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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schülerjahre

vielfach Aufsehen erregt hat, in den "Erlebnissen und Urteilen namhafter Zeit¬
genossen", die Alfred Graf unter dem Sammeltitel "Schülerjahre" veröffentlicht hat
(Berlin-Schöneberg 1912, Verlag "Fortschritt"). Es ist nach dem Gesagten gewiß
kein Zufall, daß derjenige, der die eben erwähnte Kritikbedürftigkeit seiner eigenen
Ausführungen in diesem Buche wie aller anderen am klarsten erkannt und am
offensten ausgesprochen hat, ein Historiker ist, der Stuttgarter Archivrat Krauß.
Wer mit soviel Einsicht an die Darstellung seiner Schuleindrücke herantritt,
dem wird man auch gerne zuhören, wenn er die Zustände seiner und unserer
Zeit beurteilt. Gar viele andere aber entnehmen aus dem Bilde ihrer Schul¬
jahre, wie es sich ihnen -- sei es unter dem Einfluß schwerer Verbitterung,
sei es unter dem verschönernder Jugendromantik -- darstellt, das Recht zu
kecker Anklage oder zu schwärmerischer Verherrlichung ihrer Schulzeit.

Im ganzen hat man den Eindruck, daß die Fähigkeit zur Selbstkritik und
zur Beurteilung anderer, namentlich wenn es sich um das Verhältnis des
Schülers zum Lehrer handelt, bei manchem der Gewährsmänner Graff in
befremdlicher Weise fehlt; wie könnte sich z. B. sonst der erste Schuljungenhaß
gegen die "tückischen, von Neid gequälten, schadenfrohen Idioten", wie einer
seine Lehrer nennt, in die reifen Jahre hinein erhalten haben. Selbst wenn
ein Schüler mit seinen Lehrern, unter denen es gewiß auch häßliche, bittere,
mißtrauische Naturen gibt, schlechte Erfahrungen gemacht hat --: ist er einmal
der Schule entwachsen, so sollte er sie bald anders einschätzen, vielleicht als
Gewordene verstehen, zum Teil etwa gar als Produkte ihrer schlimmen Berufs¬
erfahrungen.

Und doch, bei allen schwerwiegenden Subjektivitäten, ist es ein wertvolles
Buch, von dem wir hier reden, und man kann dem Herausgeber dankbar dafür
sein. Es ist außer für die objektiven Tatsachen des Schulbetriebs in den ver¬
schiedensten Teilen Deutschlands auch ganz besonders für die Psychologie der
"namhaften" von zweifellosen Quellenwert. Es kann hier nur im Vorüber¬
gehen darauf hingewiesen werden, wie sie auf die Umfrage in so charakteristischer
Weise verschieden reagiert haben: kühl zurückhaltend mit kurzen Notizen oder
durch breite Darlegungen, durch ein mehr oder minder geistreiches Aper?u oder
in bedächtiger, abgewogener Weise, im Bewußtsein überlegener Urteilsfähigkeit
oder in temperamentvoller Anklage.

Das eine ist jedenfalls aus dem Buche zu entnehmen: daß die Meinungen
der "namhaften" über Ziel und Mittel etwaiger Reformen noch durchaus
widereinander laufen. Infolgedessen kann man durch geschickte Auswahl und
Gruppierung von Stimmen aus dem Grasschen Buche alles beweisen: die
Berechtigung des humanistischen Gymnasiums und die Nützlichkeit seiner
Beseitigung, die Wichtigkeit der Organisation und die überwiegende Bedeutung
der Persönlichkeit, die Notwendigkeit, dem Schüler universale Kenntnisse zu über¬
mitteln, und die relativ geringe Bedeutung des auf der Schule Gelernten.
Unter diesen Umständen können alle Folgerungen, die sich auf die Aussagen


Schülerjahre

vielfach Aufsehen erregt hat, in den „Erlebnissen und Urteilen namhafter Zeit¬
genossen", die Alfred Graf unter dem Sammeltitel „Schülerjahre" veröffentlicht hat
(Berlin-Schöneberg 1912, Verlag „Fortschritt"). Es ist nach dem Gesagten gewiß
kein Zufall, daß derjenige, der die eben erwähnte Kritikbedürftigkeit seiner eigenen
Ausführungen in diesem Buche wie aller anderen am klarsten erkannt und am
offensten ausgesprochen hat, ein Historiker ist, der Stuttgarter Archivrat Krauß.
Wer mit soviel Einsicht an die Darstellung seiner Schuleindrücke herantritt,
dem wird man auch gerne zuhören, wenn er die Zustände seiner und unserer
Zeit beurteilt. Gar viele andere aber entnehmen aus dem Bilde ihrer Schul¬
jahre, wie es sich ihnen — sei es unter dem Einfluß schwerer Verbitterung,
sei es unter dem verschönernder Jugendromantik — darstellt, das Recht zu
kecker Anklage oder zu schwärmerischer Verherrlichung ihrer Schulzeit.

Im ganzen hat man den Eindruck, daß die Fähigkeit zur Selbstkritik und
zur Beurteilung anderer, namentlich wenn es sich um das Verhältnis des
Schülers zum Lehrer handelt, bei manchem der Gewährsmänner Graff in
befremdlicher Weise fehlt; wie könnte sich z. B. sonst der erste Schuljungenhaß
gegen die „tückischen, von Neid gequälten, schadenfrohen Idioten", wie einer
seine Lehrer nennt, in die reifen Jahre hinein erhalten haben. Selbst wenn
ein Schüler mit seinen Lehrern, unter denen es gewiß auch häßliche, bittere,
mißtrauische Naturen gibt, schlechte Erfahrungen gemacht hat —: ist er einmal
der Schule entwachsen, so sollte er sie bald anders einschätzen, vielleicht als
Gewordene verstehen, zum Teil etwa gar als Produkte ihrer schlimmen Berufs¬
erfahrungen.

Und doch, bei allen schwerwiegenden Subjektivitäten, ist es ein wertvolles
Buch, von dem wir hier reden, und man kann dem Herausgeber dankbar dafür
sein. Es ist außer für die objektiven Tatsachen des Schulbetriebs in den ver¬
schiedensten Teilen Deutschlands auch ganz besonders für die Psychologie der
„namhaften" von zweifellosen Quellenwert. Es kann hier nur im Vorüber¬
gehen darauf hingewiesen werden, wie sie auf die Umfrage in so charakteristischer
Weise verschieden reagiert haben: kühl zurückhaltend mit kurzen Notizen oder
durch breite Darlegungen, durch ein mehr oder minder geistreiches Aper?u oder
in bedächtiger, abgewogener Weise, im Bewußtsein überlegener Urteilsfähigkeit
oder in temperamentvoller Anklage.

Das eine ist jedenfalls aus dem Buche zu entnehmen: daß die Meinungen
der „namhaften" über Ziel und Mittel etwaiger Reformen noch durchaus
widereinander laufen. Infolgedessen kann man durch geschickte Auswahl und
Gruppierung von Stimmen aus dem Grasschen Buche alles beweisen: die
Berechtigung des humanistischen Gymnasiums und die Nützlichkeit seiner
Beseitigung, die Wichtigkeit der Organisation und die überwiegende Bedeutung
der Persönlichkeit, die Notwendigkeit, dem Schüler universale Kenntnisse zu über¬
mitteln, und die relativ geringe Bedeutung des auf der Schule Gelernten.
Unter diesen Umständen können alle Folgerungen, die sich auf die Aussagen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/75>, abgerufen am 01.07.2024.