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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Wirtschaftsleben bemerkbar machen, dessen Industrie an zweiter, dessen Handels¬
schiffahrt an erster Stelle in der Welt marschiert. Die bevorstehende Konjunktur
ausnutzen heißt aber noch lange nicht sich ihrem Strom willenlos hingeben,
letzteres bedeutete tatsächlich den Anfang vom Ende und gerade in dieser Be¬
ziehung darf man zur Reichsregierung Vertrauen fassen.

Die Lage im Mittelmeer ist einstweilen noch ziemlich undurchsichtig.
Sicher ist nur, daß einerseits Friedensverhandlungen schweben und anderseits
auf der Balkanhalbinsel eine bedrohliche Unrnhe unter den Malissoren, Maze¬
doniern und Albanien: herrscht; ebenso sicher ist ferner, daß alle möglichen
Personagen die Gelegenheit für günstig halten in: Trüben zu fischen; zu diesen
letzteren gehören vor allen Dingen die Protektoren des neu erwachten Gedankens
eines Balkan-Dreibundes und des Gedankens einer französisch-italienischen
Mittelmeerkonvention, also: die Herren vom Dreiverbande.

Über den gegenwärtigen Stand der Friedensverhandlungen läßt sich
bestimmtes nicht sagen. Was davon seitens der französischen Presse verbreitet
wurde, hat sich als Schwindel erwiesen; -- zu deutsch: ballon ä'essa^. Im
übrigen sind die Grundfragen der Verhandlungen in der Schweiz jeden: bekannt,
der die Vorgeschichte des Tripoliskrieges kennt und der weiß, welche Triumphe
die Gegner gegeneinander auszuspielen vermögen. Italien steht im allge¬
meinen besser da, als die Türkei. Abgesehen von den besetzten Küsten
und Inseln, verfügt Italien über den Trumpf "Dreibund". Deutschland
und Österreich-Ungarn haben ein viel größeres Interesse daran, wenn in
Tripolis und seinem Hinterkante eine starke befreundete Macht herrscht,
als eine schwache befreundete. Italien wird Tripolis stets gegen französische
und englische Gelüste verteidigen können, nicht die Türkei, die nach den kaum
überstandenen inneren Umwälzungen erst am Anfange eines nur langsam ein¬
setzenden Konsolidierungsprozesses steht. Am Goldenen Horn hat man denn
auch schon längst eingesehen, daß die Abtretung von Tripolitanien eine gewisse
Entlastung für die Zentralregierung bedeuten würde, wenn auch hier und da
noch die Hoffnung genährt wird, die Italiener doch schließlich aus Tripolis
hinauswerfen zu können. Vor allen Dingen sind es die Araber, die der
türkischen Regierung das Rückgrat gegen Italiens Diplomatie stärken. Ihre
Haltung und die Tatsache, daß man weder in der europäischen noch in der
asiatischen Türkei Nachteile des Krieges verspürt, läßt die Türken immer
noch zögern, Frieden zu schließen. Seit Ausbruch des Krieges macht
sich allerorten in Handel und Wandel eine erhebliche Belebung bemerk¬
bar, so daß die türkischen Finanzen kaum in Mitleidenschaft gezogen
werden. Mir will es scheinen, als überschätzten die Türken die Bedeutung
beider Momente. In allen wenig entwickelten Ländern, mit so reichen
ungenutzter Naturschätzen wie die Türkei bringt ein Krieg an fernen Grenzen
wirtschaftliche Belebung. Dieselbe Erscheinung haben wir 1904/ö auch in
Rußland beobachtet; sie zu erklären verbietet mir leider der zur Verfügung


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Wirtschaftsleben bemerkbar machen, dessen Industrie an zweiter, dessen Handels¬
schiffahrt an erster Stelle in der Welt marschiert. Die bevorstehende Konjunktur
ausnutzen heißt aber noch lange nicht sich ihrem Strom willenlos hingeben,
letzteres bedeutete tatsächlich den Anfang vom Ende und gerade in dieser Be¬
ziehung darf man zur Reichsregierung Vertrauen fassen.

Die Lage im Mittelmeer ist einstweilen noch ziemlich undurchsichtig.
Sicher ist nur, daß einerseits Friedensverhandlungen schweben und anderseits
auf der Balkanhalbinsel eine bedrohliche Unrnhe unter den Malissoren, Maze¬
doniern und Albanien: herrscht; ebenso sicher ist ferner, daß alle möglichen
Personagen die Gelegenheit für günstig halten in: Trüben zu fischen; zu diesen
letzteren gehören vor allen Dingen die Protektoren des neu erwachten Gedankens
eines Balkan-Dreibundes und des Gedankens einer französisch-italienischen
Mittelmeerkonvention, also: die Herren vom Dreiverbande.

