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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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österreichische Dichterinnen

gewiß noch von der unbeachteten Dichterin geschrieben worden. Ihr stand eben
im Wege, daß sie sich nirgends einregistrieren ließ. Zwar rechnet sie selber sich
im "Spätgeborenen", jener ersten Erzählung, die die ganze Bitterkeit der Ent¬
täuschten, die ganze Trauer über scheinbar verlorene Jahrzehnte enthält, zu den
Unmodernen. Sieht man aber genauer hin, so ist ihr unmoderner Dramen-
dichter Andreas gar nicht in Bezug auf irgendeine Zeit unmodern. Sondern
ihm würde in jeder Zeit der Erfolg fehlen, weil sein stilles Wesen und großer
Idealismus sich in kein Tagesgetriebe einfügen und ein- für allemal den schreck¬
lichen Vorzug der "Aktualität" entbehren. Auch befehdet Marie Ebner, weder
hier noch in mancher ähnlich gerichteten Novelle, wie etwa in "Verschollen"
und im "Bertram Vogelwelt", keineswegs eine bestimmte "neue Richtung",
tritt vielmehr immerfort nur gegen alles literarische Krämertum, gegen alle
unheilige, im Kern unsaubere Kunstübung auf. Ihr Katechismus, wie sie ihn
in "Agave" straff zusammenfaßt, fordert ein reines Kunstwerk, das auf genialen
Einfall basiert mit ernsthaftem Fleiß durchgebildet sei, dem man die reine Hand,
das reine Herz, dem man auch ein voll durchlebtes Menschenschicksal des Bildners
anmerke. Marie Ebner nennt das den Katechismus der "alten Schule". Aber
hierin irrt sie; denn bei jeder Kunstrichtung findet man Menschen, denen diese
Sittlichkeit im Ästhetischen etwas Selbstverständliches, und andere, sür die sie
nicht vorhanden ist. Der Unterschied zwischen der "alten" und der in den
siebziger Jahren aufkommenden neuen Schule muß auf anderem Gebiete gesucht
werden. Im letzten Grunde ging der Kampf der beiden Richtungen doch wohl
darum, ob die Kunst der Schönheit oder der Wahrheit zuzustreben habe, ob
also das Häßliche um jeden Preis, selbst um den der Verengung, der Ver¬
schleierung und schließlich der Lüge aus dem Kunstwerk zu verbannen sei, oder
ob es als wahr seine Berechtigung habe. Wahrheit über Schönheit heißt die
tiefste und umfassendste Parole der neuen Schule; die sozialen Themen, die
radikalen Gedankengänge, die als Reaktion verständliche bisweilen ausschlie߬
liche Darstellung des lange vernachlässigten Häßlichen waren nur Folgen und
Begleiterscheinungen jenes Kernpunktes. In ihm aber steht Marie Ebner, bei
aller Gepflegtheit ihrer klassisch schönen Sprache, bei all ihrer Freude am
Schönen, doch ganz offenbar den Modernen näher als den "Alten". Immer
und auf jedem Gebiete räumt sie dem Häßlichen und selbst dem Widerlicher
sein volles Recht ein. So schildert sie in: "Er laßt die Hand küssen" die
entsetzlichen Mißstände der Leibeigenschaft mit fürchterlicher Deutlichkeit. So
schrickt sie in einem ähnlichen Zeitbilde, dem "Erstgeborenen", auch vor dem
Abstoßenden auf prekärstem, dem erotischen Gebiet, keineswegs zurück. So setzt
sie sich um der Wahrheit willen nicht nur über das üblich Schöne und anerkannt
Schickliche weg, sondern weicht auch gelegentlich von allgemeinen ethischen An¬
schauungen und Werturteilen ab und nimmt "das feine Abwägen" vor "zwischen
Einsicht und Vermögen, äußerem und innerem "Zwang und so vielem noch,
aus dem das Sollen eines Menschen sich konstruiert". Sie schildert derart im


