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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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(österreichische Dichterinnen

philosophisches Wollen über ihr künstlerisches Vermögen hinausreicht. Niemandem
kann die Tragik dieses Zwiespalts mehr fehlen, als ihrer durch superlativische
Verhimmelungen und Verketzerungen weitaus bekannteren Antipodin, der 1871 in
Wien geborenen Enrica Freiin von Handel-Mazzetti. Von ihr wird glaubhaft
erzählt, wie sie als etwa Zwanzigjährige beim Kopieren eines Christusbildes
den Zeichenlehrer von dem "göttlichen Menschen" sprechen hört; heftig will sie
der blasphemischen Auffassung entgegentreten, aber "die Worte versagen ihr.
heiße Tränen rollen über ihre Wangen". Das muß wohl wahr sein, denn es
deckt sich so ganz mit dem Wesen, das sich in ihren Werken spiegelt. Sie hat
den allerfestesten und allerkindlichsten Christenglauben, der klösterlich Erzogenen
liegt jede andere Denkungsart so weltenfern, daß sie ihr mit hilflos ver¬
zweifelnden Nichtbegreifenkönnen gegenübersteht, aber ebenso weltenfern liegt
ihr auch alles fanatische Verdammen anderen religiösen Fühlens, der arme
Sünder, der im Beharrungsfalle ja ohnedem sein ewiges Heil verscherzt hat,
ist ihr nur Gegenstand des tiefsten Mitleids. So ganz ist die Baronin Handel
vom leidenschaftlichen Katholizismus beherrscht, daß sie zur Entfaltung ihres
dichterischen Könnens Stoffe und Zeiten aufsuchen muß, in denen die Frage ob
katholisch oder nichtkatholisch die entscheidende und vielleicht einzig weltbewegende
war. Man staunt über die Belanglosigkeit einiger in der Gegenwart spielender
Geschichten Enrica Handels, man staunt erst recht über das Leuchten, das
geradezu plötzlich auftaucht, wenn sie sich in jene ihr kongenialen Zeiten zurück¬
begibt. Dann weiß sie entschwundenes Leben so mächtig neu zu gestalten, dann
weiß sie menschliche Schicksale so ergreifend darzustellen, daß man die Ein¬
seitigkeit ihres Denkens und alle daraus resultierenden offenbaren Fehler vergißt
und nur noch unter dem Bann einer wirklichen Dichterin steht. Und noch etwas
Wunderbares begibt sich bei solcher Zeitflucht Enrica Handels: die am modernen
Stoff so befremdlich unmodern Erscheinende trägt in diese Vergangenheiten, viel¬
leicht sich selber unbewußt, einen deutlichsten Hauch aus der Atmosphäre des
Heute hinein.

Ein erstes Mal gelingt ihr das in dem Roman "Meinrad Helmpergers
denkwürdiges Jahr" (bei Jos. Kösel, Kempten; bei eben diesem Verleger er¬
schienen auch die später genannten Romane), obwohl sie hier freilich noch
nicht auf völliger Höhe steht. Ich mache diese Einschränkung im Hinblick
auf das gräßliche Übermaß einer bluttriefenden Folterszene, sodann um
einer Reihe von Stellen willen, durch die Enrica Handel offenbar begeistert
fromme Gefühle erwecken wollte, die aber bestimmt jeden nicht streng katholisch
und fast klösterlich gesinnten Leser befremden müssen. Aus beiden Überschwäng-
lichkeiten, jener der Folterschilderung und dieser der frommen Gefühle, scheint
mir hervorzugehen, daß die Dichterin bei der Ausarbeitung dieses Romans nur
erst an ein ihr gleich-, also klösterlich gesinntes Publikum gedacht habe,
während ihr später in den Sinn kam, daß sie sehr wohl auch über den katho¬
lischen Leserkreis hinaus dichterisch wirken könnte. Dagegen möchte ich in zwei


