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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Neuer Glauben

Wenn wir sie an den Stellen erwarten, wo sie früher war, so werden wir
zu dem Resultat kommen: nicht nur ist sie nicht vorhanden, es ist auch ganz
ausgeschlossen, daß sie auf irgendeine Weise kommen könnte.

Es hängt vielleicht damit zusammen, daß seit Beginn der Neuzeit die
Menschen durch die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse enger miteinander
verbunden sind wie früher. Früher lebte der einzelne im wesentlichen in eigener
Wirtschaft, die dem persönlichen Gebrauche diente und über diesen hinaus kaum
Ziele und Zwecke hatte. Die Menschheit bestand aus abgeschlossenen Kulturen,
diese aus abgeschlossenen Ländern, diese aus abgeschlossenen kleinen Staaten,
und in den kleinen Staaten gab es wieder abgeschlossene kleinere Organisationen
bis herab zum Haushalt des einzelnen Familienvaters. Heute ist die ganze
Erde durch den Warenverkehr verbunden, und in den Kulturländern ist der
primitivste Kleinbauer abhängig von den großen allgemeinen wirtschaftlichen,
sozialen und politischen Bewegungen: eine Lohnerhöhung in Japan macht sich
beim Hausarbeiter im Fichtelgebirge spürbar. Der isolierte einzelne mußte
früher notwendig auf den Gedanken eines für ihn sorgenden Gottes kommen,
wenn er nicht an einen sinnlosen Zufall glauben wollte, und die Leiden, die
ihn trafen, mußte er auffassen als berechnet für seine Persönlichkeit; denn er
konnte nicht über den Zaun sehen und die allgemeinen Ursachen der Welt¬
bewegungen erkennen. Heute weiß jeder: Was geschieht, das geschieht vielen;
man kann sich nicht vorstellen, daß diese eine persönliche Beziehung zu einem
Gott haben, der ihre Geschicke leitet, sondern man kann sich nur denken, daß
eine allgemeine Bewegung in den Weltvorgängen ist, welche durch eine Kette
von allgemeinen Ursachen und Wirkungen bestimmt ist, ohne irgendeine Be¬
ziehung zu dem Wollen oder Fürchten einzelner Persönlichkeiten. Das Leiden
verliert so das Exzeptionelle, das es früher hatte. Nun glaubt ein jeder Mensch
ein Recht auf Glück zu haben, ohne diesen Glauben hätte er nicht den Lebens¬
trieb; und ein Leiden, das scheinbar nur ihn allein trifft, ohne zureichenden
allgemeinen Grund, muß ihn auf das tiefste erregen, denn es stellt die Richtig¬
keit seines Lebenstriebes in Frage -- in der Art der alten Frommen aus¬
gedrückt: Wie ist es möglich, daß Gott den Gerechten leiden läßt? Hat das
Leiden aber diesen Charakter des Exzeptionellen verloren, wird es empfindungs¬
mäßig mit eingereiht in die allgemein zu erwartenden, weil im Weltlauf
bedingten Vorkommnisse, so verliert es offenbar seinen Hauptstachel; die Menschen
sagen sich: Das Leiden ist mit dem Leben untrennbar verbunden, wie es die
Freude ist, und die Aufgabe des einzelnen besteht hier lediglich darin, sich in
diesen Umständen einzurichten. Es entwickelt sich jener nüchterne Heroismus,
der auch in anderen Dingen charakteristisch für unsere Zeit ist. Gleichzeitig
wird das Gefühl der Verschuldung schwächer. Es handelt nicht mehr der
isolierte Mensch, der seine Leidenschaften aus seinem Inneren heraus wirken
läßt und dadurch vor Gott schuldig wird, sondern der Mensch, welcher nur ein
Rad in einer großen Maschinerie ist, seine Antriebe von außen bekommt und


Neuer Glauben

Wenn wir sie an den Stellen erwarten, wo sie früher war, so werden wir
zu dem Resultat kommen: nicht nur ist sie nicht vorhanden, es ist auch ganz
ausgeschlossen, daß sie auf irgendeine Weise kommen könnte.