österreichische Dichterinnen

gewiß noch von der unbeachteten Dichterin geschrieben worden. Ihr stand eben
im Wege, daß sie sich nirgends einregistrieren ließ. Zwar rechnet sie selber sich
im „Spätgeborenen", jener ersten Erzählung, die die ganze Bitterkeit der Ent¬
täuschten, die ganze Trauer über scheinbar verlorene Jahrzehnte enthält, zu den
Unmodernen. Sieht man aber genauer hin, so ist ihr unmoderner Dramen-
dichter Andreas gar nicht in Bezug auf irgendeine Zeit unmodern. Sondern
ihm würde in jeder Zeit der Erfolg fehlen, weil sein stilles Wesen und großer
Idealismus sich in kein Tagesgetriebe einfügen und ein- für allemal den schreck¬
lichen Vorzug der „Aktualität" entbehren. Auch befehdet Marie Ebner, weder
hier noch in mancher ähnlich gerichteten Novelle, wie etwa in „Verschollen"
und im „Bertram Vogelwelt", keineswegs eine bestimmte „neue Richtung",
tritt vielmehr immerfort nur gegen alles literarische Krämertum, gegen alle
unheilige, im Kern unsaubere Kunstübung auf. Ihr Katechismus, wie sie ihn
in „Agave" straff zusammenfaßt, fordert ein reines Kunstwerk, das auf genialen
Einfall basiert mit ernsthaftem Fleiß durchgebildet sei, dem man die reine Hand,
das reine Herz, dem man auch ein voll durchlebtes Menschenschicksal des Bildners
anmerke. Marie Ebner nennt das den Katechismus der „alten Schule". Aber
hierin irrt sie; denn bei jeder Kunstrichtung findet man Menschen, denen diese
Sittlichkeit im Ästhetischen etwas Selbstverständliches, und andere, sür die sie
nicht vorhanden ist. Der Unterschied zwischen der „alten" und der in den
siebziger Jahren aufkommenden neuen Schule muß auf anderem Gebiete gesucht
werden. Im letzten Grunde ging der Kampf der beiden Richtungen doch wohl
darum, ob die Kunst der Schönheit oder der Wahrheit zuzustreben habe, ob
also das Häßliche um jeden Preis, selbst um den der Verengung, der Ver¬
schleierung und schließlich der Lüge aus dem Kunstwerk zu verbannen sei, oder
ob es als wahr seine Berechtigung habe. Wahrheit über Schönheit heißt die
tiefste und umfassendste Parole der neuen Schule; die sozialen Themen, die
radikalen Gedankengänge, die als Reaktion verständliche bisweilen ausschlie߬
liche Darstellung des lange vernachlässigten Häßlichen waren nur Folgen und
Begleiterscheinungen jenes Kernpunktes. In ihm aber steht Marie Ebner, bei
aller Gepflegtheit ihrer klassisch schönen Sprache, bei all ihrer Freude am
Schönen, doch ganz offenbar den Modernen näher als den „Alten". Immer
und auf jedem Gebiete räumt sie dem Häßlichen und selbst dem Widerlicher
sein volles Recht ein. So schildert sie in: „Er laßt die Hand küssen" die
entsetzlichen Mißstände der Leibeigenschaft mit fürchterlicher Deutlichkeit. So
schrickt sie in einem ähnlichen Zeitbilde, dem „Erstgeborenen", auch vor dem
Abstoßenden auf prekärstem, dem erotischen Gebiet, keineswegs zurück. So setzt
sie sich um der Wahrheit willen nicht nur über das üblich Schöne und anerkannt
Schickliche weg, sondern weicht auch gelegentlich von allgemeinen ethischen An¬
schauungen und Werturteilen ab und nimmt „das feine Abwägen" vor „zwischen
Einsicht und Vermögen, äußerem und innerem „Zwang und so vielem noch,
aus dem das Sollen eines Menschen sich konstruiert". Sie schildert derart im


