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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Neuer Glauben

ihnen, nach seiner sozialen Stellung, notwendig folgen muß. Man denke, wie
noch Shakespeare selbst seine Könige lediglich aus ihrer Leidenschaft heraus
handeln läßt, wie ja denn seine ganze Dichtung lediglich ein Aussichheraussetzen
einer dominierenden Leidenschaft ist, und wie ein Heutiger, wenn er einen
König darstellen wollte, den gebundensten und gezwungensten Menschen schildern
müßte. In der Zeit, ehe das Schuldgefühl unter den Menschen war, erschien
das Handeln der Menschen als Resultat göttlicher Eingebungen, die Menschen
waren unverantwortlich; auf einer höheren Stufe haben wir nach dem Inter¬
mezzo des Christentums heute die UnVerantwortlichkeit wieder.

Noch einmal sei es gesagt: Solche Dinge sind dem einzelnen wie der
Menge nicht begrifflich klar, sie äußern sich auch kaum in zusammenhängenden
Theorien; aber da sind Empfindungen, welche unser aller Leben heute zugrunde
liegen, welche unbewußt in unserer Kunst zum Ausdruck kommen, unsere gesell¬
schaftlichen Anschauungen bilden, unsere Wertschätzungen beeinflussen, soweit die
nicht noch durch Überkommenes gebildet sind.

Also, wenn die vorigen Ausführungen richtig waren, so würden die Menschen
heute nicht vom Leiden erlöst werden müssen, weil sie besser gelernt haben, das
Leiden zu ertragen, und nicht von der Schuld, weil das Schuldgefühl geschwächt
ist. Wo wäre dann aber die Verzweiflung und die Not, aus der heraus das
Bedürfnis nach Religion, Religion selber sich entwickeln würde?

Hier wird es noch schwieriger, Worte und Gedanken zu finden. Wer
vorurteilsfrei unser heutiges Leben betrachtet, der muß die Not und die Ver¬
zweiflung der Menschen fühlen, und in tausend Dingen wird er ein Suchen
nach einer Erlösung durch einen neuen Glauben sehen: in den Ausschweifungen
und Lastern; der Betäubung durch übermäßige Arbeit und sinnlosen Genuß;
der allgemeinen Auflösung aller menschlichen Bande; der Zuchtlosigkeit und
Respektlosigkeit, dem Schwinden der Würde und Selbstachtung; dem ratlosem
Irren und Suchen in banausisch verstandener Wissenschaft; dem leidenschaft¬
lichen Streben, die Persönlichkeit zu verlieren, indem man sich als Berufsmensch
zu einer Funktion macht, oder indem man sich in Sensationen auflöst als
ästhetischer Mensch, oder indem man sich unter das Joch einer zum Aberglauben
gewordenen Religion beugt wie die Frommen -- indem man merkwürdiger¬
weise dabei immer glaubt, daß man dadurch die Persönlichkeit gerade erhalte.

Denn indem Leiden und Schuld ihre alte Bedeutung verloren haben, hat
das Leben des einzelnen ja auch den größten Teil seines Sinns eingebüßt.
Wenn früher die scheinbare Zufälligkeit des Lebens sich auflöste durch den
Glauben an göttliche Leitung des einzelnen, so scheint heute der einzelne weder
für sich noch sür Gott eine Bedeutung mehr zu haben; er ist scheinbar in eine
Kategorie hinabgedrückt mit den Naturwesen, welche werden und vergehen als
einzelne, damit die Art sich erhält. Allerhand Mythologie entspringt aus diesen
Gedankengängen; freilich müssen wir die moderne Mythologie anderswo suchen
als die alte, wenigstens, als die alte uns heute erscheint: nämlich in den


Grenzboten III 1912 76
Neuer Glauben

ihnen, nach seiner sozialen Stellung, notwendig folgen muß. Man denke, wie
noch Shakespeare selbst seine Könige lediglich aus ihrer Leidenschaft heraus
handeln läßt, wie ja denn seine ganze Dichtung lediglich ein Aussichheraussetzen
einer dominierenden Leidenschaft ist, und wie ein Heutiger, wenn er einen
König darstellen wollte, den gebundensten und gezwungensten Menschen schildern
müßte. In der Zeit, ehe das Schuldgefühl unter den Menschen war, erschien
das Handeln der Menschen als Resultat göttlicher Eingebungen, die Menschen
waren unverantwortlich; auf einer höheren Stufe haben wir nach dem Inter¬
mezzo des Christentums heute die UnVerantwortlichkeit wieder.

Noch einmal sei es gesagt: Solche Dinge sind dem einzelnen wie der
Menge nicht begrifflich klar, sie äußern sich auch kaum in zusammenhängenden
Theorien; aber da sind Empfindungen, welche unser aller Leben heute zugrunde
liegen, welche unbewußt in unserer Kunst zum Ausdruck kommen, unsere gesell¬
schaftlichen Anschauungen bilden, unsere Wertschätzungen beeinflussen, soweit die
nicht noch durch Überkommenes gebildet sind.

Also, wenn die vorigen Ausführungen richtig waren, so würden die Menschen
heute nicht vom Leiden erlöst werden müssen, weil sie besser gelernt haben, das
Leiden zu ertragen, und nicht von der Schuld, weil das Schuldgefühl geschwächt
ist. Wo wäre dann aber die Verzweiflung und die Not, aus der heraus das
Bedürfnis nach Religion, Religion selber sich entwickeln würde?

