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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Städtische Musterlichtbildbühucn

Wie groß schon rein intensiv die Einwirkung dieser kinematographischen
Schunddramatik auf das sittliche und ästhetische Empfinden des Volkes sich
gestaltet, geht aus Zahlen hervor, welche die bereits einmal erwähnte Vereinigung
zur Bekämpfung von Schund und Schmutz in Wort und Bild zu Wiesbaden
in ihrer Denkschrift über die Besteuerung der Kinematographentheater zusammen¬
gestellt hat und nach denen etwa 62 Prozent aller Kinodarbietungen sich aus
solchen dramatischen Films, 22 Prozent aus humoristischen und nur 16 Prozent
aus wissenschaftlichen, belehrenden und aktuellen Films zusammensetzen.

Es bedeutet daher eine kulturelle Wohltat, die man dem Volke und der
Gesamtheit erweist, wenn man nicht nur durch eine geeignete Besteuerung die
Masse der produzierten und vorgeführten Schunddramatik vermindert, sondern
auch möglichst viele von den Quellen verschüttet und verstopft, aus denen sie
ins Volk dringt. Und dabei sollen die städtischen Lichtbildbühnen mithelfen,
indem sie durch ganz billige, womöglich durch unentgeltliche Volksvorstellungen
die Massen aus den Kinematographentheatern an sich ziehen, jenen aber die
Lebensadern nach Kräften unterbinden. Das darf man ihnen nicht zum Vor¬
wurf machen, sondern soll es ihnen als Verdienst anrechnen.




Das bei weitem größte Verdienst, das sich städtische Lichtbildbühnen
erwerben können, liegt aber auf einem anderen Gebiete und würde für sich
allein schon ihre Gründung rechtfertigen.

Die städtischen Musterlichtbildbühnen sind berufen, in erster Reihe mit¬
zuarbeiten an der Lösung einer Frage, die jeden ernst Denkenden mit wahrer
Besorgnis erfüllen muß. Es ist die Frage des Verhältnisses zwischen dem
Kinematographen und unserer Jugend.

Wer im Kinematographentheater die Hälfte der Sitzreihen mit Kindern
gefüllt steht und beobachtet, wie diese mit atemloser Spannung den dahin-
huschenden Bildern eines Schauerfilms folgen und alles, alles in sich aufnehmen,
selbst das, wovor der Erwachsene schaudernd die Augen schließt oder von dessen
geschmackloser Scheußlichkeit oder Verlogenheit er sich durch ein Lachen befreit,
dem muß sich das Herz zusammenkrampfen. Ich habe es selbst erlebt, daß
sogar im Publikum bei Gelegenheit eines Bildes, das den Leichnam eines
Selbstmörders, eines Spielers, der sich selbst erschossen hatte, in höchst natura¬
listischer Weise mit blutbesudelter Schläfe zeigte, hier und dort leise Rufe laut
wurden: "Oh, die KinderI" Und was hier bei den Erwachsenen instinktiv zum
Ausdruck kam, das kann jeder Lehrer bestätigt finden, der gelegentlich von
seinen Schülern den Inhalt eines Kinostückes erzählen oder niederschreiben läßt.
Die bedenklichsten und verwerflichsten Geschehnisse kommen da zum Vorschein,
und die Art, wie sie erzählt werden, zeigt, daß das Kind sich mit naiver Freude
am Geschehen kritiklos dem Gegenständlichen und Tatsächlichen des Gebotenen
hingibt und weder nach Gut und Böse, noch nach Schön und Häßlich fragt..


Städtische Musterlichtbildbühucn

Wie groß schon rein intensiv die Einwirkung dieser kinematographischen
Schunddramatik auf das sittliche und ästhetische Empfinden des Volkes sich
gestaltet, geht aus Zahlen hervor, welche die bereits einmal erwähnte Vereinigung
zur Bekämpfung von Schund und Schmutz in Wort und Bild zu Wiesbaden
in ihrer Denkschrift über die Besteuerung der Kinematographentheater zusammen¬
gestellt hat und nach denen etwa 62 Prozent aller Kinodarbietungen sich aus
solchen dramatischen Films, 22 Prozent aus humoristischen und nur 16 Prozent
aus wissenschaftlichen, belehrenden und aktuellen Films zusammensetzen.

Es bedeutet daher eine kulturelle Wohltat, die man dem Volke und der
Gesamtheit erweist, wenn man nicht nur durch eine geeignete Besteuerung die
Masse der produzierten und vorgeführten Schunddramatik vermindert, sondern
auch möglichst viele von den Quellen verschüttet und verstopft, aus denen sie
ins Volk dringt. Und dabei sollen die städtischen Lichtbildbühnen mithelfen,
indem sie durch ganz billige, womöglich durch unentgeltliche Volksvorstellungen
die Massen aus den Kinematographentheatern an sich ziehen, jenen aber die
Lebensadern nach Kräften unterbinden. Das darf man ihnen nicht zum Vor¬
wurf machen, sondern soll es ihnen als Verdienst anrechnen.




Das bei weitem größte Verdienst, das sich städtische Lichtbildbühnen
erwerben können, liegt aber auf einem anderen Gebiete und würde für sich
allein schon ihre Gründung rechtfertigen.