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[0573] österreichische Dichterinnen gewiß noch von der unbeachteten Dichterin geschrieben worden. Ihr stand eben im Wege, daß sie sich nirgends einregistrieren ließ. Zwar rechnet sie selber sich im „Spätgeborenen", jener ersten Erzählung, die die ganze Bitterkeit der Ent¬ täuschten, die ganze Trauer über scheinbar verlorene Jahrzehnte enthält, zu den Unmodernen. Sieht man aber genauer hin, so ist ihr unmoderner Dramen- dichter Andreas gar nicht in Bezug auf irgendeine Zeit unmodern. Sondern ihm würde in jeder Zeit der Erfolg fehlen, weil sein stilles Wesen und großer Idealismus sich in kein Tagesgetriebe einfügen und ein- für allemal den schreck¬ lichen Vorzug der „Aktualität" entbehren. Auch befehdet Marie Ebner, weder hier noch in mancher ähnlich gerichteten Novelle, wie etwa in „Verschollen" und im „Bertram Vogelwelt", keineswegs eine bestimmte „neue Richtung", tritt vielmehr immerfort nur gegen alles literarische Krämertum, gegen alle unheilige, im Kern unsaubere Kunstübung auf. Ihr Katechismus, wie sie ihn in „Agave" straff zusammenfaßt, fordert ein reines Kunstwerk, das auf genialen Einfall basiert mit ernsthaftem Fleiß durchgebildet sei, dem man die reine Hand, das reine Herz, dem man auch ein voll durchlebtes Menschenschicksal des Bildners anmerke. Marie Ebner nennt das den Katechismus der „alten Schule". Aber hierin irrt sie; denn bei jeder Kunstrichtung findet man Menschen, denen diese Sittlichkeit im Ästhetischen etwas Selbstverständliches, und andere, sür die sie nicht vorhanden ist. Der Unterschied zwischen der „alten" und der in den siebziger Jahren aufkommenden neuen Schule muß auf anderem Gebiete gesucht werden. Im letzten Grunde ging der Kampf der beiden Richtungen doch wohl darum, ob die Kunst der Schönheit oder der Wahrheit zuzustreben habe, ob also das Häßliche um jeden Preis, selbst um den der Verengung, der Ver¬ schleierung und schließlich der Lüge aus dem Kunstwerk zu verbannen sei, oder ob es als wahr seine Berechtigung habe. Wahrheit über Schönheit heißt die tiefste und umfassendste Parole der neuen Schule; die sozialen Themen, die radikalen Gedankengänge, die als Reaktion verständliche bisweilen ausschlie߬ liche Darstellung des lange vernachlässigten Häßlichen waren nur Folgen und Begleiterscheinungen jenes Kernpunktes. In ihm aber steht Marie Ebner, bei aller Gepflegtheit ihrer klassisch schönen Sprache, bei all ihrer Freude am Schönen, doch ganz offenbar den Modernen näher als den „Alten". Immer und auf jedem Gebiete räumt sie dem Häßlichen und selbst dem Widerlicher sein volles Recht ein. So schildert sie in: „Er laßt die Hand küssen" die entsetzlichen Mißstände der Leibeigenschaft mit fürchterlicher Deutlichkeit. So schrickt sie in einem ähnlichen Zeitbilde, dem „Erstgeborenen", auch vor dem Abstoßenden auf prekärstem, dem erotischen Gebiet, keineswegs zurück. So setzt sie sich um der Wahrheit willen nicht nur über das üblich Schöne und anerkannt Schickliche weg, sondern weicht auch gelegentlich von allgemeinen ethischen An¬ schauungen und Werturteilen ab und nimmt „das feine Abwägen" vor „zwischen Einsicht und Vermögen, äußerem und innerem „Zwang und so vielem noch, aus dem das Sollen eines Menschen sich konstruiert". Sie schildert derart im

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/573>, abgerufen am 22.07.2024.