Hier wird es noch schwieriger, Worte und Gedanken zu finden. Wer
vorurteilsfrei unser heutiges Leben betrachtet, der muß die Not und die Ver¬
zweiflung der Menschen fühlen, und in tausend Dingen wird er ein Suchen
nach einer Erlösung durch einen neuen Glauben sehen: in den Ausschweifungen
und Lastern; der Betäubung durch übermäßige Arbeit und sinnlosen Genuß;
der allgemeinen Auflösung aller menschlichen Bande; der Zuchtlosigkeit und
Respektlosigkeit, dem Schwinden der Würde und Selbstachtung; dem ratlosem
Irren und Suchen in banausisch verstandener Wissenschaft; dem leidenschaft¬
lichen Streben, die Persönlichkeit zu verlieren, indem man sich als Berufsmensch
zu einer Funktion macht, oder indem man sich in Sensationen auflöst als
ästhetischer Mensch, oder indem man sich unter das Joch einer zum Aberglauben
gewordenen Religion beugt wie die Frommen — indem man merkwürdiger¬
weise dabei immer glaubt, daß man dadurch die Persönlichkeit gerade erhalte.

Denn indem Leiden und Schuld ihre alte Bedeutung verloren haben, hat
das Leben des einzelnen ja auch den größten Teil seines Sinns eingebüßt.
Wenn früher die scheinbare Zufälligkeit des Lebens sich auflöste durch den
Glauben an göttliche Leitung des einzelnen, so scheint heute der einzelne weder
für sich noch sür Gott eine Bedeutung mehr zu haben; er ist scheinbar in eine
Kategorie hinabgedrückt mit den Naturwesen, welche werden und vergehen als
einzelne, damit die Art sich erhält. Allerhand Mythologie entspringt aus diesen
Gedankengängen; freilich müssen wir die moderne Mythologie anderswo suchen
als die alte, wenigstens, als die alte uns heute erscheint: nämlich in den


Grenzboten III 1912 76
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[0609] Neuer Glauben ihnen, nach seiner sozialen Stellung, notwendig folgen muß. Man denke, wie noch Shakespeare selbst seine Könige lediglich aus ihrer Leidenschaft heraus handeln läßt, wie ja denn seine ganze Dichtung lediglich ein Aussichheraussetzen einer dominierenden Leidenschaft ist, und wie ein Heutiger, wenn er einen König darstellen wollte, den gebundensten und gezwungensten Menschen schildern müßte. In der Zeit, ehe das Schuldgefühl unter den Menschen war, erschien das Handeln der Menschen als Resultat göttlicher Eingebungen, die Menschen waren unverantwortlich; auf einer höheren Stufe haben wir nach dem Inter¬ mezzo des Christentums heute die UnVerantwortlichkeit wieder. Noch einmal sei es gesagt: Solche Dinge sind dem einzelnen wie der Menge nicht begrifflich klar, sie äußern sich auch kaum in zusammenhängenden Theorien; aber da sind Empfindungen, welche unser aller Leben heute zugrunde liegen, welche unbewußt in unserer Kunst zum Ausdruck kommen, unsere gesell¬ schaftlichen Anschauungen bilden, unsere Wertschätzungen beeinflussen, soweit die nicht noch durch Überkommenes gebildet sind. Also, wenn die vorigen Ausführungen richtig waren, so würden die Menschen heute nicht vom Leiden erlöst werden müssen, weil sie besser gelernt haben, das Leiden zu ertragen, und nicht von der Schuld, weil das Schuldgefühl geschwächt ist. Wo wäre dann aber die Verzweiflung und die Not, aus der heraus das Bedürfnis nach Religion, Religion selber sich entwickeln würde? Hier wird es noch schwieriger, Worte und Gedanken zu finden. Wer vorurteilsfrei unser heutiges Leben betrachtet, der muß die Not und die Ver¬ zweiflung der Menschen fühlen, und in tausend Dingen wird er ein Suchen nach einer Erlösung durch einen neuen Glauben sehen: in den Ausschweifungen und Lastern; der Betäubung durch übermäßige Arbeit und sinnlosen Genuß; der allgemeinen Auflösung aller menschlichen Bande; der Zuchtlosigkeit und Respektlosigkeit, dem Schwinden der Würde und Selbstachtung; dem ratlosem Irren und Suchen in banausisch verstandener Wissenschaft; dem leidenschaft¬ lichen Streben, die Persönlichkeit zu verlieren, indem man sich als Berufsmensch zu einer Funktion macht, oder indem man sich in Sensationen auflöst als ästhetischer Mensch, oder indem man sich unter das Joch einer zum Aberglauben gewordenen Religion beugt wie die Frommen — indem man merkwürdiger¬ weise dabei immer glaubt, daß man dadurch die Persönlichkeit gerade erhalte. Denn indem Leiden und Schuld ihre alte Bedeutung verloren haben, hat das Leben des einzelnen ja auch den größten Teil seines Sinns eingebüßt. Wenn früher die scheinbare Zufälligkeit des Lebens sich auflöste durch den Glauben an göttliche Leitung des einzelnen, so scheint heute der einzelne weder für sich noch sür Gott eine Bedeutung mehr zu haben; er ist scheinbar in eine Kategorie hinabgedrückt mit den Naturwesen, welche werden und vergehen als einzelne, damit die Art sich erhält. Allerhand Mythologie entspringt aus diesen Gedankengängen; freilich müssen wir die moderne Mythologie anderswo suchen als die alte, wenigstens, als die alte uns heute erscheint: nämlich in den Grenzboten III 1912 76

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/609>, abgerufen am 22.07.2024.