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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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das kann man erst dann richtig ermessen, wenn man den absoluten Tief¬
stand des heutigen Kinematographenwesens, namentlich der Filmindustrie ins
Auge faßt').

Was heute an sogenannter Filmdramatik von der Industrie erzeugt und
von den Kinematographentheatern dem Publikum vorgeführt wird, das steht auf
einer ebenso tiefen Kulturstufe wie die Erzeugnisse der Schundliteratur und übt
auch auf das Volk eine ebenso schlimme Wirkung aus, ja eine noch schlimmere,
weil der kinematographische Apparat alles das mit unvergleichlich größerer
Anschaulichkeit vorführt, was die Schundliteratur mit Hilfe von Worten nur in
der Vorstellung lebendig zu machen vermag. Vor allem ist der stoffliche Inhalt
der Filmdramen ein außerordentlich minderwertiger. Hier stehen sich fleckenlose
Unschuld und schwärzestes Verbrechertum in absolutem Kontraste gegenüber, ja
man ist sehr geneigt, nicht nur dem Gewaltverbrecher, sondern auch dem sittlichen
Verbrecher das Mäntelchen der Romantik als Ausputz umzuhängen. Und wo
das nicht der Fall ist, da wo der Verbrecher wirklich als das hingestellt wird,
was er ist, da muß eine absichtliche und grobe Häufung des Krassen nach der
guten und bösen Seite, eine faustdicke Naturalistil an die Stelle treten: man
schreckt vor der naturalistischen Wiedergabe eines Mordes oder Selbstmordes,
einer Hinrichtungsszene nicht zurück und erhebt sich in nichts über den Geschmack
und die Tendenz, die in der Schundliteratur herrscht.

Man kann die Zusammenstellung und Vergleichung von Schundliteratur
und kinematographischer Schunddramatik noch ein ganzes Stück fortsetzen. Wie
dort so kommt auch hier nicht nur der Trieb zum roh Stofflichen und sensa¬
tionellen, sondern auch die Lüsternheit, die gern erotische und sexuelle Probleme
umschnüffelt, auf ihre Rechnung. Die französische Industrie hat den zweifelhaften
Ruhm, auch hier die ersten Schritte zur Befriedigung des Massengeschmackes
getan und die ersten Anfänge des "Sittenstückes" geschaffen zu haben, und von
der dänischen Industrie ist dann dieser Zweig der kinematographischen Dramatik
übernommen und zu ungeahnter "Vollendung" geführt worden. Dänische
Firmen wissen das Gesellschafts- und das Sitten-, besser Unsittendrama mit
solcher Raffiniertheit psychologisch einigermaßen glaubhaft, für die Zensur un¬
anfechtbar und dennoch für die niedrigen Instinkte lockend zu gestalten, daß
dieser Zweig der kinematographischen Schunddramatik heutzutage die größte
Gefahr für die Geschmacksbildung und die ethischen Grundsätze des Publikums
bildet, zumal diejenige Industrie, die als jüngste auf dem Schauplatze des
Konkurrenzkampfes erschienen ist, die deutsche, leider gerade diesen Zweig der
Filmdramatik aufgenommen hat. Sie aber verzichtet völlig auf eine psycholo¬
gische Motivierung ^der Geschehnisse und versucht das, was ihr dadurch abgeht,
durch eine rein stoffliche Häufung des sensationellen und sittlich Bedenklichen
zu ersetzen.



") Vgl. meinen Aufsatz "Vom Geschmack der Völker". Grenzboten 1912 Heft 6.
Städtische Musterlichtbildbühnen

das kann man erst dann richtig ermessen, wenn man den absoluten Tief¬
stand des heutigen Kinematographenwesens, namentlich der Filmindustrie ins
Auge faßt').

Was heute an sogenannter Filmdramatik von der Industrie erzeugt und
von den Kinematographentheatern dem Publikum vorgeführt wird, das steht auf
einer ebenso tiefen Kulturstufe wie die Erzeugnisse der Schundliteratur und übt
auch auf das Volk eine ebenso schlimme Wirkung aus, ja eine noch schlimmere,
weil der kinematographische Apparat alles das mit unvergleichlich größerer
Anschaulichkeit vorführt, was die Schundliteratur mit Hilfe von Worten nur in
der Vorstellung lebendig zu machen vermag. Vor allem ist der stoffliche Inhalt
der Filmdramen ein außerordentlich minderwertiger. Hier stehen sich fleckenlose
Unschuld und schwärzestes Verbrechertum in absolutem Kontraste gegenüber, ja
man ist sehr geneigt, nicht nur dem Gewaltverbrecher, sondern auch dem sittlichen
Verbrecher das Mäntelchen der Romantik als Ausputz umzuhängen. Und wo
das nicht der Fall ist, da wo der Verbrecher wirklich als das hingestellt wird,
was er ist, da muß eine absichtliche und grobe Häufung des Krassen nach der
guten und bösen Seite, eine faustdicke Naturalistil an die Stelle treten: man
schreckt vor der naturalistischen Wiedergabe eines Mordes oder Selbstmordes,
einer Hinrichtungsszene nicht zurück und erhebt sich in nichts über den Geschmack
und die Tendenz, die in der Schundliteratur herrscht.