Über den gegenwärtigen Stand der Friedensverhandlungen läßt sich
bestimmtes nicht sagen. Was davon seitens der französischen Presse verbreitet
wurde, hat sich als Schwindel erwiesen; — zu deutsch: ballon ä'essa^. Im
übrigen sind die Grundfragen der Verhandlungen in der Schweiz jeden: bekannt,
der die Vorgeschichte des Tripoliskrieges kennt und der weiß, welche Triumphe
die Gegner gegeneinander auszuspielen vermögen. Italien steht im allge¬
meinen besser da, als die Türkei. Abgesehen von den besetzten Küsten
und Inseln, verfügt Italien über den Trumpf „Dreibund". Deutschland
und Österreich-Ungarn haben ein viel größeres Interesse daran, wenn in
Tripolis und seinem Hinterkante eine starke befreundete Macht herrscht,
als eine schwache befreundete. Italien wird Tripolis stets gegen französische
und englische Gelüste verteidigen können, nicht die Türkei, die nach den kaum
überstandenen inneren Umwälzungen erst am Anfange eines nur langsam ein¬
setzenden Konsolidierungsprozesses steht. Am Goldenen Horn hat man denn
auch schon längst eingesehen, daß die Abtretung von Tripolitanien eine gewisse
Entlastung für die Zentralregierung bedeuten würde, wenn auch hier und da
noch die Hoffnung genährt wird, die Italiener doch schließlich aus Tripolis
hinauswerfen zu können. Vor allen Dingen sind es die Araber, die der
türkischen Regierung das Rückgrat gegen Italiens Diplomatie stärken. Ihre
Haltung und die Tatsache, daß man weder in der europäischen noch in der
asiatischen Türkei Nachteile des Krieges verspürt, läßt die Türken immer
noch zögern, Frieden zu schließen. Seit Ausbruch des Krieges macht
sich allerorten in Handel und Wandel eine erhebliche Belebung bemerk¬
bar, so daß die türkischen Finanzen kaum in Mitleidenschaft gezogen
werden. Mir will es scheinen, als überschätzten die Türken die Bedeutung
beider Momente. In allen wenig entwickelten Ländern, mit so reichen
ungenutzter Naturschätzen wie die Türkei bringt ein Krieg an fernen Grenzen
wirtschaftliche Belebung. Dieselbe Erscheinung haben wir 1904/ö auch in
Rußland beobachtet; sie zu erklären verbietet mir leider der zur Verfügung


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[0646] Reichssxieg^l Wirtschaftsleben bemerkbar machen, dessen Industrie an zweiter, dessen Handels¬ schiffahrt an erster Stelle in der Welt marschiert. Die bevorstehende Konjunktur ausnutzen heißt aber noch lange nicht sich ihrem Strom willenlos hingeben, letzteres bedeutete tatsächlich den Anfang vom Ende und gerade in dieser Be¬ ziehung darf man zur Reichsregierung Vertrauen fassen. Die Lage im Mittelmeer ist einstweilen noch ziemlich undurchsichtig. Sicher ist nur, daß einerseits Friedensverhandlungen schweben und anderseits auf der Balkanhalbinsel eine bedrohliche Unrnhe unter den Malissoren, Maze¬ doniern und Albanien: herrscht; ebenso sicher ist ferner, daß alle möglichen Personagen die Gelegenheit für günstig halten in: Trüben zu fischen; zu diesen letzteren gehören vor allen Dingen die Protektoren des neu erwachten Gedankens eines Balkan-Dreibundes und des Gedankens einer französisch-italienischen Mittelmeerkonvention, also: die Herren vom Dreiverbande. Über den gegenwärtigen Stand der Friedensverhandlungen läßt sich bestimmtes nicht sagen. Was davon seitens der französischen Presse verbreitet wurde, hat sich als Schwindel erwiesen; — zu deutsch: ballon ä'essa^. Im übrigen sind die Grundfragen der Verhandlungen in der Schweiz jeden: bekannt, der die Vorgeschichte des Tripoliskrieges kennt und der weiß, welche Triumphe die Gegner gegeneinander auszuspielen vermögen. Italien steht im allge¬ meinen besser da, als die Türkei. Abgesehen von den besetzten Küsten und Inseln, verfügt Italien über den Trumpf „Dreibund". Deutschland und Österreich-Ungarn haben ein viel größeres Interesse daran, wenn in Tripolis und seinem Hinterkante eine starke befreundete Macht herrscht, als eine schwache befreundete. Italien wird Tripolis stets gegen französische und englische Gelüste verteidigen können, nicht die Türkei, die nach den kaum überstandenen inneren Umwälzungen erst am Anfange eines nur langsam ein¬ setzenden Konsolidierungsprozesses steht. Am Goldenen Horn hat man denn auch schon längst eingesehen, daß die Abtretung von Tripolitanien eine gewisse Entlastung für die Zentralregierung bedeuten würde, wenn auch hier und da noch die Hoffnung genährt wird, die Italiener doch schließlich aus Tripolis hinauswerfen zu können. Vor allen Dingen sind es die Araber, die der türkischen Regierung das Rückgrat gegen Italiens Diplomatie stärken. Ihre Haltung und die Tatsache, daß man weder in der europäischen noch in der asiatischen Türkei Nachteile des Krieges verspürt, läßt die Türken immer noch zögern, Frieden zu schließen. Seit Ausbruch des Krieges macht sich allerorten in Handel und Wandel eine erhebliche Belebung bemerk¬ bar, so daß die türkischen Finanzen kaum in Mitleidenschaft gezogen werden. Mir will es scheinen, als überschätzten die Türken die Bedeutung beider Momente. In allen wenig entwickelten Ländern, mit so reichen ungenutzter Naturschätzen wie die Türkei bringt ein Krieg an fernen Grenzen wirtschaftliche Belebung. Dieselbe Erscheinung haben wir 1904/ö auch in Rußland beobachtet; sie zu erklären verbietet mir leider der zur Verfügung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/646>, abgerufen am 22.07.2024.