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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Neuer Glauben

aus der religiösen Empfindung der untergehenden und wieder aufgehenden
Sonne, oder der im Winter sterbenden und im Frühjahr wieder erstehenden
Natur. Wie das auch sei: in unbestimmter Weise -- man darf solche Dinge
nicht allzu begrifflich fassen; das sind Vorgänge jenseits des Verstandes --
glaubte man, daß dieser leidende Gott die Menschen entführe. Auch hier haben
sich die Griechen zurückgehalten, wenn schon sie die betreffenden Götter aus dem
Orient übernahmen. Merkwürdig ist jedenfalls die Beziehung des Dionysos
zur Tragödie. Ein Gott, der das Leiden der Welt auf sich nimmt, der zur
Sühne für die Schuld der Menschen stirbt -- das ist der tiefste Mythos, den
die Menschen geschaffen haben. Später hat man, in Weiterdeutung der Lehren
des Paulus, das alles begrifflich konstruiert: die Menschen alle durch die Erb¬
sünde befleckt, der gerechte Gott nach Sühne verlangend, Christus den stellver¬
tretenden Opfertod sterbend; diese juristische Rationalisierung muß man vergessen,
man darf nur an den bestimmten Empfindungskomplex denken; man muß sich
etwa an Lehren erinnern wie die der Karpokratianer: "Jeder Seele droht die
Wiedergeburt, wenn sie nicht schon im ersten Verkehr dieses Lebens allen Ver¬
lockungen nachgibt. Denn die Verbrechen sind ein Tribut an das Leben . . .
wenn einige schon in einer Verkörperung in alle Verfehlungen aufgehen, dann
kommen sie nicht nochmals in einen Körper, sondern da sie alle Verfehlungen
erfüllt haben, so werden sie von der Verkörperung befreit." Wenn man sich
die grausige Verzweiflung klar macht, welche herrschen mußte, damit so furcht¬
bare Lehren nicht nur entstehen, sondern auch weite Verbreitung finden konnten,
dann wird man beginnen, die heute fast unverstandene Lehre von dem sterbenden
Gott zu verstehen.

Suchen nach einer Möglichkeit, die Leiden des Lebens zu ertragen, in den
geistig höchsten Schichten der Gesellschaft; Suchen nach Befreiung von der Schuld
in den niederen Schichten; wilde abergläubische Angst und sinnlose Verzweiflung
in den unkultivierten Gemütern: das waren die Vorbedingungen für die Ent¬
stehung des Christentums; als aus den vorhandenen Elementen eine Lehre zu¬
sammenschoß, in welcher die Menschen eine Rettung sahen, da war es ent¬
standen; als die am meisten verzweifelten und geängstigten Menschen sie mit
Enthusiasmus aufnahmen, da begann ihre Verbreitung über die damalige Welt.
Eine Befreiung, eine Erlösung war das Christentum, wie es noch heute bei
wilden und barbarischen Völkern eine Befreiung und Erlösung ist.

Rufen wir uns ins Gedächtnis zurück: Was war der Inhalt der Re¬
formation? Die Menschen waren verzweifelt durch das Bewußtsein der Schuld;
die mechanische Theorie der guten Werke, zu der die Kirche gekommen war,
genügte nicht, sie zu beruhigen; da stellte Luther seine aus Paulus abgeleitete
Rechtfertigungstheorie auf, und wieder wurden die Menschen erlöst und befreit.

Ein Bedürfnis nach Erlösung und nach Befreiung ist die Voraussetzung
der höheren Religion. Wenn wir heute Ansätze einer neuen Religion suchen
wollen, so müssen wir zunächst die Sehnsucht nach Erlösung und Befreiung suchen.


Neuer Glauben

aus der religiösen Empfindung der untergehenden und wieder aufgehenden
Sonne, oder der im Winter sterbenden und im Frühjahr wieder erstehenden
Natur. Wie das auch sei: in unbestimmter Weise — man darf solche Dinge
nicht allzu begrifflich fassen; das sind Vorgänge jenseits des Verstandes —
glaubte man, daß dieser leidende Gott die Menschen entführe. Auch hier haben
sich die Griechen zurückgehalten, wenn schon sie die betreffenden Götter aus dem
Orient übernahmen. Merkwürdig ist jedenfalls die Beziehung des Dionysos
zur Tragödie. Ein Gott, der das Leiden der Welt auf sich nimmt, der zur
Sühne für die Schuld der Menschen stirbt — das ist der tiefste Mythos, den
die Menschen geschaffen haben. Später hat man, in Weiterdeutung der Lehren
des Paulus, das alles begrifflich konstruiert: die Menschen alle durch die Erb¬
sünde befleckt, der gerechte Gott nach Sühne verlangend, Christus den stellver¬
tretenden Opfertod sterbend; diese juristische Rationalisierung muß man vergessen,
man darf nur an den bestimmten Empfindungskomplex denken; man muß sich
etwa an Lehren erinnern wie die der Karpokratianer: „Jeder Seele droht die
Wiedergeburt, wenn sie nicht schon im ersten Verkehr dieses Lebens allen Ver¬
lockungen nachgibt. Denn die Verbrechen sind ein Tribut an das Leben . . .
wenn einige schon in einer Verkörperung in alle Verfehlungen aufgehen, dann
kommen sie nicht nochmals in einen Körper, sondern da sie alle Verfehlungen
erfüllt haben, so werden sie von der Verkörperung befreit." Wenn man sich
die grausige Verzweiflung klar macht, welche herrschen mußte, damit so furcht¬
bare Lehren nicht nur entstehen, sondern auch weite Verbreitung finden konnten,
dann wird man beginnen, die heute fast unverstandene Lehre von dem sterbenden
Gott zu verstehen.

