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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schülerjahre

jenes Buches stützen, nur den Wert persönlicher Meinungen beanspruchen; viel¬
leicht darf aber doch in diesen Randbemerkungen auf manches hingewiesen
werden, was der Aufmerksamkeit und Erwägung wert ist, insofern es sich auf
das Tatsächliche, von Parteileidenschaft Unbeeinflußte in den Schülerberichten
stützen läßt.

Wir sind heute mehr als früher geneigt, die Jugend mit Zartheit und
Schonung zu behandeln. Schon ehe das Schlagwort vom "Jahrhundert des
Kindes" erfunden war, hat man Scheu davor empfunden, dem Kinde die
Lebensfreude zu stören. Dieser Wunsch ist, wie mir scheint, im Laufe der Zeit
in unberechtigten Maße angewachsen. Dies hängt offenbar mit dem zunehmenden
Kultus der Individualität zusammen. Jede Beschränkung individueller Neigungen
wird als Barbarei empfunden. In den von solchen Ideen erfüllten Kreisen
hört natürlich jede Erziehung im alten Sinne auf. Die Jugend weiß von diesen
Ideen, sie beginnt innigstes Mitleid mit sich selbst zu empfinden, wenn eine ihrer
Neigungen eingedämmt, eine ihrer Triebe geknickt wird, einer ihrer Wünsche
unerfüllt bleibt. Bald weiß sie von keiner Pflicht mehr als von der, die
"Integrität ihrer Individualität" zu bewahren. Verweichlichung, Begehrlichkeit
wachsen, die Ansprüche werden immer größer, das Gefühl der Verantwortlichkeit
ist im Schwinden.

In dieser Richtung scheint sich die Entwicklung eines großen Teiles unserer
Jugend zu bewegen. Daß mit Menschen, die es vor sich selbst nicht verant¬
worten können, sich einen Wunsch zu versagen, das Leben nichts anzufangen
weiß, ist klar. Deshalb ist es meines Erachtens Aufgabe der Erziehung und
insbesondere der Schule, dem Überhandnehmen dieser moralischenKnochenerweichung
entgegenzuwirken. Es ist kein geringes Odium, das die Schule da auf sich
nimmt; sie muß auf große Tiraden von Vergewaltigung der Individualität
gefaßt sein. Aber sie hat ja schon mehr Vorwürfe ertragen, ohne sich in dem
als richtig Erkannten irre machen zu lassen.

Denn die Schule ist nach wie vor eine Vorbereitung für das Leben, und
sie ist es gerade insofern, als sie den angeborenen und auch anerzogenen Hang zur
Ungebundenheit, zum Sichgehenlassen und Lebensgenuß einschränkt. In der Schule
kommen die ersten Anforderungen, die ersten stärkeren Widerstände, Schwierig¬
keiten, Reibungen; das Leben bringt später größere. Die Schule muß in dieser
Hinsicht abhärtend wirken, den werdenden Menschen an Verantwortung, Pflicht¬
erfüllung, Verzicht auf manches Spiel gewöhnen. In dieser Hinsicht hat Johannes
Schlaf, der Dichter, an seine Schülererinnerungen sehr gesunde Ausführungen
geknüpft; es heißt darin: "Ich denke, ein normales Kind hat bereits einen
durchaus eingewurzelten gesunden Sinn dafür, daß das Leben nicht eine einzige
Fest-, gar "Bonbon"-Zeit ist, sondern daß es eben auch seine Unebenheiten,
sogar seine bösen, dunklen Seiten hat, die nun mal unter allen Umständen mit
in den Kauf zu nehmen sind." Aus der notwendigen Zurückdrängung der
individuellen Neigungen durch die Schule entspringt, bewußt oder unbewußt,


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jenes Buches stützen, nur den Wert persönlicher Meinungen beanspruchen; viel¬
leicht darf aber doch in diesen Randbemerkungen auf manches hingewiesen
werden, was der Aufmerksamkeit und Erwägung wert ist, insofern es sich auf
das Tatsächliche, von Parteileidenschaft Unbeeinflußte in den Schülerberichten
stützen läßt.

Wir sind heute mehr als früher geneigt, die Jugend mit Zartheit und
Schonung zu behandeln. Schon ehe das Schlagwort vom „Jahrhundert des
Kindes" erfunden war, hat man Scheu davor empfunden, dem Kinde die
Lebensfreude zu stören. Dieser Wunsch ist, wie mir scheint, im Laufe der Zeit
in unberechtigten Maße angewachsen. Dies hängt offenbar mit dem zunehmenden
Kultus der Individualität zusammen. Jede Beschränkung individueller Neigungen
wird als Barbarei empfunden. In den von solchen Ideen erfüllten Kreisen
hört natürlich jede Erziehung im alten Sinne auf. Die Jugend weiß von diesen
Ideen, sie beginnt innigstes Mitleid mit sich selbst zu empfinden, wenn eine ihrer
Neigungen eingedämmt, eine ihrer Triebe geknickt wird, einer ihrer Wünsche
unerfüllt bleibt. Bald weiß sie von keiner Pflicht mehr als von der, die
„Integrität ihrer Individualität" zu bewahren. Verweichlichung, Begehrlichkeit
wachsen, die Ansprüche werden immer größer, das Gefühl der Verantwortlichkeit
ist im Schwinden.

