Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Schülcrjahre

Schulorganisation ab, mehr schon von der Persönlichkeit des Lehrers, am meisten
aber von der Persönlichkeit des Schülers. Daß die Forderungen heute auf
ein niedriges Mittelmaß angelegt sind, ist natürlich für die begabteren Schüler
ungünstig; aber wenn sie außer der Begabung auch noch innere Lebensenergie
in sich tragen, so helfen sie sich auf andere Weise, um ihren Wissensdurst zu
stillen. "Die wirklichen Talente werden durch >die Schulen weder groß noch
kaput gemacht" (Leo Samberger). Von den Tüchtigen wird der Schule vielleicht
am wenigsten Bedeutung beigelegt; aber sie haben -- wie von allem Erlebten --
die stärksten inneren Ergebnisse.

Die Tatsache, daß aus einem und demselben Schulsystem Leute hervorgehen,
die nachher auf den verschiedensten und von jener Schularbeit weltabgelegenen
Gebieten sich hervorragend betätigen, ist neulich durch ein Buch in eigentümlicher
Weise belegt worden. Unter dem Titel "Humanistisches Gymnasium und
modernes Kulturleben, Dankesgrüße ehemaliger Schüler zur Feier des drei-
hundertundfünfzigjährigen Bestehens des Erfurter Gymnasiums", erschien im
vorigen Sommer ein umfangreicher Band, bestehend aus einem bunten Mosaik
von fünfzig größeren und kleineren Abhandlungen der verschiedensten Kultur- und
Wissenschaftsgebiete. Schon der Titel deutet an, daß uns hier ein Versuch
verliegt, den absprechender Urteilen über das humanistische Gymnasium mit dem
Beweis entgegenzutreten, daß das Gymnasium Leute vorbildet, die in allen
Zweigen des heutigen "Kulturlebens" mit Erfolg arbeiten. Es ist auch wirklich
von Wert und entkräftet ohne Zweifel eine Menge jener Angriffe, wenn wir
ehemalige Gymnasiasten z. B. auf dem Gebiete der Chemie, der Biologie, der
Technik heimisch und in fruchtbarer Tätigkeit sehen. Den Beweis, daß das als
unpraktisch verrufene alte Gymnasium sogar hervorragende Praktiker vorbildet,
kann man zwar auf diesem literarischen Wege nicht erbringen; aber wenn die
Gymnasien ihre früheren Schüler ein paar Jahrzehnte im Auge behielten, (was
für alle Schulen empfehlenswert wäre,) so würde gewiß auch das zu erweisen
sein. Und wenn dies Praktiker wären, denen eine gewisse philosophische Ver¬
tiefung, eine Betrachtung des Tagesgeschehens 8ub specie aeternitatis eigen
wäre, so hätte damit das Gymnasium eine Daseinsberechtigung erwiesen, die ihm
niemand mehr abstreiten sollte. --

Selbst wenn wir kritisch an die Äußerungen der "Schülerjahre" herantreten
-- ein Ton klingt doch zu stark heraus, als daß wir annehmen dürften, spätere
Empfindungen seien unbewußt in die Jugendjahre projiziert: das Streben, auf
eigenen Wegen in das Labyrinth des Wissens einzudringen, die Entdeckerfreude
selbst zu kosten, ist in vielen jugendlichen Gemütern vorhanden. Vielleicht die
reinsten Freuden in diesem sonst vielfach freudlosen Buche beruhen in der Er¬
innerung an das selbständige geistige Arbeiten in der Jugend. Mit Wehmut
lesen wir heute die Gedenkworte manches alten Herrn an die "Studiertage"
seiner Jugend -- Tage, an denen sich jeder ziemlich frei dem ihm zusagenden
Gebiet widmete, -- oder die Äußerung: "Ebenso genossen wir in wissenschaftlicher


Schülcrjahre

Schulorganisation ab, mehr schon von der Persönlichkeit des Lehrers, am meisten
aber von der Persönlichkeit des Schülers. Daß die Forderungen heute auf
ein niedriges Mittelmaß angelegt sind, ist natürlich für die begabteren Schüler
ungünstig; aber wenn sie außer der Begabung auch noch innere Lebensenergie
in sich tragen, so helfen sie sich auf andere Weise, um ihren Wissensdurst zu
stillen. „Die wirklichen Talente werden durch >die Schulen weder groß noch
kaput gemacht" (Leo Samberger). Von den Tüchtigen wird der Schule vielleicht
am wenigsten Bedeutung beigelegt; aber sie haben — wie von allem Erlebten —
die stärksten inneren Ergebnisse.

