
Kinder gleichschnell reifen, auf die Begriffe der Eltern eingewirkt. So muß der
Ehrgeiz des langsamer sich entwickelnden Kindes angespornt werden, daß es die
letzte Nervenkraft dransetzt, um nur versetzt zu werden, obgleich es den höheren
Anforderungen der neuen Klasse, ausgepumpt, wie es nun schon ist, erst recht
nicht gewachsen sein kann.

Daß das „Sitzenbleiben" für manche Naturen ein Glück bedeutet, weil
ihre Konstitution schwächer oder anders gerichtet ist oder ihre Entwicklung lang¬
samer geht als bei anderen und daher Zeit behalten muß, sich ab und zu von
den Anstrengungen des Schullebens zu erholen, diese Wahrheit scheint noch
wenigen einzuleuchten. Und das liegt nicht nur an der Überschätzung der
Schule für die Gesamtentwicklung eines Menschen, nicht nur an dem verwerf¬
lichen Gefühl der Strafe, das dem Nichtversetztwerden anhaftet, sondern auch
an einer Anschauung, an der wir alle mehr oder weniger leiden: dem Begriff
vom unersetzbaren Wert der Zeit, einem Nebenprodukt des modernen Materia¬
lismus. Der Vater drückt den Verlust, den er durch das „Zurückbleiben" des
Söhnchens erleidet, oft einfach in barem Gelde aus (Schulgeld, späterer Abschluß
des Studienganges, hierdurch spätere Anstellung des Sohnes, Zurückbleiben in
der Karriere). Als ob nicht mancher, der sich langsam entfaltet hat, später zu um
so größeren Leistungen gediehen wäre, je weniger man ihn mit Gewaltmitteln
zu rascher Entfaltung drängte. Auch einige der Grafschen „namhaften" sind
sitzengeblieben und vielleicht nicht zu ihrem Schaden. Man vergesse doch nicht,
daß die Schulzeit noch nicht die Zeit ist, wo wirkliche Leistungen zutage treten
oder sich anbahnen, sondern nur eine Vorbereitungszeit; ob einer später etwas
leistet oder bedeutet, dafür ist die Note des Versetzungszeugnisses oder das
Datum der Reifeprüfung mehr als gleichgültig, wichtig nur, ob er ein harmonisch
vollentwickelter Mensch ist.

Im Zeitalter des „Zusammenarbeitens zwischen Schule und Haus", der
„Elternabende" usw. wirkt es nun geradezu erfrischend, wenn es jemand aus
eigener Erfahrung für das Normale erklärt, daß „die Schule eine Privat¬
angelegenheit der Kinder sei, mit der sie sich aus eigener Kraft abzufinden
hätten", und es unter die pathologischen Störungen rechnet, „wenn Schule und
Elternhaus in eine — dem Patienten höchst unerwünschte — Verbindung treten."
„Heute führt das gepriesene Zusammenarbeiten von Schule und Haus vielfach


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[0078] Schülerjahre Es ist nichts Gesundes, daß dieser Ehrbegriff den Pflichtbegriff ersetzt. Seine Pflicht zu tun, ist allerdings Sache jedes Jungen. Aber bei aller ehrlichen Anstrengung nicht das Gleiche erreichen wie die anderen, ist doch nicht unehren¬ haft; die augenscheinliche Verschiedenheit der geistigen Naturanlagen sollte nicht zu einer Ehrensache gemacht werden. Eine gewisse Eitelkeit, ein begabtes Kind ihr eigen zu nennen, der eifersüchtige Blick auf die Kinder der Nachbarn, der Kollegenfamilie, läßt manche Eltern, besonders die Mütter, in das Kind leicht einen ungesunden Ehrgeiz einpflanzen. Auch hat wohl jene Schablonisierung des Massenschulbetriebes, die grundsätzlich anzunehmen genötigt ist, daß alle Kinder gleichschnell reifen, auf die Begriffe der Eltern eingewirkt. So muß der Ehrgeiz des langsamer sich entwickelnden Kindes angespornt werden, daß es die letzte Nervenkraft dransetzt, um nur versetzt zu werden, obgleich es den höheren Anforderungen der neuen Klasse, ausgepumpt, wie es nun schon ist, erst recht nicht gewachsen sein kann. Daß das „Sitzenbleiben" für manche Naturen ein Glück bedeutet, weil ihre Konstitution schwächer oder anders gerichtet ist oder ihre Entwicklung lang¬ samer geht als bei anderen und daher Zeit behalten muß, sich ab und zu von den Anstrengungen des Schullebens zu erholen, diese Wahrheit scheint noch wenigen einzuleuchten. Und das liegt nicht nur an der Überschätzung der Schule für die Gesamtentwicklung eines Menschen, nicht nur an dem verwerf¬ lichen Gefühl der Strafe, das dem Nichtversetztwerden anhaftet, sondern auch an einer Anschauung, an der wir alle mehr oder weniger leiden: dem Begriff vom unersetzbaren Wert der Zeit, einem Nebenprodukt des modernen Materia¬ lismus. Der Vater drückt den Verlust, den er durch das „Zurückbleiben" des Söhnchens erleidet, oft einfach in barem Gelde aus (Schulgeld, späterer Abschluß des Studienganges, hierdurch spätere Anstellung des Sohnes, Zurückbleiben in der Karriere). Als ob nicht mancher, der sich langsam entfaltet hat, später zu um so größeren Leistungen gediehen wäre, je weniger man ihn mit Gewaltmitteln zu rascher Entfaltung drängte. Auch einige der Grafschen „namhaften" sind sitzengeblieben und vielleicht nicht zu ihrem Schaden. Man vergesse doch nicht, daß die Schulzeit noch nicht die Zeit ist, wo wirkliche Leistungen zutage treten oder sich anbahnen, sondern nur eine Vorbereitungszeit; ob einer später etwas leistet oder bedeutet, dafür ist die Note des Versetzungszeugnisses oder das Datum der Reifeprüfung mehr als gleichgültig, wichtig nur, ob er ein harmonisch vollentwickelter Mensch ist. Im Zeitalter des „Zusammenarbeitens zwischen Schule und Haus", der „Elternabende" usw. wirkt es nun geradezu erfrischend, wenn es jemand aus eigener Erfahrung für das Normale erklärt, daß „die Schule eine Privat¬ angelegenheit der Kinder sei, mit der sie sich aus eigener Kraft abzufinden hätten", und es unter die pathologischen Störungen rechnet, „wenn Schule und Elternhaus in eine — dem Patienten höchst unerwünschte — Verbindung treten." „Heute führt das gepriesene Zusammenarbeiten von Schule und Haus vielfach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/78>, abgerufen am 03.07.2024.