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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiogel

Manövern, Fremdenzustrom (mit Hilfe der Schiffahrtsgesellschaften), Bautätigkeit
in den verschiedenen Stadtgegenden, Erschließung von Wohnplätzen, Entstehung
neuer Industrien. Auf der Basis der vorhandenen Viehstatistik und auf Grund
von vierteljährlich oder öfter eingeforderten Mitteilungen der einzelnen Vieh-
und Schweinezüchter über ihre Leistungsfähigkeit ließe sich ohne Zweifel die
Fleischproduktion derart regeln, daß alle Teile zufrieden fein könnten. Den
Landwirten wäre eine gewisse Sicherheit in der Produktion gewährleistet, uns
Konsumenten würde nicht in der unerhörten Weise, wie es jetzt geschieht, das
Fell geschoren und die Regierungen der Bundesstaaten fänden die Möglichkeit beim
Eintritt von Seuchen oder von katastrophalen Naturereignissen Fleisch oder Futter¬
mittel einzuführen zu Nutz und Frommen sowohl der Landwirte wie der Kon¬
sumenten. Die äußeren Schwierigkeiten, die der in weiten Umrissen gekenn¬
zeichneten Organisation entgegenstehen, werden nicht verkannt; sie sind aber bei
dem allgemein hohen Bildungsstande unserer großen und kleinen Landwirte, bei
der Entwicklung der Verkehrsmittel, der Leistungsfähigkeit der Post verhältnismäßig
geringfügig, sobald die Landwirte den guten Willen haben. Indessen darf ein
Umstand nicht unterschätzt werden: die Organisation des direkten Absatzes würde
eine Kontrolle der Lebensmittelpreise durch die Konsumenten nach sich
ziehen, gegen die sich vom Standpunkt der Produzenten mancherlei einwenden
ließe. Dem steht aber die Tatsache gegenüber, daß gegenwärtig schon die Preise
fast aller Jndustrieerzeugnisse durch die Käufer kontrolliert werden und daß
dennoch Industrie und Handel sich gewaltig entwickeln. Also wirtschaftlich
brauchen die Landwirte keine Einbuße zu befürchten; es soll an dieser Stelle
gelegentlich nachgewiesen werden, daß die Herstellung einer direkten Verbindung
zwischen Landwirten und Konsumenten den landwirtschaftlichen Betrieben so viele
Produktionsmöglichkeiten eröffnen würde, wie sie heute kaum erkennbar sind.

Meinen Vorschlag möchte ich darum ganz besonders dem Herrn Landwirt¬
schaftsminister ans Herz legen. Wenn die Anzeichen nicht trügen, soll er für
die Versäumnisse der Regierung in der Fleischversorgungsfrage allein verant¬
wortlich gemacht werden.

Woher der größte Widerstand gegen eine einheitliche Organisation des
Absatzes landwirtschaftlicher Produkte zu erwarten ist, zeigen die Verhandlungen
des Mittelstandstages in der abgelaufenen Woche zu Braunschweig und der
Kommentar, den die Kreuzzeitung dazu gibt. Weder die Mittelstandspolitiker
noch die Deutschkonservativen wollen etwas von Konsumvereinen wissen, weil
diese wirtschaftlich und kulturell dieselbe Wirkung hervorrufen wie die Waren¬
häuser: Zurückdrängung des Individuums, Anhäufung von Angestellten an Stelle
einzelner kleiner Unternehmer und infolgedessen zunehmender Einfluß der
Sozialdemokratie im neuen Mittelstande. Die Mittelstandspolitiker werden
nicht die Kraft haben, die wirtschaftliche Entwicklung aufzuhalten; diese
Entwicklung wird gekennzeichnet durch Konzentration der Produktionsmittel und
Spezialisierung der Produktion, bei gleichzeitiger Zentralisierung des Verteilungs-


Reichsspiogel

Manövern, Fremdenzustrom (mit Hilfe der Schiffahrtsgesellschaften), Bautätigkeit
in den verschiedenen Stadtgegenden, Erschließung von Wohnplätzen, Entstehung
neuer Industrien. Auf der Basis der vorhandenen Viehstatistik und auf Grund
von vierteljährlich oder öfter eingeforderten Mitteilungen der einzelnen Vieh-
und Schweinezüchter über ihre Leistungsfähigkeit ließe sich ohne Zweifel die
Fleischproduktion derart regeln, daß alle Teile zufrieden fein könnten. Den
Landwirten wäre eine gewisse Sicherheit in der Produktion gewährleistet, uns
Konsumenten würde nicht in der unerhörten Weise, wie es jetzt geschieht, das
Fell geschoren und die Regierungen der Bundesstaaten fänden die Möglichkeit beim
Eintritt von Seuchen oder von katastrophalen Naturereignissen Fleisch oder Futter¬
mittel einzuführen zu Nutz und Frommen sowohl der Landwirte wie der Kon¬
sumenten. Die äußeren Schwierigkeiten, die der in weiten Umrissen gekenn¬
zeichneten Organisation entgegenstehen, werden nicht verkannt; sie sind aber bei
dem allgemein hohen Bildungsstande unserer großen und kleinen Landwirte, bei
der Entwicklung der Verkehrsmittel, der Leistungsfähigkeit der Post verhältnismäßig
geringfügig, sobald die Landwirte den guten Willen haben. Indessen darf ein
Umstand nicht unterschätzt werden: die Organisation des direkten Absatzes würde
eine Kontrolle der Lebensmittelpreise durch die Konsumenten nach sich
ziehen, gegen die sich vom Standpunkt der Produzenten mancherlei einwenden
ließe. Dem steht aber die Tatsache gegenüber, daß gegenwärtig schon die Preise
fast aller Jndustrieerzeugnisse durch die Käufer kontrolliert werden und daß
dennoch Industrie und Handel sich gewaltig entwickeln. Also wirtschaftlich
brauchen die Landwirte keine Einbuße zu befürchten; es soll an dieser Stelle
gelegentlich nachgewiesen werden, daß die Herstellung einer direkten Verbindung
zwischen Landwirten und Konsumenten den landwirtschaftlichen Betrieben so viele
Produktionsmöglichkeiten eröffnen würde, wie sie heute kaum erkennbar sind.