Die Tatsache, daß aus einem und demselben Schulsystem Leute hervorgehen,
die nachher auf den verschiedensten und von jener Schularbeit weltabgelegenen
Gebieten sich hervorragend betätigen, ist neulich durch ein Buch in eigentümlicher
Weise belegt worden. Unter dem Titel „Humanistisches Gymnasium und
modernes Kulturleben, Dankesgrüße ehemaliger Schüler zur Feier des drei-
hundertundfünfzigjährigen Bestehens des Erfurter Gymnasiums", erschien im
vorigen Sommer ein umfangreicher Band, bestehend aus einem bunten Mosaik
von fünfzig größeren und kleineren Abhandlungen der verschiedensten Kultur- und
Wissenschaftsgebiete. Schon der Titel deutet an, daß uns hier ein Versuch
verliegt, den absprechender Urteilen über das humanistische Gymnasium mit dem
Beweis entgegenzutreten, daß das Gymnasium Leute vorbildet, die in allen
Zweigen des heutigen „Kulturlebens" mit Erfolg arbeiten. Es ist auch wirklich
von Wert und entkräftet ohne Zweifel eine Menge jener Angriffe, wenn wir
ehemalige Gymnasiasten z. B. auf dem Gebiete der Chemie, der Biologie, der
Technik heimisch und in fruchtbarer Tätigkeit sehen. Den Beweis, daß das als
unpraktisch verrufene alte Gymnasium sogar hervorragende Praktiker vorbildet,
kann man zwar auf diesem literarischen Wege nicht erbringen; aber wenn die
Gymnasien ihre früheren Schüler ein paar Jahrzehnte im Auge behielten, (was
für alle Schulen empfehlenswert wäre,) so würde gewiß auch das zu erweisen
sein. Und wenn dies Praktiker wären, denen eine gewisse philosophische Ver¬
tiefung, eine Betrachtung des Tagesgeschehens 8ub specie aeternitatis eigen
wäre, so hätte damit das Gymnasium eine Daseinsberechtigung erwiesen, die ihm
niemand mehr abstreiten sollte. —

Selbst wenn wir kritisch an die Äußerungen der „Schülerjahre" herantreten
— ein Ton klingt doch zu stark heraus, als daß wir annehmen dürften, spätere
Empfindungen seien unbewußt in die Jugendjahre projiziert: das Streben, auf
eigenen Wegen in das Labyrinth des Wissens einzudringen, die Entdeckerfreude
selbst zu kosten, ist in vielen jugendlichen Gemütern vorhanden. Vielleicht die
reinsten Freuden in diesem sonst vielfach freudlosen Buche beruhen in der Er¬
innerung an das selbständige geistige Arbeiten in der Jugend. Mit Wehmut
lesen wir heute die Gedenkworte manches alten Herrn an die „Studiertage"
seiner Jugend — Tage, an denen sich jeder ziemlich frei dem ihm zusagenden
Gebiet widmete, — oder die Äußerung: „Ebenso genossen wir in wissenschaftlicher