Es hängt vielleicht damit zusammen, daß seit Beginn der Neuzeit die
Menschen durch die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse enger miteinander
verbunden sind wie früher. Früher lebte der einzelne im wesentlichen in eigener
Wirtschaft, die dem persönlichen Gebrauche diente und über diesen hinaus kaum
Ziele und Zwecke hatte. Die Menschheit bestand aus abgeschlossenen Kulturen,
diese aus abgeschlossenen Ländern, diese aus abgeschlossenen kleinen Staaten,
und in den kleinen Staaten gab es wieder abgeschlossene kleinere Organisationen
bis herab zum Haushalt des einzelnen Familienvaters. Heute ist die ganze
Erde durch den Warenverkehr verbunden, und in den Kulturländern ist der
primitivste Kleinbauer abhängig von den großen allgemeinen wirtschaftlichen,
sozialen und politischen Bewegungen: eine Lohnerhöhung in Japan macht sich
beim Hausarbeiter im Fichtelgebirge spürbar. Der isolierte einzelne mußte
früher notwendig auf den Gedanken eines für ihn sorgenden Gottes kommen,
wenn er nicht an einen sinnlosen Zufall glauben wollte, und die Leiden, die
ihn trafen, mußte er auffassen als berechnet für seine Persönlichkeit; denn er
konnte nicht über den Zaun sehen und die allgemeinen Ursachen der Welt¬
bewegungen erkennen. Heute weiß jeder: Was geschieht, das geschieht vielen;
man kann sich nicht vorstellen, daß diese eine persönliche Beziehung zu einem
Gott haben, der ihre Geschicke leitet, sondern man kann sich nur denken, daß
eine allgemeine Bewegung in den Weltvorgängen ist, welche durch eine Kette
von allgemeinen Ursachen und Wirkungen bestimmt ist, ohne irgendeine Be¬
ziehung zu dem Wollen oder Fürchten einzelner Persönlichkeiten. Das Leiden
verliert so das Exzeptionelle, das es früher hatte. Nun glaubt ein jeder Mensch
ein Recht auf Glück zu haben, ohne diesen Glauben hätte er nicht den Lebens¬
trieb; und ein Leiden, das scheinbar nur ihn allein trifft, ohne zureichenden
allgemeinen Grund, muß ihn auf das tiefste erregen, denn es stellt die Richtig¬
keit seines Lebenstriebes in Frage — in der Art der alten Frommen aus¬
gedrückt: Wie ist es möglich, daß Gott den Gerechten leiden läßt? Hat das
Leiden aber diesen Charakter des Exzeptionellen verloren, wird es empfindungs¬
mäßig mit eingereiht in die allgemein zu erwartenden, weil im Weltlauf
bedingten Vorkommnisse, so verliert es offenbar seinen Hauptstachel; die Menschen
sagen sich: Das Leiden ist mit dem Leben untrennbar verbunden, wie es die
Freude ist, und die Aufgabe des einzelnen besteht hier lediglich darin, sich in
diesen Umständen einzurichten. Es entwickelt sich jener nüchterne Heroismus,
der auch in anderen Dingen charakteristisch für unsere Zeit ist. Gleichzeitig
wird das Gefühl der Verschuldung schwächer. Es handelt nicht mehr der
isolierte Mensch, der seine Leidenschaften aus seinem Inneren heraus wirken
läßt und dadurch vor Gott schuldig wird, sondern der Mensch, welcher nur ein
Rad in einer großen Maschinerie ist, seine Antriebe von außen bekommt und


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[0608] Neuer Glauben Wenn wir sie an den Stellen erwarten, wo sie früher war, so werden wir zu dem Resultat kommen: nicht nur ist sie nicht vorhanden, es ist auch ganz ausgeschlossen, daß sie auf irgendeine Weise kommen könnte. Es hängt vielleicht damit zusammen, daß seit Beginn der Neuzeit die Menschen durch die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse enger miteinander verbunden sind wie früher. Früher lebte der einzelne im wesentlichen in eigener Wirtschaft, die dem persönlichen Gebrauche diente und über diesen hinaus kaum Ziele und Zwecke hatte. Die Menschheit bestand aus abgeschlossenen Kulturen, diese aus abgeschlossenen Ländern, diese aus abgeschlossenen kleinen Staaten, und in den kleinen Staaten gab es wieder abgeschlossene kleinere Organisationen bis herab zum Haushalt des einzelnen Familienvaters. Heute ist die ganze Erde durch den Warenverkehr verbunden, und in den Kulturländern ist der primitivste Kleinbauer abhängig von den großen allgemeinen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bewegungen: eine Lohnerhöhung in Japan macht sich beim Hausarbeiter im Fichtelgebirge spürbar. Der isolierte einzelne mußte früher notwendig auf den Gedanken eines für ihn sorgenden Gottes kommen, wenn er nicht an einen sinnlosen Zufall glauben wollte, und die Leiden, die ihn trafen, mußte er auffassen als berechnet für seine Persönlichkeit; denn er konnte nicht über den Zaun sehen und die allgemeinen Ursachen der Welt¬ bewegungen erkennen. Heute weiß jeder: Was geschieht, das geschieht vielen; man kann sich nicht vorstellen, daß diese eine persönliche Beziehung zu einem Gott haben, der ihre Geschicke leitet, sondern man kann sich nur denken, daß eine allgemeine Bewegung in den Weltvorgängen ist, welche durch eine Kette von allgemeinen Ursachen und Wirkungen bestimmt ist, ohne irgendeine Be¬ ziehung zu dem Wollen oder Fürchten einzelner Persönlichkeiten. Das Leiden verliert so das Exzeptionelle, das es früher hatte. Nun glaubt ein jeder Mensch ein Recht auf Glück zu haben, ohne diesen Glauben hätte er nicht den Lebens¬ trieb; und ein Leiden, das scheinbar nur ihn allein trifft, ohne zureichenden allgemeinen Grund, muß ihn auf das tiefste erregen, denn es stellt die Richtig¬ keit seines Lebenstriebes in Frage — in der Art der alten Frommen aus¬ gedrückt: Wie ist es möglich, daß Gott den Gerechten leiden läßt? Hat das Leiden aber diesen Charakter des Exzeptionellen verloren, wird es empfindungs¬ mäßig mit eingereiht in die allgemein zu erwartenden, weil im Weltlauf bedingten Vorkommnisse, so verliert es offenbar seinen Hauptstachel; die Menschen sagen sich: Das Leiden ist mit dem Leben untrennbar verbunden, wie es die Freude ist, und die Aufgabe des einzelnen besteht hier lediglich darin, sich in diesen Umständen einzurichten. Es entwickelt sich jener nüchterne Heroismus, der auch in anderen Dingen charakteristisch für unsere Zeit ist. Gleichzeitig wird das Gefühl der Verschuldung schwächer. Es handelt nicht mehr der isolierte Mensch, der seine Leidenschaften aus seinem Inneren heraus wirken läßt und dadurch vor Gott schuldig wird, sondern der Mensch, welcher nur ein Rad in einer großen Maschinerie ist, seine Antriebe von außen bekommt und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/608>, abgerufen am 22.07.2024.