Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Rcichsspiegel

modus der erzeugten Güter. Dieser Vorgang gibt den an der Produktion und
Güterverteilung beteiligten Massen von Arbeitern und Angestellten ein Soli¬
daritätsgefühl, das heute nur noch stärker werden kann, mögen die Sozialdemo¬
kraten noch so große Torheiten begehen. Von diesem natürlichen Zusammen¬
gehörigkeitsgefühl werden die Landwirte durch die Mittelstandspolitiker künstlich
zurückgehalten und sie werden gegenüber jenen Massen isoliert, wenn sie sich
nicht entschließen, aus dem Entwicklungsprozeß der Wirtschaft Nutzen sür sich zu
ziehen. Die Mittelstandspolitiker aus der konservativen Partei übersehen, daß die
wirtschaftliche Isolierung der Landwirte notgedrungen eine politische zur
Folge haben muß. Schon längst ist das Wort von den "Agrarischen Mono¬
polisten, die das Volk bewundern", gefallen und doch können wir uns überzeugt
halten, daß diese "Bewucherung" durchaus nicht vorwiegend den Landwirten
zugute kommt, sondern gerade den Kreisen, die in der Mittelstandsvereinigung von
Konservativen und Liberalen gestützt werden sollen. Die Landwirte haben somit
weder als Unternehmer noch als Angehörige der konservativen Partei ein Interesse an
der Erhaltung des alten Mittelstandes, weil die Identifizierung beider Interessen sie
in Gegensatz zum neuen Mittelstande, also auch in Gegensatz zu den Staatsbeamten
bringt, die als reiner Konsumentenstand billige Wohnung und Nahrungsmittel fordern
und letztere nehmen, wo sie sie bekommen: bei den Warmhäusern. Die politische
Konsequenz solcher ins Auge fallenden Tatsachen ist das dritte, was auch vom
Bunde der Landwirte übersehen wird. Man kann die Sozialdemokratie nicht
bekämpfen, wenn man die Volkswirtschaft so leitet, daß die Bevölkerung der
Städte wirtschaftlich nur beim Großkapital, politisch nur bei der Masse das findet,
was sie braucht.

Solche Ziele ins Auge zu fassen, sollte auch der Verlauf des Sozial¬
demokratischen Parteitages zu Chemnitz nicht hindern. Der Sieg der
Radikalen über die Revisionisten ist nur eine Verschleierung der tatsächlich vor¬
handenen tiefen Gärung innerhalb der Partei. Die radikalen Theoretiker glauben
angesichts des rapiden Aufschwunges, den die Weltwirtschaft genommen hat, dies
sei nunmehr die allerletzte Kraftäußerung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung,
nach dieser Hochkonjunktur müsse der Kessel platzen. In Chemnitz hat wieder einmal
die Kladderadatschtheorie gesiegt und so darf über dem Parteitage zur Tages¬
ordnung übergegangen werden von allen denen, die sich stark genug fühlen die
Wirtschaft gesund zu erhalten.




Wir können in der Tat mit einem neuerlichen Aufwärtstrieb unseres
Wirtschaftslebens rechnen. Die Weltwirtschaft hat allerorten neue Impulse
erhalten: China, Innerasien, Persien erwachen; in Indien ist durch Verlegung
der Negierung von Kalkutta ins Innere eine neue Wirtschaftsepoche eingeleitet;
am Mittelmeer bereitet man sich zum Frieden, nach dessen Abschluß mancherlei
Schäden zu heilen sein dürften. Das alles muß sich auch für Deutschlands


Rcichsspiegel

modus der erzeugten Güter. Dieser Vorgang gibt den an der Produktion und
Güterverteilung beteiligten Massen von Arbeitern und Angestellten ein Soli¬
daritätsgefühl, das heute nur noch stärker werden kann, mögen die Sozialdemo¬
kraten noch so große Torheiten begehen. Von diesem natürlichen Zusammen¬
gehörigkeitsgefühl werden die Landwirte durch die Mittelstandspolitiker künstlich
zurückgehalten und sie werden gegenüber jenen Massen isoliert, wenn sie sich
nicht entschließen, aus dem Entwicklungsprozeß der Wirtschaft Nutzen sür sich zu
ziehen. Die Mittelstandspolitiker aus der konservativen Partei übersehen, daß die
wirtschaftliche Isolierung der Landwirte notgedrungen eine politische zur
Folge haben muß. Schon längst ist das Wort von den „Agrarischen Mono¬
polisten, die das Volk bewundern", gefallen und doch können wir uns überzeugt
halten, daß diese „Bewucherung" durchaus nicht vorwiegend den Landwirten
zugute kommt, sondern gerade den Kreisen, die in der Mittelstandsvereinigung von
Konservativen und Liberalen gestützt werden sollen. Die Landwirte haben somit
weder als Unternehmer noch als Angehörige der konservativen Partei ein Interesse an
der Erhaltung des alten Mittelstandes, weil die Identifizierung beider Interessen sie
in Gegensatz zum neuen Mittelstande, also auch in Gegensatz zu den Staatsbeamten
bringt, die als reiner Konsumentenstand billige Wohnung und Nahrungsmittel fordern
und letztere nehmen, wo sie sie bekommen: bei den Warmhäusern. Die politische
Konsequenz solcher ins Auge fallenden Tatsachen ist das dritte, was auch vom
Bunde der Landwirte übersehen wird. Man kann die Sozialdemokratie nicht
bekämpfen, wenn man die Volkswirtschaft so leitet, daß die Bevölkerung der
Städte wirtschaftlich nur beim Großkapital, politisch nur bei der Masse das findet,
was sie braucht.