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0080" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321827"/>
          <fw type="header" place="top"> Schülcrjahre</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_247" prev="#ID_246"> Schulorganisation ab, mehr schon von der Persönlichkeit des Lehrers, am meisten<lb/>
aber von der Persönlichkeit des Schülers. Daß die Forderungen heute auf<lb/>
ein niedriges Mittelmaß angelegt sind, ist natürlich für die begabteren Schüler<lb/>
ungünstig; aber wenn sie außer der Begabung auch noch innere Lebensenergie<lb/>
in sich tragen, so helfen sie sich auf andere Weise, um ihren Wissensdurst zu<lb/>
stillen. &#x201E;Die wirklichen Talente werden durch &gt;die Schulen weder groß noch<lb/>
kaput gemacht" (Leo Samberger). Von den Tüchtigen wird der Schule vielleicht<lb/>
am wenigsten Bedeutung beigelegt; aber sie haben &#x2014; wie von allem Erlebten &#x2014;<lb/>
die stärksten inneren Ergebnisse.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_248"> Die Tatsache, daß aus einem und demselben Schulsystem Leute hervorgehen,<lb/>
die nachher auf den verschiedensten und von jener Schularbeit weltabgelegenen<lb/>
Gebieten sich hervorragend betätigen, ist neulich durch ein Buch in eigentümlicher<lb/>
Weise belegt worden. Unter dem Titel &#x201E;Humanistisches Gymnasium und<lb/>
modernes Kulturleben, Dankesgrüße ehemaliger Schüler zur Feier des drei-<lb/>
hundertundfünfzigjährigen Bestehens des Erfurter Gymnasiums", erschien im<lb/>
vorigen Sommer ein umfangreicher Band, bestehend aus einem bunten Mosaik<lb/>
von fünfzig größeren und kleineren Abhandlungen der verschiedensten Kultur- und<lb/>
Wissenschaftsgebiete. Schon der Titel deutet an, daß uns hier ein Versuch<lb/>
verliegt, den absprechender Urteilen über das humanistische Gymnasium mit dem<lb/>
Beweis entgegenzutreten, daß das Gymnasium Leute vorbildet, die in allen<lb/>
Zweigen des heutigen &#x201E;Kulturlebens" mit Erfolg arbeiten. Es ist auch wirklich<lb/>
von Wert und entkräftet ohne Zweifel eine Menge jener Angriffe, wenn wir<lb/>
ehemalige Gymnasiasten z. B. auf dem Gebiete der Chemie, der Biologie, der<lb/>
Technik heimisch und in fruchtbarer Tätigkeit sehen. Den Beweis, daß das als<lb/>
unpraktisch verrufene alte Gymnasium sogar hervorragende Praktiker vorbildet,<lb/>
kann man zwar auf diesem literarischen Wege nicht erbringen; aber wenn die<lb/>
Gymnasien ihre früheren Schüler ein paar Jahrzehnte im Auge behielten, (was<lb/>
für alle Schulen empfehlenswert wäre,) so würde gewiß auch das zu erweisen<lb/>
sein. Und wenn dies Praktiker wären, denen eine gewisse philosophische Ver¬<lb/>
tiefung, eine Betrachtung des Tagesgeschehens 8ub specie aeternitatis eigen<lb/>
wäre, so hätte damit das Gymnasium eine Daseinsberechtigung erwiesen, die ihm<lb/>
niemand mehr abstreiten sollte. &#x2014;</p><lb/>
          <p xml:id="ID_249" next="#ID_250"> Selbst wenn wir kritisch an die Äußerungen der &#x201E;Schülerjahre" herantreten<lb/>
&#x2014; ein Ton klingt doch zu stark heraus, als daß wir annehmen dürften, spätere<lb/>
Empfindungen seien unbewußt in die Jugendjahre projiziert: das Streben, auf<lb/>
eigenen Wegen in das Labyrinth des Wissens einzudringen, die Entdeckerfreude<lb/>
selbst zu kosten, ist in vielen jugendlichen Gemütern vorhanden. Vielleicht die<lb/>
reinsten Freuden in diesem sonst vielfach freudlosen Buche beruhen in der Er¬<lb/>
innerung an das selbständige geistige Arbeiten in der Jugend. Mit Wehmut<lb/>
lesen wir heute die Gedenkworte manches alten Herrn an die &#x201E;Studiertage"<lb/>