Suchen nach einer Möglichkeit, die Leiden des Lebens zu ertragen, in den
geistig höchsten Schichten der Gesellschaft; Suchen nach Befreiung von der Schuld
in den niederen Schichten; wilde abergläubische Angst und sinnlose Verzweiflung
in den unkultivierten Gemütern: das waren die Vorbedingungen für die Ent¬
stehung des Christentums; als aus den vorhandenen Elementen eine Lehre zu¬
sammenschoß, in welcher die Menschen eine Rettung sahen, da war es ent¬
standen; als die am meisten verzweifelten und geängstigten Menschen sie mit
Enthusiasmus aufnahmen, da begann ihre Verbreitung über die damalige Welt.
Eine Befreiung, eine Erlösung war das Christentum, wie es noch heute bei
wilden und barbarischen Völkern eine Befreiung und Erlösung ist.

Rufen wir uns ins Gedächtnis zurück: Was war der Inhalt der Re¬
formation? Die Menschen waren verzweifelt durch das Bewußtsein der Schuld;
die mechanische Theorie der guten Werke, zu der die Kirche gekommen war,
genügte nicht, sie zu beruhigen; da stellte Luther seine aus Paulus abgeleitete
Rechtfertigungstheorie auf, und wieder wurden die Menschen erlöst und befreit.

Ein Bedürfnis nach Erlösung und nach Befreiung ist die Voraussetzung
der höheren Religion. Wenn wir heute Ansätze einer neuen Religion suchen
wollen, so müssen wir zunächst die Sehnsucht nach Erlösung und Befreiung suchen.


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[0607] Neuer Glauben aus der religiösen Empfindung der untergehenden und wieder aufgehenden Sonne, oder der im Winter sterbenden und im Frühjahr wieder erstehenden Natur. Wie das auch sei: in unbestimmter Weise — man darf solche Dinge nicht allzu begrifflich fassen; das sind Vorgänge jenseits des Verstandes — glaubte man, daß dieser leidende Gott die Menschen entführe. Auch hier haben sich die Griechen zurückgehalten, wenn schon sie die betreffenden Götter aus dem Orient übernahmen. Merkwürdig ist jedenfalls die Beziehung des Dionysos zur Tragödie. Ein Gott, der das Leiden der Welt auf sich nimmt, der zur Sühne für die Schuld der Menschen stirbt — das ist der tiefste Mythos, den die Menschen geschaffen haben. Später hat man, in Weiterdeutung der Lehren des Paulus, das alles begrifflich konstruiert: die Menschen alle durch die Erb¬ sünde befleckt, der gerechte Gott nach Sühne verlangend, Christus den stellver¬ tretenden Opfertod sterbend; diese juristische Rationalisierung muß man vergessen, man darf nur an den bestimmten Empfindungskomplex denken; man muß sich etwa an Lehren erinnern wie die der Karpokratianer: „Jeder Seele droht die Wiedergeburt, wenn sie nicht schon im ersten Verkehr dieses Lebens allen Ver¬ lockungen nachgibt. Denn die Verbrechen sind ein Tribut an das Leben . . . wenn einige schon in einer Verkörperung in alle Verfehlungen aufgehen, dann kommen sie nicht nochmals in einen Körper, sondern da sie alle Verfehlungen erfüllt haben, so werden sie von der Verkörperung befreit." Wenn man sich die grausige Verzweiflung klar macht, welche herrschen mußte, damit so furcht¬ bare Lehren nicht nur entstehen, sondern auch weite Verbreitung finden konnten, dann wird man beginnen, die heute fast unverstandene Lehre von dem sterbenden Gott zu verstehen. Suchen nach einer Möglichkeit, die Leiden des Lebens zu ertragen, in den geistig höchsten Schichten der Gesellschaft; Suchen nach Befreiung von der Schuld in den niederen Schichten; wilde abergläubische Angst und sinnlose Verzweiflung in den unkultivierten Gemütern: das waren die Vorbedingungen für die Ent¬ stehung des Christentums; als aus den vorhandenen Elementen eine Lehre zu¬ sammenschoß, in welcher die Menschen eine Rettung sahen, da war es ent¬ standen; als die am meisten verzweifelten und geängstigten Menschen sie mit Enthusiasmus aufnahmen, da begann ihre Verbreitung über die damalige Welt. Eine Befreiung, eine Erlösung war das Christentum, wie es noch heute bei wilden und barbarischen Völkern eine Befreiung und Erlösung ist. Rufen wir uns ins Gedächtnis zurück: Was war der Inhalt der Re¬ formation? Die Menschen waren verzweifelt durch das Bewußtsein der Schuld; die mechanische Theorie der guten Werke, zu der die Kirche gekommen war, genügte nicht, sie zu beruhigen; da stellte Luther seine aus Paulus abgeleitete Rechtfertigungstheorie auf, und wieder wurden die Menschen erlöst und befreit. Ein Bedürfnis nach Erlösung und nach Befreiung ist die Voraussetzung der höheren Religion. Wenn wir heute Ansätze einer neuen Religion suchen wollen, so müssen wir zunächst die Sehnsucht nach Erlösung und Befreiung suchen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/607>, abgerufen am 22.07.2024.