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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Neuer Glauben

Zusammenbrechen des naiven alten Götterglaubens, der bloß sittlich indifferente,
von menschlichen Leidenschaften bewegte Mächte kennt, denen die Menschen
gehorchen müssen, weil sie eben die schwächeren sind, in den Völkern eine all¬
gemeine Unruhe entstanden zu sein, die sich um die Tatsache des Leidens und
um den Glauben an menschliche Verschuldung drehte: Wenn sittliche Götter
herrschen, wie erklärt sich dann das Leiden der Menschen. Durch ihr sittliches
Verschulden. Aber wenn nun der Gerechte leidet? Deuterojesajas schildert das
Leiden des Gerechten in furchtbar leidenschaftlichen Ausdrücken, denen man die
Qualen jener suchenden Zeiten anmerkt. Hiob ist gedichtet als eine Antwort
auf die Frage. Die griechische Tragödie (ich kann die "tragische Schuld" noch
nicht bei den Dichtern finden, sie scheint mir erst durch Aristoteles in ihre Werke
hineininterpretiert) gibt eine andere Antwort. Beide, die europäische und die
asiatische Antwort, sind bezeichnend: der Jude steht tief unter dem Griechen mit
seinem immer noch anthropopathischen Gott und Teufel; der Grieche läßt seinen
Helden stolz tragen und durch Freiheit der Empfindung gegenüber dem Leid
das Leid überwinden; und indem er das in dem großen Schwung eines
gewaltigen rhythmischen Kunstwerks darstellt -- der Rhythmus der Spannung
und Lösung hat schon etwas Religiöses -- befreit er den Zuschauer selber vom
Leid -- diese Befreiung meint vielleicht Aristoteles mit seiner "Reinigung".
Wie schnell dann die Entwicklung geht, sieht man, wenn Aristoteles schon in
den stolzen Gestalten der Tragödie die "Schuld" findet. Man muß offenbar
geschlossen haben: Alle Menschen leiden; die Götter sind gerecht; also müssen alle
Menschen schuldig sein. Die ästhetische Lösung der Tragiker ward vergessen,
die Lösung des Hiob mußte den Höherstehenden wohl ungeeignet erscheinen.

Nur sehr wenige Menschen vermögen sich in den reinen Höhen des vor¬
urteilsfreien Denkens zu halten. Bei vielen, auch unter den Höchststehenden,
vermischte sich der Begriff der Schuld mit den noch nicht abgestorbenen Begriffen
der alten Opfer- und sonstigen Verpflichtungen gegenüber den noch in der alten
Weise als mächtige Dämonen vorgestellten Göttern. Die Mysterienkulte boten
sich an, den Menschen von dieser Schuld zu reinigen, und es geschah wohl von
Anfang an, daß solche Mysterienreinigung von dem Zorn beleidigter Götter
auch auf eine Art Sündenvergebung ging. Je tiefer wir ins Volk gehen, desto
mehr werden allerhand wirre Vorstellungen aus uralten Gebräuchen und Glauben
überhandnehmen und aus dem klaren Bewußtsein sittlicher Schuld, die gesühnt
werden muß durch Leiden, eine dumpfe Angst werden vor der Rache der Götter
für ungewollte Beleidigungen. Mit dem Hellenismus, dann mit dem römischen
Reich hatte sich zudem die Kenntnis von unzähligen, früher unbekannten Göttern
fremder Völker vermehrt, die man ja doch alle als existierend dachte und
fürchten mußte.

Seit dem Beginn dieser Vorstellungen wurde nun ein uralter orientalischer
Glaube wieder lebendig, oder er wurde vielmehr umgedeutet, vom sterbenden
und wieder auferstehenden Gott. Man nimmt heute an, daß er entstanden sei


Neuer Glauben

Zusammenbrechen des naiven alten Götterglaubens, der bloß sittlich indifferente,
von menschlichen Leidenschaften bewegte Mächte kennt, denen die Menschen
gehorchen müssen, weil sie eben die schwächeren sind, in den Völkern eine all¬
gemeine Unruhe entstanden zu sein, die sich um die Tatsache des Leidens und
um den Glauben an menschliche Verschuldung drehte: Wenn sittliche Götter
herrschen, wie erklärt sich dann das Leiden der Menschen. Durch ihr sittliches
Verschulden. Aber wenn nun der Gerechte leidet? Deuterojesajas schildert das
Leiden des Gerechten in furchtbar leidenschaftlichen Ausdrücken, denen man die
Qualen jener suchenden Zeiten anmerkt. Hiob ist gedichtet als eine Antwort
auf die Frage. Die griechische Tragödie (ich kann die „tragische Schuld" noch
nicht bei den Dichtern finden, sie scheint mir erst durch Aristoteles in ihre Werke
hineininterpretiert) gibt eine andere Antwort. Beide, die europäische und die
asiatische Antwort, sind bezeichnend: der Jude steht tief unter dem Griechen mit
seinem immer noch anthropopathischen Gott und Teufel; der Grieche läßt seinen
Helden stolz tragen und durch Freiheit der Empfindung gegenüber dem Leid
das Leid überwinden; und indem er das in dem großen Schwung eines
gewaltigen rhythmischen Kunstwerks darstellt — der Rhythmus der Spannung
und Lösung hat schon etwas Religiöses — befreit er den Zuschauer selber vom
Leid — diese Befreiung meint vielleicht Aristoteles mit seiner „Reinigung".
Wie schnell dann die Entwicklung geht, sieht man, wenn Aristoteles schon in
den stolzen Gestalten der Tragödie die „Schuld" findet. Man muß offenbar
geschlossen haben: Alle Menschen leiden; die Götter sind gerecht; also müssen alle
Menschen schuldig sein. Die ästhetische Lösung der Tragiker ward vergessen,
die Lösung des Hiob mußte den Höherstehenden wohl ungeeignet erscheinen.