Man kann die Zusammenstellung und Vergleichung von Schundliteratur
und kinematographischer Schunddramatik noch ein ganzes Stück fortsetzen. Wie
dort so kommt auch hier nicht nur der Trieb zum roh Stofflichen und sensa¬
tionellen, sondern auch die Lüsternheit, die gern erotische und sexuelle Probleme
umschnüffelt, auf ihre Rechnung. Die französische Industrie hat den zweifelhaften
Ruhm, auch hier die ersten Schritte zur Befriedigung des Massengeschmackes
getan und die ersten Anfänge des „Sittenstückes" geschaffen zu haben, und von
der dänischen Industrie ist dann dieser Zweig der kinematographischen Dramatik
übernommen und zu ungeahnter „Vollendung" geführt worden. Dänische
Firmen wissen das Gesellschafts- und das Sitten-, besser Unsittendrama mit
solcher Raffiniertheit psychologisch einigermaßen glaubhaft, für die Zensur un¬
anfechtbar und dennoch für die niedrigen Instinkte lockend zu gestalten, daß
dieser Zweig der kinematographischen Schunddramatik heutzutage die größte
Gefahr für die Geschmacksbildung und die ethischen Grundsätze des Publikums
bildet, zumal diejenige Industrie, die als jüngste auf dem Schauplatze des
Konkurrenzkampfes erschienen ist, die deutsche, leider gerade diesen Zweig der
Filmdramatik aufgenommen hat. Sie aber verzichtet völlig auf eine psycholo¬
gische Motivierung ^der Geschehnisse und versucht das, was ihr dadurch abgeht,
durch eine rein stoffliche Häufung des sensationellen und sittlich Bedenklichen
zu ersetzen.



«) Vgl. meinen Aufsatz „Vom Geschmack der Völker". Grenzboten 1912 Heft 6.
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[0620] Städtische Musterlichtbildbühnen das kann man erst dann richtig ermessen, wenn man den absoluten Tief¬ stand des heutigen Kinematographenwesens, namentlich der Filmindustrie ins Auge faßt'). Was heute an sogenannter Filmdramatik von der Industrie erzeugt und von den Kinematographentheatern dem Publikum vorgeführt wird, das steht auf einer ebenso tiefen Kulturstufe wie die Erzeugnisse der Schundliteratur und übt auch auf das Volk eine ebenso schlimme Wirkung aus, ja eine noch schlimmere, weil der kinematographische Apparat alles das mit unvergleichlich größerer Anschaulichkeit vorführt, was die Schundliteratur mit Hilfe von Worten nur in der Vorstellung lebendig zu machen vermag. Vor allem ist der stoffliche Inhalt der Filmdramen ein außerordentlich minderwertiger. Hier stehen sich fleckenlose Unschuld und schwärzestes Verbrechertum in absolutem Kontraste gegenüber, ja man ist sehr geneigt, nicht nur dem Gewaltverbrecher, sondern auch dem sittlichen Verbrecher das Mäntelchen der Romantik als Ausputz umzuhängen. Und wo das nicht der Fall ist, da wo der Verbrecher wirklich als das hingestellt wird, was er ist, da muß eine absichtliche und grobe Häufung des Krassen nach der guten und bösen Seite, eine faustdicke Naturalistil an die Stelle treten: man schreckt vor der naturalistischen Wiedergabe eines Mordes oder Selbstmordes, einer Hinrichtungsszene nicht zurück und erhebt sich in nichts über den Geschmack und die Tendenz, die in der Schundliteratur herrscht. Man kann die Zusammenstellung und Vergleichung von Schundliteratur und kinematographischer Schunddramatik noch ein ganzes Stück fortsetzen. Wie dort so kommt auch hier nicht nur der Trieb zum roh Stofflichen und sensa¬ tionellen, sondern auch die Lüsternheit, die gern erotische und sexuelle Probleme umschnüffelt, auf ihre Rechnung. Die französische Industrie hat den zweifelhaften Ruhm, auch hier die ersten Schritte zur Befriedigung des Massengeschmackes getan und die ersten Anfänge des „Sittenstückes" geschaffen zu haben, und von der dänischen Industrie ist dann dieser Zweig der kinematographischen Dramatik übernommen und zu ungeahnter „Vollendung" geführt worden. Dänische Firmen wissen das Gesellschafts- und das Sitten-, besser Unsittendrama mit solcher Raffiniertheit psychologisch einigermaßen glaubhaft, für die Zensur un¬ anfechtbar und dennoch für die niedrigen Instinkte lockend zu gestalten, daß dieser Zweig der kinematographischen Schunddramatik heutzutage die größte Gefahr für die Geschmacksbildung und die ethischen Grundsätze des Publikums bildet, zumal diejenige Industrie, die als jüngste auf dem Schauplatze des Konkurrenzkampfes erschienen ist, die deutsche, leider gerade diesen Zweig der Filmdramatik aufgenommen hat. Sie aber verzichtet völlig auf eine psycholo¬ gische Motivierung ^der Geschehnisse und versucht das, was ihr dadurch abgeht, durch eine rein stoffliche Häufung des sensationellen und sittlich Bedenklichen zu ersetzen. «) Vgl. meinen Aufsatz „Vom Geschmack der Völker". Grenzboten 1912 Heft 6.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/620>, abgerufen am 03.07.2024.