seiner Jugend &#x2014; Tage, an denen sich jeder ziemlich frei dem ihm zusagenden<lb/>
Gebiet widmete, &#x2014; oder die Äußerung: &#x201E;Ebenso genossen wir in wissenschaftlicher</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0080] Schülcrjahre Schulorganisation ab, mehr schon von der Persönlichkeit des Lehrers, am meisten aber von der Persönlichkeit des Schülers. Daß die Forderungen heute auf ein niedriges Mittelmaß angelegt sind, ist natürlich für die begabteren Schüler ungünstig; aber wenn sie außer der Begabung auch noch innere Lebensenergie in sich tragen, so helfen sie sich auf andere Weise, um ihren Wissensdurst zu stillen. „Die wirklichen Talente werden durch >die Schulen weder groß noch kaput gemacht" (Leo Samberger). Von den Tüchtigen wird der Schule vielleicht am wenigsten Bedeutung beigelegt; aber sie haben — wie von allem Erlebten — die stärksten inneren Ergebnisse. Die Tatsache, daß aus einem und demselben Schulsystem Leute hervorgehen, die nachher auf den verschiedensten und von jener Schularbeit weltabgelegenen Gebieten sich hervorragend betätigen, ist neulich durch ein Buch in eigentümlicher Weise belegt worden. Unter dem Titel „Humanistisches Gymnasium und modernes Kulturleben, Dankesgrüße ehemaliger Schüler zur Feier des drei- hundertundfünfzigjährigen Bestehens des Erfurter Gymnasiums", erschien im vorigen Sommer ein umfangreicher Band, bestehend aus einem bunten Mosaik von fünfzig größeren und kleineren Abhandlungen der verschiedensten Kultur- und Wissenschaftsgebiete. Schon der Titel deutet an, daß uns hier ein Versuch verliegt, den absprechender Urteilen über das humanistische Gymnasium mit dem Beweis entgegenzutreten, daß das Gymnasium Leute vorbildet, die in allen Zweigen des heutigen „Kulturlebens" mit Erfolg arbeiten. Es ist auch wirklich von Wert und entkräftet ohne Zweifel eine Menge jener Angriffe, wenn wir ehemalige Gymnasiasten z. B. auf dem Gebiete der Chemie, der Biologie, der Technik heimisch und in fruchtbarer Tätigkeit sehen. Den Beweis, daß das als unpraktisch verrufene alte Gymnasium sogar hervorragende Praktiker vorbildet, kann man zwar auf diesem literarischen Wege nicht erbringen; aber wenn die Gymnasien ihre früheren Schüler ein paar Jahrzehnte im Auge behielten, (was für alle Schulen empfehlenswert wäre,) so würde gewiß auch das zu erweisen sein. Und wenn dies Praktiker wären, denen eine gewisse philosophische Ver¬ tiefung, eine Betrachtung des Tagesgeschehens 8ub specie aeternitatis eigen wäre, so hätte damit das Gymnasium eine Daseinsberechtigung erwiesen, die ihm niemand mehr abstreiten sollte. — Selbst wenn wir kritisch an die Äußerungen der „Schülerjahre" herantreten — ein Ton klingt doch zu stark heraus, als daß wir annehmen dürften, spätere Empfindungen seien unbewußt in die Jugendjahre projiziert: das Streben, auf eigenen Wegen in das Labyrinth des Wissens einzudringen, die Entdeckerfreude selbst zu kosten, ist in vielen jugendlichen Gemütern vorhanden. Vielleicht die reinsten Freuden in diesem sonst vielfach freudlosen Buche beruhen in der Er¬ innerung an das selbständige geistige Arbeiten in der Jugend. Mit Wehmut lesen wir heute die Gedenkworte manches alten Herrn an die „Studiertage" seiner Jugend — Tage, an denen sich jeder ziemlich frei dem ihm zusagenden Gebiet widmete, — oder die Äußerung: „Ebenso genossen wir in wissenschaftlicher

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/80
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/80>, abgerufen am 03.07.2024.