Solche Ziele ins Auge zu fassen, sollte auch der Verlauf des Sozial¬
demokratischen Parteitages zu Chemnitz nicht hindern. Der Sieg der
Radikalen über die Revisionisten ist nur eine Verschleierung der tatsächlich vor¬
handenen tiefen Gärung innerhalb der Partei. Die radikalen Theoretiker glauben
angesichts des rapiden Aufschwunges, den die Weltwirtschaft genommen hat, dies
sei nunmehr die allerletzte Kraftäußerung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung,
nach dieser Hochkonjunktur müsse der Kessel platzen. In Chemnitz hat wieder einmal
die Kladderadatschtheorie gesiegt und so darf über dem Parteitage zur Tages¬
ordnung übergegangen werden von allen denen, die sich stark genug fühlen die
Wirtschaft gesund zu erhalten.




Wir können in der Tat mit einem neuerlichen Aufwärtstrieb unseres
Wirtschaftslebens rechnen. Die Weltwirtschaft hat allerorten neue Impulse
erhalten: China, Innerasien, Persien erwachen; in Indien ist durch Verlegung
der Negierung von Kalkutta ins Innere eine neue Wirtschaftsepoche eingeleitet;
am Mittelmeer bereitet man sich zum Frieden, nach dessen Abschluß mancherlei
Schäden zu heilen sein dürften. Das alles muß sich auch für Deutschlands