Die städtischen Musterlichtbildbühnen sind berufen, in erster Reihe mit¬
zuarbeiten an der Lösung einer Frage, die jeden ernst Denkenden mit wahrer
Besorgnis erfüllen muß. Es ist die Frage des Verhältnisses zwischen dem
Kinematographen und unserer Jugend.

Wer im Kinematographentheater die Hälfte der Sitzreihen mit Kindern
gefüllt steht und beobachtet, wie diese mit atemloser Spannung den dahin-
huschenden Bildern eines Schauerfilms folgen und alles, alles in sich aufnehmen,
selbst das, wovor der Erwachsene schaudernd die Augen schließt oder von dessen
geschmackloser Scheußlichkeit oder Verlogenheit er sich durch ein Lachen befreit,
dem muß sich das Herz zusammenkrampfen. Ich habe es selbst erlebt, daß
sogar im Publikum bei Gelegenheit eines Bildes, das den Leichnam eines
Selbstmörders, eines Spielers, der sich selbst erschossen hatte, in höchst natura¬
listischer Weise mit blutbesudelter Schläfe zeigte, hier und dort leise Rufe laut
wurden: „Oh, die KinderI" Und was hier bei den Erwachsenen instinktiv zum
Ausdruck kam, das kann jeder Lehrer bestätigt finden, der gelegentlich von
seinen Schülern den Inhalt eines Kinostückes erzählen oder niederschreiben läßt.
Die bedenklichsten und verwerflichsten Geschehnisse kommen da zum Vorschein,
und die Art, wie sie erzählt werden, zeigt, daß das Kind sich mit naiver Freude
am Geschehen kritiklos dem Gegenständlichen und Tatsächlichen des Gebotenen
hingibt und weder nach Gut und Böse, noch nach Schön und Häßlich fragt..


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[0621] Städtische Musterlichtbildbühucn Wie groß schon rein intensiv die Einwirkung dieser kinematographischen Schunddramatik auf das sittliche und ästhetische Empfinden des Volkes sich gestaltet, geht aus Zahlen hervor, welche die bereits einmal erwähnte Vereinigung zur Bekämpfung von Schund und Schmutz in Wort und Bild zu Wiesbaden in ihrer Denkschrift über die Besteuerung der Kinematographentheater zusammen¬ gestellt hat und nach denen etwa 62 Prozent aller Kinodarbietungen sich aus solchen dramatischen Films, 22 Prozent aus humoristischen und nur 16 Prozent aus wissenschaftlichen, belehrenden und aktuellen Films zusammensetzen. Es bedeutet daher eine kulturelle Wohltat, die man dem Volke und der Gesamtheit erweist, wenn man nicht nur durch eine geeignete Besteuerung die Masse der produzierten und vorgeführten Schunddramatik vermindert, sondern auch möglichst viele von den Quellen verschüttet und verstopft, aus denen sie ins Volk dringt. Und dabei sollen die städtischen Lichtbildbühnen mithelfen, indem sie durch ganz billige, womöglich durch unentgeltliche Volksvorstellungen die Massen aus den Kinematographentheatern an sich ziehen, jenen aber die Lebensadern nach Kräften unterbinden. Das darf man ihnen nicht zum Vor¬ wurf machen, sondern soll es ihnen als Verdienst anrechnen. Das bei weitem größte Verdienst, das sich städtische Lichtbildbühnen erwerben können, liegt aber auf einem anderen Gebiete und würde für sich allein schon ihre Gründung rechtfertigen. Die städtischen Musterlichtbildbühnen sind berufen, in erster Reihe mit¬ zuarbeiten an der Lösung einer Frage, die jeden ernst Denkenden mit wahrer Besorgnis erfüllen muß. Es ist die Frage des Verhältnisses zwischen dem Kinematographen und unserer Jugend. Wer im Kinematographentheater die Hälfte der Sitzreihen mit Kindern gefüllt steht und beobachtet, wie diese mit atemloser Spannung den dahin- huschenden Bildern eines Schauerfilms folgen und alles, alles in sich aufnehmen, selbst das, wovor der Erwachsene schaudernd die Augen schließt oder von dessen geschmackloser Scheußlichkeit oder Verlogenheit er sich durch ein Lachen befreit, dem muß sich das Herz zusammenkrampfen. Ich habe es selbst erlebt, daß sogar im Publikum bei Gelegenheit eines Bildes, das den Leichnam eines Selbstmörders, eines Spielers, der sich selbst erschossen hatte, in höchst natura¬ listischer Weise mit blutbesudelter Schläfe zeigte, hier und dort leise Rufe laut wurden: „Oh, die KinderI" Und was hier bei den Erwachsenen instinktiv zum Ausdruck kam, das kann jeder Lehrer bestätigt finden, der gelegentlich von seinen Schülern den Inhalt eines Kinostückes erzählen oder niederschreiben läßt. Die bedenklichsten und verwerflichsten Geschehnisse kommen da zum Vorschein, und die Art, wie sie erzählt werden, zeigt, daß das Kind sich mit naiver Freude am Geschehen kritiklos dem Gegenständlichen und Tatsächlichen des Gebotenen hingibt und weder nach Gut und Böse, noch nach Schön und Häßlich fragt..

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/621>, abgerufen am 22.07.2024.