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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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(österreichische Dichterinnen

Bei solcher Auffassung des Göttlichen ist es begreiflich, daß die Dichterin
in der gesamten Menschheitsgeschichte nur ein "Blutmeer", in der französischen
Revolution nur eine riesenhafte Blutwelle dieses Ozeans sieht. Und an der
Trostlosigkeit solcher Anschauung scheint es mir vor allem zu liegen, daß dieses
große von Mitleid durchtränkte Werk den Leser nicht durch Zerschmetterung zur
Erhebung führt, sondern ihn schließlich nur mit der Unsumme seiner Schreckens¬
bilder abstumpft und belastet. Denn wie soll erheben können, wem selber so
gänzlich der Glaube an jede Möglichkeit des Aufwärts fehlt?

Die von der Grundanschauung ausgehende Ermüdung macht sich bei der
Lektüre einzelner Abschnitte dadurch noch fühlbarer, daß die gestaltende Kraft
M. E. delle Grazies gelegentlich unter der getürmten Masse des wissenschaft¬
lichen Materials zusammenbricht. Aber neben toten Stellen findet sich doch
immer wieder stärkstes Leben. Meisterlich sind einzelne hervorragende Gestalten,
wie Robespierre, Mirabeau, Danton charakterisiert, glühend tritt der Gegensatz
zwischen dem Versailler Hof und den Elendqnartieren der Hauptstadt hervor,
balladisches Grausen geht von der Schilderung der zum gigantischen Individuum
in eins geschmolzenen Masse aus:

So fehlt es der Überfülle dieser vierundzwanzig Gesänge keineswegs an
zahlreichen künstlerisch ganz gelungenen und so auch ganz befriedigenden Einzel¬
darstellungen; und wen kraftvolles Streben erfreut, auch wo es nicht völlig
siegreich ist, den werden auch die unvollkommeneren Abschnitte in ihrem großen
Ringen anziehen. Die Dichterin hat sich nach diesem Hauptwerk umgrenzteren
Aufgaben zugewandt und namentlich auf dem Felde der Dramatik einige schöne
Früchte geerntet. Ihr Trauerspiel "Schlagende Wetter" sollte gebührenderweise
neben Hauptmanns "Webern" genannt werden; ihre "Schwäne am Land"
befremden, aber befremden in erhebender Weise, durch eine mit Konsequenz zur
Grausamkeit geführte Leidenschaft ethischer Forderungen; das symbolische Traum¬
drama "Der Schatten" vermag freilich den Leser (und erst recht wohl den
Hörer) nicht gänzlich zu befriedigen, aber was hier ins bedrücklich Unklare
führt, ist doch wieder wie beim "Robespierre" ein ehrenvolles Ringen um das
Bedeutendste.

Es ist das leise tragische Merkmal Marie Eugenie delle Grazies, daß sie ihr
großes Können gern an übergroße Aufgaben setzt, anders ausgedrückt: daß ihr


(österreichische Dichterinnen

Bei solcher Auffassung des Göttlichen ist es begreiflich, daß die Dichterin
in der gesamten Menschheitsgeschichte nur ein „Blutmeer", in der französischen
Revolution nur eine riesenhafte Blutwelle dieses Ozeans sieht. Und an der
Trostlosigkeit solcher Anschauung scheint es mir vor allem zu liegen, daß dieses
große von Mitleid durchtränkte Werk den Leser nicht durch Zerschmetterung zur
Erhebung führt, sondern ihn schließlich nur mit der Unsumme seiner Schreckens¬
bilder abstumpft und belastet. Denn wie soll erheben können, wem selber so
gänzlich der Glaube an jede Möglichkeit des Aufwärts fehlt?

Die von der Grundanschauung ausgehende Ermüdung macht sich bei der
Lektüre einzelner Abschnitte dadurch noch fühlbarer, daß die gestaltende Kraft
M. E. delle Grazies gelegentlich unter der getürmten Masse des wissenschaft¬
lichen Materials zusammenbricht. Aber neben toten Stellen findet sich doch
immer wieder stärkstes Leben. Meisterlich sind einzelne hervorragende Gestalten,
wie Robespierre, Mirabeau, Danton charakterisiert, glühend tritt der Gegensatz
zwischen dem Versailler Hof und den Elendqnartieren der Hauptstadt hervor,
balladisches Grausen geht von der Schilderung der zum gigantischen Individuum
in eins geschmolzenen Masse aus:

So fehlt es der Überfülle dieser vierundzwanzig Gesänge keineswegs an
zahlreichen künstlerisch ganz gelungenen und so auch ganz befriedigenden Einzel¬
darstellungen; und wen kraftvolles Streben erfreut, auch wo es nicht völlig
siegreich ist, den werden auch die unvollkommeneren Abschnitte in ihrem großen
Ringen anziehen. Die Dichterin hat sich nach diesem Hauptwerk umgrenzteren
Aufgaben zugewandt und namentlich auf dem Felde der Dramatik einige schöne
Früchte geerntet. Ihr Trauerspiel „Schlagende Wetter" sollte gebührenderweise
neben Hauptmanns „Webern" genannt werden; ihre „Schwäne am Land"
befremden, aber befremden in erhebender Weise, durch eine mit Konsequenz zur
Grausamkeit geführte Leidenschaft ethischer Forderungen; das symbolische Traum¬
drama „Der Schatten" vermag freilich den Leser (und erst recht wohl den
Hörer) nicht gänzlich zu befriedigen, aber was hier ins bedrücklich Unklare
führt, ist doch wieder wie beim „Robespierre" ein ehrenvolles Ringen um das
Bedeutendste.

Es ist das leise tragische Merkmal Marie Eugenie delle Grazies, daß sie ihr
großes Können gern an übergroße Aufgaben setzt, anders ausgedrückt: daß ihr


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[0566] (österreichische Dichterinnen Bei solcher Auffassung des Göttlichen ist es begreiflich, daß die Dichterin in der gesamten Menschheitsgeschichte nur ein „Blutmeer", in der französischen Revolution nur eine riesenhafte Blutwelle dieses Ozeans sieht. Und an der Trostlosigkeit solcher Anschauung scheint es mir vor allem zu liegen, daß dieses große von Mitleid durchtränkte Werk den Leser nicht durch Zerschmetterung zur Erhebung führt, sondern ihn schließlich nur mit der Unsumme seiner Schreckens¬ bilder abstumpft und belastet. Denn wie soll erheben können, wem selber so gänzlich der Glaube an jede Möglichkeit des Aufwärts fehlt? Die von der Grundanschauung ausgehende Ermüdung macht sich bei der Lektüre einzelner Abschnitte dadurch noch fühlbarer, daß die gestaltende Kraft M. E. delle Grazies gelegentlich unter der getürmten Masse des wissenschaft¬ lichen Materials zusammenbricht. Aber neben toten Stellen findet sich doch immer wieder stärkstes Leben. Meisterlich sind einzelne hervorragende Gestalten, wie Robespierre, Mirabeau, Danton charakterisiert, glühend tritt der Gegensatz zwischen dem Versailler Hof und den Elendqnartieren der Hauptstadt hervor, balladisches Grausen geht von der Schilderung der zum gigantischen Individuum in eins geschmolzenen Masse aus: So fehlt es der Überfülle dieser vierundzwanzig Gesänge keineswegs an zahlreichen künstlerisch ganz gelungenen und so auch ganz befriedigenden Einzel¬ darstellungen; und wen kraftvolles Streben erfreut, auch wo es nicht völlig siegreich ist, den werden auch die unvollkommeneren Abschnitte in ihrem großen Ringen anziehen. Die Dichterin hat sich nach diesem Hauptwerk umgrenzteren Aufgaben zugewandt und namentlich auf dem Felde der Dramatik einige schöne Früchte geerntet. Ihr Trauerspiel „Schlagende Wetter" sollte gebührenderweise neben Hauptmanns „Webern" genannt werden; ihre „Schwäne am Land" befremden, aber befremden in erhebender Weise, durch eine mit Konsequenz zur Grausamkeit geführte Leidenschaft ethischer Forderungen; das symbolische Traum¬ drama „Der Schatten" vermag freilich den Leser (und erst recht wohl den Hörer) nicht gänzlich zu befriedigen, aber was hier ins bedrücklich Unklare führt, ist doch wieder wie beim „Robespierre" ein ehrenvolles Ringen um das Bedeutendste. Es ist das leise tragische Merkmal Marie Eugenie delle Grazies, daß sie ihr großes Können gern an übergroße Aufgaben setzt, anders ausgedrückt: daß ihr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/566>, abgerufen am 22.07.2024.