Nur sehr wenige Menschen vermögen sich in den reinen Höhen des vor¬
urteilsfreien Denkens zu halten. Bei vielen, auch unter den Höchststehenden,
vermischte sich der Begriff der Schuld mit den noch nicht abgestorbenen Begriffen
der alten Opfer- und sonstigen Verpflichtungen gegenüber den noch in der alten
Weise als mächtige Dämonen vorgestellten Göttern. Die Mysterienkulte boten
sich an, den Menschen von dieser Schuld zu reinigen, und es geschah wohl von
Anfang an, daß solche Mysterienreinigung von dem Zorn beleidigter Götter
auch auf eine Art Sündenvergebung ging. Je tiefer wir ins Volk gehen, desto
mehr werden allerhand wirre Vorstellungen aus uralten Gebräuchen und Glauben
überhandnehmen und aus dem klaren Bewußtsein sittlicher Schuld, die gesühnt
werden muß durch Leiden, eine dumpfe Angst werden vor der Rache der Götter
für ungewollte Beleidigungen. Mit dem Hellenismus, dann mit dem römischen
Reich hatte sich zudem die Kenntnis von unzähligen, früher unbekannten Göttern
fremder Völker vermehrt, die man ja doch alle als existierend dachte und
fürchten mußte.

Seit dem Beginn dieser Vorstellungen wurde nun ein uralter orientalischer
Glaube wieder lebendig, oder er wurde vielmehr umgedeutet, vom sterbenden
und wieder auferstehenden Gott. Man nimmt heute an, daß er entstanden sei


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[0606] Neuer Glauben Zusammenbrechen des naiven alten Götterglaubens, der bloß sittlich indifferente, von menschlichen Leidenschaften bewegte Mächte kennt, denen die Menschen gehorchen müssen, weil sie eben die schwächeren sind, in den Völkern eine all¬ gemeine Unruhe entstanden zu sein, die sich um die Tatsache des Leidens und um den Glauben an menschliche Verschuldung drehte: Wenn sittliche Götter herrschen, wie erklärt sich dann das Leiden der Menschen. Durch ihr sittliches Verschulden. Aber wenn nun der Gerechte leidet? Deuterojesajas schildert das Leiden des Gerechten in furchtbar leidenschaftlichen Ausdrücken, denen man die Qualen jener suchenden Zeiten anmerkt. Hiob ist gedichtet als eine Antwort auf die Frage. Die griechische Tragödie (ich kann die „tragische Schuld" noch nicht bei den Dichtern finden, sie scheint mir erst durch Aristoteles in ihre Werke hineininterpretiert) gibt eine andere Antwort. Beide, die europäische und die asiatische Antwort, sind bezeichnend: der Jude steht tief unter dem Griechen mit seinem immer noch anthropopathischen Gott und Teufel; der Grieche läßt seinen Helden stolz tragen und durch Freiheit der Empfindung gegenüber dem Leid das Leid überwinden; und indem er das in dem großen Schwung eines gewaltigen rhythmischen Kunstwerks darstellt — der Rhythmus der Spannung und Lösung hat schon etwas Religiöses — befreit er den Zuschauer selber vom Leid — diese Befreiung meint vielleicht Aristoteles mit seiner „Reinigung". Wie schnell dann die Entwicklung geht, sieht man, wenn Aristoteles schon in den stolzen Gestalten der Tragödie die „Schuld" findet. Man muß offenbar geschlossen haben: Alle Menschen leiden; die Götter sind gerecht; also müssen alle Menschen schuldig sein. Die ästhetische Lösung der Tragiker ward vergessen, die Lösung des Hiob mußte den Höherstehenden wohl ungeeignet erscheinen. Nur sehr wenige Menschen vermögen sich in den reinen Höhen des vor¬ urteilsfreien Denkens zu halten. Bei vielen, auch unter den Höchststehenden, vermischte sich der Begriff der Schuld mit den noch nicht abgestorbenen Begriffen der alten Opfer- und sonstigen Verpflichtungen gegenüber den noch in der alten Weise als mächtige Dämonen vorgestellten Göttern. Die Mysterienkulte boten sich an, den Menschen von dieser Schuld zu reinigen, und es geschah wohl von Anfang an, daß solche Mysterienreinigung von dem Zorn beleidigter Götter auch auf eine Art Sündenvergebung ging. Je tiefer wir ins Volk gehen, desto mehr werden allerhand wirre Vorstellungen aus uralten Gebräuchen und Glauben überhandnehmen und aus dem klaren Bewußtsein sittlicher Schuld, die gesühnt werden muß durch Leiden, eine dumpfe Angst werden vor der Rache der Götter für ungewollte Beleidigungen. Mit dem Hellenismus, dann mit dem römischen Reich hatte sich zudem die Kenntnis von unzähligen, früher unbekannten Göttern fremder Völker vermehrt, die man ja doch alle als existierend dachte und fürchten mußte. Seit dem Beginn dieser Vorstellungen wurde nun ein uralter orientalischer Glaube wieder lebendig, oder er wurde vielmehr umgedeutet, vom sterbenden und wieder auferstehenden Gott. Man nimmt heute an, daß er entstanden sei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/606>, abgerufen am 22.07.2024.