In dieser Richtung scheint sich die Entwicklung eines großen Teiles unserer
Jugend zu bewegen. Daß mit Menschen, die es vor sich selbst nicht verant¬
worten können, sich einen Wunsch zu versagen, das Leben nichts anzufangen
weiß, ist klar. Deshalb ist es meines Erachtens Aufgabe der Erziehung und
insbesondere der Schule, dem Überhandnehmen dieser moralischenKnochenerweichung
entgegenzuwirken. Es ist kein geringes Odium, das die Schule da auf sich
nimmt; sie muß auf große Tiraden von Vergewaltigung der Individualität
gefaßt sein. Aber sie hat ja schon mehr Vorwürfe ertragen, ohne sich in dem
als richtig Erkannten irre machen zu lassen.

Denn die Schule ist nach wie vor eine Vorbereitung für das Leben, und
sie ist es gerade insofern, als sie den angeborenen und auch anerzogenen Hang zur
Ungebundenheit, zum Sichgehenlassen und Lebensgenuß einschränkt. In der Schule
kommen die ersten Anforderungen, die ersten stärkeren Widerstände, Schwierig¬
keiten, Reibungen; das Leben bringt später größere. Die Schule muß in dieser
Hinsicht abhärtend wirken, den werdenden Menschen an Verantwortung, Pflicht¬
erfüllung, Verzicht auf manches Spiel gewöhnen. In dieser Hinsicht hat Johannes
Schlaf, der Dichter, an seine Schülererinnerungen sehr gesunde Ausführungen
geknüpft; es heißt darin: „Ich denke, ein normales Kind hat bereits einen
durchaus eingewurzelten gesunden Sinn dafür, daß das Leben nicht eine einzige
Fest-, gar „Bonbon"-Zeit ist, sondern daß es eben auch seine Unebenheiten,
sogar seine bösen, dunklen Seiten hat, die nun mal unter allen Umständen mit
in den Kauf zu nehmen sind." Aus der notwendigen Zurückdrängung der
individuellen Neigungen durch die Schule entspringt, bewußt oder unbewußt,


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[0076] Schülerjahre jenes Buches stützen, nur den Wert persönlicher Meinungen beanspruchen; viel¬ leicht darf aber doch in diesen Randbemerkungen auf manches hingewiesen werden, was der Aufmerksamkeit und Erwägung wert ist, insofern es sich auf das Tatsächliche, von Parteileidenschaft Unbeeinflußte in den Schülerberichten stützen läßt. Wir sind heute mehr als früher geneigt, die Jugend mit Zartheit und Schonung zu behandeln. Schon ehe das Schlagwort vom „Jahrhundert des Kindes" erfunden war, hat man Scheu davor empfunden, dem Kinde die Lebensfreude zu stören. Dieser Wunsch ist, wie mir scheint, im Laufe der Zeit in unberechtigten Maße angewachsen. Dies hängt offenbar mit dem zunehmenden Kultus der Individualität zusammen. Jede Beschränkung individueller Neigungen wird als Barbarei empfunden. In den von solchen Ideen erfüllten Kreisen hört natürlich jede Erziehung im alten Sinne auf. Die Jugend weiß von diesen Ideen, sie beginnt innigstes Mitleid mit sich selbst zu empfinden, wenn eine ihrer Neigungen eingedämmt, eine ihrer Triebe geknickt wird, einer ihrer Wünsche unerfüllt bleibt. Bald weiß sie von keiner Pflicht mehr als von der, die „Integrität ihrer Individualität" zu bewahren. Verweichlichung, Begehrlichkeit wachsen, die Ansprüche werden immer größer, das Gefühl der Verantwortlichkeit ist im Schwinden. In dieser Richtung scheint sich die Entwicklung eines großen Teiles unserer Jugend zu bewegen. Daß mit Menschen, die es vor sich selbst nicht verant¬ worten können, sich einen Wunsch zu versagen, das Leben nichts anzufangen weiß, ist klar. Deshalb ist es meines Erachtens Aufgabe der Erziehung und insbesondere der Schule, dem Überhandnehmen dieser moralischenKnochenerweichung entgegenzuwirken. Es ist kein geringes Odium, das die Schule da auf sich nimmt; sie muß auf große Tiraden von Vergewaltigung der Individualität gefaßt sein. Aber sie hat ja schon mehr Vorwürfe ertragen, ohne sich in dem als richtig Erkannten irre machen zu lassen. Denn die Schule ist nach wie vor eine Vorbereitung für das Leben, und sie ist es gerade insofern, als sie den angeborenen und auch anerzogenen Hang zur Ungebundenheit, zum Sichgehenlassen und Lebensgenuß einschränkt. In der Schule kommen die ersten Anforderungen, die ersten stärkeren Widerstände, Schwierig¬ keiten, Reibungen; das Leben bringt später größere. Die Schule muß in dieser Hinsicht abhärtend wirken, den werdenden Menschen an Verantwortung, Pflicht¬ erfüllung, Verzicht auf manches Spiel gewöhnen. In dieser Hinsicht hat Johannes Schlaf, der Dichter, an seine Schülererinnerungen sehr gesunde Ausführungen geknüpft; es heißt darin: „Ich denke, ein normales Kind hat bereits einen durchaus eingewurzelten gesunden Sinn dafür, daß das Leben nicht eine einzige Fest-, gar „Bonbon"-Zeit ist, sondern daß es eben auch seine Unebenheiten, sogar seine bösen, dunklen Seiten hat, die nun mal unter allen Umständen mit in den Kauf zu nehmen sind." Aus der notwendigen Zurückdrängung der individuellen Neigungen durch die Schule entspringt, bewußt oder unbewußt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/76>, abgerufen am 03.07.2024.