(österreichische Dichterinnen

philosophisches Wollen über ihr künstlerisches Vermögen hinausreicht. Niemandem
kann die Tragik dieses Zwiespalts mehr fehlen, als ihrer durch superlativische
Verhimmelungen und Verketzerungen weitaus bekannteren Antipodin, der 1871 in
Wien geborenen Enrica Freiin von Handel-Mazzetti. Von ihr wird glaubhaft
erzählt, wie sie als etwa Zwanzigjährige beim Kopieren eines Christusbildes
den Zeichenlehrer von dem „göttlichen Menschen" sprechen hört; heftig will sie
der blasphemischen Auffassung entgegentreten, aber „die Worte versagen ihr.
heiße Tränen rollen über ihre Wangen". Das muß wohl wahr sein, denn es
deckt sich so ganz mit dem Wesen, das sich in ihren Werken spiegelt. Sie hat
den allerfestesten und allerkindlichsten Christenglauben, der klösterlich Erzogenen
liegt jede andere Denkungsart so weltenfern, daß sie ihr mit hilflos ver¬
zweifelnden Nichtbegreifenkönnen gegenübersteht, aber ebenso weltenfern liegt
ihr auch alles fanatische Verdammen anderen religiösen Fühlens, der arme
Sünder, der im Beharrungsfalle ja ohnedem sein ewiges Heil verscherzt hat,
ist ihr nur Gegenstand des tiefsten Mitleids. So ganz ist die Baronin Handel
vom leidenschaftlichen Katholizismus beherrscht, daß sie zur Entfaltung ihres
dichterischen Könnens Stoffe und Zeiten aufsuchen muß, in denen die Frage ob
katholisch oder nichtkatholisch die entscheidende und vielleicht einzig weltbewegende
war. Man staunt über die Belanglosigkeit einiger in der Gegenwart spielender
Geschichten Enrica Handels, man staunt erst recht über das Leuchten, das
geradezu plötzlich auftaucht, wenn sie sich in jene ihr kongenialen Zeiten zurück¬
begibt. Dann weiß sie entschwundenes Leben so mächtig neu zu gestalten, dann
weiß sie menschliche Schicksale so ergreifend darzustellen, daß man die Ein¬
seitigkeit ihres Denkens und alle daraus resultierenden offenbaren Fehler vergißt
und nur noch unter dem Bann einer wirklichen Dichterin steht. Und noch etwas
Wunderbares begibt sich bei solcher Zeitflucht Enrica Handels: die am modernen
Stoff so befremdlich unmodern Erscheinende trägt in diese Vergangenheiten, viel¬
leicht sich selber unbewußt, einen deutlichsten Hauch aus der Atmosphäre des
Heute hinein.

Ein erstes Mal gelingt ihr das in dem Roman „Meinrad Helmpergers
denkwürdiges Jahr" (bei Jos. Kösel, Kempten; bei eben diesem Verleger er¬
schienen auch die später genannten Romane), obwohl sie hier freilich noch
nicht auf völliger Höhe steht. Ich mache diese Einschränkung im Hinblick
auf das gräßliche Übermaß einer bluttriefenden Folterszene, sodann um
einer Reihe von Stellen willen, durch die Enrica Handel offenbar begeistert
fromme Gefühle erwecken wollte, die aber bestimmt jeden nicht streng katholisch
und fast klösterlich gesinnten Leser befremden müssen. Aus beiden Überschwäng-
lichkeiten, jener der Folterschilderung und dieser der frommen Gefühle, scheint
mir hervorzugehen, daß die Dichterin bei der Ausarbeitung dieses Romans nur
erst an ein ihr gleich-, also klösterlich gesinntes Publikum gedacht habe,
während ihr später in den Sinn kam, daß sie sehr wohl auch über den katho¬
lischen Leserkreis hinaus dichterisch wirken könnte. Dagegen möchte ich in zwei


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/567>, abgerufen am 22.07.2024.