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0645" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322392"/>
            <fw type="header" place="top"> Rcichsspiegel</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2954" prev="#ID_2953"> modus der erzeugten Güter. Dieser Vorgang gibt den an der Produktion und<lb/>
Güterverteilung beteiligten Massen von Arbeitern und Angestellten ein Soli¬<lb/>
daritätsgefühl, das heute nur noch stärker werden kann, mögen die Sozialdemo¬<lb/>
kraten noch so große Torheiten begehen. Von diesem natürlichen Zusammen¬<lb/>
gehörigkeitsgefühl werden die Landwirte durch die Mittelstandspolitiker künstlich<lb/>
zurückgehalten und sie werden gegenüber jenen Massen isoliert, wenn sie sich<lb/>
nicht entschließen, aus dem Entwicklungsprozeß der Wirtschaft Nutzen sür sich zu<lb/>
ziehen. Die Mittelstandspolitiker aus der konservativen Partei übersehen, daß die<lb/>
wirtschaftliche Isolierung der Landwirte notgedrungen eine politische zur<lb/>
Folge haben muß. Schon längst ist das Wort von den &#x201E;Agrarischen Mono¬<lb/>
polisten, die das Volk bewundern", gefallen und doch können wir uns überzeugt<lb/>
halten, daß diese &#x201E;Bewucherung" durchaus nicht vorwiegend den Landwirten<lb/>
zugute kommt, sondern gerade den Kreisen, die in der Mittelstandsvereinigung von<lb/>
Konservativen und Liberalen gestützt werden sollen. Die Landwirte haben somit<lb/>
weder als Unternehmer noch als Angehörige der konservativen Partei ein Interesse an<lb/>
der Erhaltung des alten Mittelstandes, weil die Identifizierung beider Interessen sie<lb/>
in Gegensatz zum neuen Mittelstande, also auch in Gegensatz zu den Staatsbeamten<lb/>
bringt, die als reiner Konsumentenstand billige Wohnung und Nahrungsmittel fordern<lb/>
und letztere nehmen, wo sie sie bekommen: bei den Warmhäusern. Die politische<lb/>
Konsequenz solcher ins Auge fallenden Tatsachen ist das dritte, was auch vom<lb/>
Bunde der Landwirte übersehen wird. Man kann die Sozialdemokratie nicht<lb/>
bekämpfen, wenn man die Volkswirtschaft so leitet, daß die Bevölkerung der<lb/>
Städte wirtschaftlich nur beim Großkapital, politisch nur bei der Masse das findet,<lb/>
was sie braucht.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2955"> Solche Ziele ins Auge zu fassen, sollte auch der Verlauf des Sozial¬<lb/>
demokratischen Parteitages zu Chemnitz nicht hindern. Der Sieg der<lb/>
Radikalen über die Revisionisten ist nur eine Verschleierung der tatsächlich vor¬<lb/>
handenen tiefen Gärung innerhalb der Partei. Die radikalen Theoretiker glauben<lb/>
angesichts des rapiden Aufschwunges, den die Weltwirtschaft genommen hat, dies<lb/>
sei nunmehr die allerletzte Kraftäußerung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung,<lb/>
nach dieser Hochkonjunktur müsse der Kessel platzen. In Chemnitz hat wieder einmal<lb/>
die Kladderadatschtheorie gesiegt und so darf über dem Parteitage zur Tages¬<lb/>
ordnung übergegangen werden von allen denen, die sich stark genug fühlen die<lb/>
Wirtschaft gesund zu erhalten.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p xml:id="ID_2956" next="#ID_2957"> Wir können in der Tat mit einem neuerlichen Aufwärtstrieb unseres<lb/>
Wirtschaftslebens rechnen. Die Weltwirtschaft hat allerorten neue Impulse<lb/>
erhalten: China, Innerasien, Persien erwachen; in Indien ist durch Verlegung<lb/>
der Negierung von Kalkutta ins Innere eine neue Wirtschaftsepoche eingeleitet;<lb/>
am Mittelmeer bereitet man sich zum Frieden, nach dessen Abschluß mancherlei<lb/>
Schäden zu heilen sein dürften. Das alles muß sich auch für Deutschlands</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0645] Rcichsspiegel modus der erzeugten Güter. Dieser Vorgang gibt den an der Produktion und Güterverteilung beteiligten Massen von Arbeitern und Angestellten ein Soli¬ daritätsgefühl, das heute nur noch stärker werden kann, mögen die Sozialdemo¬ kraten noch so große Torheiten begehen. Von diesem natürlichen Zusammen¬ gehörigkeitsgefühl werden die Landwirte durch die Mittelstandspolitiker künstlich zurückgehalten und sie werden gegenüber jenen Massen isoliert, wenn sie sich nicht entschließen, aus dem Entwicklungsprozeß der Wirtschaft Nutzen sür sich zu ziehen. Die Mittelstandspolitiker aus der konservativen Partei übersehen, daß die wirtschaftliche Isolierung der Landwirte notgedrungen eine politische zur Folge haben muß. Schon längst ist das Wort von den „Agrarischen Mono¬ polisten, die das Volk bewundern", gefallen und doch können wir uns überzeugt halten, daß diese „Bewucherung" durchaus nicht vorwiegend den Landwirten zugute kommt, sondern gerade den Kreisen, die in der Mittelstandsvereinigung von Konservativen und Liberalen gestützt werden sollen. Die Landwirte haben somit weder als Unternehmer noch als Angehörige der konservativen Partei ein Interesse an der Erhaltung des alten Mittelstandes, weil die Identifizierung beider Interessen sie in Gegensatz zum neuen Mittelstande, also auch in Gegensatz zu den Staatsbeamten bringt, die als reiner Konsumentenstand billige Wohnung und Nahrungsmittel fordern und letztere nehmen, wo sie sie bekommen: bei den Warmhäusern. Die politische Konsequenz solcher ins Auge fallenden Tatsachen ist das dritte, was auch vom Bunde der Landwirte übersehen wird. Man kann die Sozialdemokratie nicht bekämpfen, wenn man die Volkswirtschaft so leitet, daß die Bevölkerung der Städte wirtschaftlich nur beim Großkapital, politisch nur bei der Masse das findet, was sie braucht. Solche Ziele ins Auge zu fassen, sollte auch der Verlauf des Sozial¬ demokratischen Parteitages zu Chemnitz nicht hindern. Der Sieg der Radikalen über die Revisionisten ist nur eine Verschleierung der tatsächlich vor¬ handenen tiefen Gärung innerhalb der Partei. Die radikalen Theoretiker glauben angesichts des rapiden Aufschwunges, den die Weltwirtschaft genommen hat, dies sei nunmehr die allerletzte Kraftäußerung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, nach dieser Hochkonjunktur müsse der Kessel platzen. In Chemnitz hat wieder einmal die Kladderadatschtheorie gesiegt und so darf über dem Parteitage zur Tages¬ ordnung übergegangen werden von allen denen, die sich stark genug fühlen die Wirtschaft gesund zu erhalten. Wir können in der Tat mit einem neuerlichen Aufwärtstrieb unseres Wirtschaftslebens rechnen. Die Weltwirtschaft hat allerorten neue Impulse erhalten: China, Innerasien, Persien erwachen; in Indien ist durch Verlegung der Negierung von Kalkutta ins Innere eine neue Wirtschaftsepoche eingeleitet; am Mittelmeer bereitet man sich zum Frieden, nach dessen Abschluß mancherlei Schäden zu heilen sein dürften. Das alles muß sich auch für Deutschlands

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/645
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/645>, abgerufen am 22.07.2024.