Meinen Vorschlag möchte ich darum ganz besonders dem Herrn Landwirt¬
schaftsminister ans Herz legen. Wenn die Anzeichen nicht trügen, soll er für
die Versäumnisse der Regierung in der Fleischversorgungsfrage allein verant¬
wortlich gemacht werden.

Woher der größte Widerstand gegen eine einheitliche Organisation des
Absatzes landwirtschaftlicher Produkte zu erwarten ist, zeigen die Verhandlungen
des Mittelstandstages in der abgelaufenen Woche zu Braunschweig und der
Kommentar, den die Kreuzzeitung dazu gibt. Weder die Mittelstandspolitiker
noch die Deutschkonservativen wollen etwas von Konsumvereinen wissen, weil
diese wirtschaftlich und kulturell dieselbe Wirkung hervorrufen wie die Waren¬
häuser: Zurückdrängung des Individuums, Anhäufung von Angestellten an Stelle
einzelner kleiner Unternehmer und infolgedessen zunehmender Einfluß der
Sozialdemokratie im neuen Mittelstande. Die Mittelstandspolitiker werden
nicht die Kraft haben, die wirtschaftliche Entwicklung aufzuhalten; diese
Entwicklung wird gekennzeichnet durch Konzentration der Produktionsmittel und
Spezialisierung der Produktion, bei gleichzeitiger Zentralisierung des Verteilungs-


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[0644] Reichsspiogel Manövern, Fremdenzustrom (mit Hilfe der Schiffahrtsgesellschaften), Bautätigkeit in den verschiedenen Stadtgegenden, Erschließung von Wohnplätzen, Entstehung neuer Industrien. Auf der Basis der vorhandenen Viehstatistik und auf Grund von vierteljährlich oder öfter eingeforderten Mitteilungen der einzelnen Vieh- und Schweinezüchter über ihre Leistungsfähigkeit ließe sich ohne Zweifel die Fleischproduktion derart regeln, daß alle Teile zufrieden fein könnten. Den Landwirten wäre eine gewisse Sicherheit in der Produktion gewährleistet, uns Konsumenten würde nicht in der unerhörten Weise, wie es jetzt geschieht, das Fell geschoren und die Regierungen der Bundesstaaten fänden die Möglichkeit beim Eintritt von Seuchen oder von katastrophalen Naturereignissen Fleisch oder Futter¬ mittel einzuführen zu Nutz und Frommen sowohl der Landwirte wie der Kon¬ sumenten. Die äußeren Schwierigkeiten, die der in weiten Umrissen gekenn¬ zeichneten Organisation entgegenstehen, werden nicht verkannt; sie sind aber bei dem allgemein hohen Bildungsstande unserer großen und kleinen Landwirte, bei der Entwicklung der Verkehrsmittel, der Leistungsfähigkeit der Post verhältnismäßig geringfügig, sobald die Landwirte den guten Willen haben. Indessen darf ein Umstand nicht unterschätzt werden: die Organisation des direkten Absatzes würde eine Kontrolle der Lebensmittelpreise durch die Konsumenten nach sich ziehen, gegen die sich vom Standpunkt der Produzenten mancherlei einwenden ließe. Dem steht aber die Tatsache gegenüber, daß gegenwärtig schon die Preise fast aller Jndustrieerzeugnisse durch die Käufer kontrolliert werden und daß dennoch Industrie und Handel sich gewaltig entwickeln. Also wirtschaftlich brauchen die Landwirte keine Einbuße zu befürchten; es soll an dieser Stelle gelegentlich nachgewiesen werden, daß die Herstellung einer direkten Verbindung zwischen Landwirten und Konsumenten den landwirtschaftlichen Betrieben so viele Produktionsmöglichkeiten eröffnen würde, wie sie heute kaum erkennbar sind. Meinen Vorschlag möchte ich darum ganz besonders dem Herrn Landwirt¬ schaftsminister ans Herz legen. Wenn die Anzeichen nicht trügen, soll er für die Versäumnisse der Regierung in der Fleischversorgungsfrage allein verant¬ wortlich gemacht werden. Woher der größte Widerstand gegen eine einheitliche Organisation des Absatzes landwirtschaftlicher Produkte zu erwarten ist, zeigen die Verhandlungen des Mittelstandstages in der abgelaufenen Woche zu Braunschweig und der Kommentar, den die Kreuzzeitung dazu gibt. Weder die Mittelstandspolitiker noch die Deutschkonservativen wollen etwas von Konsumvereinen wissen, weil diese wirtschaftlich und kulturell dieselbe Wirkung hervorrufen wie die Waren¬ häuser: Zurückdrängung des Individuums, Anhäufung von Angestellten an Stelle einzelner kleiner Unternehmer und infolgedessen zunehmender Einfluß der Sozialdemokratie im neuen Mittelstande. Die Mittelstandspolitiker werden nicht die Kraft haben, die wirtschaftliche Entwicklung aufzuhalten; diese Entwicklung wird gekennzeichnet durch Konzentration der Produktionsmittel und Spezialisierung der Produktion, bei gleichzeitiger Zentralisierung des Verteilungs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/644>, abgerufen am 22.07.2024.