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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Österreichische Dichterinnen

Auf den modernen Boden, den die 1901 verstorbene Ada Christen tapfer
betrat, sah sich eine um zwei Jahrzehnte jüngere, jetzt auf der Höhe ihres
Lebens stehende Österreicherin mit solcher Selbstverständlichkeit gestellt, daß man
ihr heute jede formale Abweichung von moderner Üblichkeit gern als langweilig
und tantenhast altmodisch vorwirft. Marie Eugenie delle Grazie zählte kaum
zwanzig Jahre, als sie den Plan zu ihrem Epos "Robespierre" faßte, in dem
die naturalistische Darstellungsweise, zugleich aber auch die jüngste naturwissen¬
schaftliche Weltanschauung wohl zum ersten Male auf ein gewaltiges Thema
der historischen Dichtung angewandt werden sollte. Ein Glück, daß die junge
Dichterin in ihrer Gewissenhaftigkeit erst einmal Jahre an geschichtliche und
, philosophische Vorstudien setzte -- Jahre, in denen sie reifen durste; denn sonst
hätte im "Robespierre" doch wohl dieselbe kindliche Unfertigkeit Platz gegriffen,
die einer Reihe von Jugendarbeiten M. E. delle Grazies anhaftet. Dem Epos
künstlerische Vollendung zu geben, gelang auch der gereiften Dichterin nicht,
aber sie ging doch eine so beträchtliche Wegstrecke dem unendlich weit gesteckten
Ziel entgegen, daß man ihren "Robespierre" nicht ohne Bewunderung aus der
Hand zu legen vermag.

Im Mittelpunkt dieser Dichtung, in dem "Mysterien der Menschheit"
betitelten zwölften Gesang, malt M. E. delle Grazie mit heißen Farben eine
Viston, die der abtrünnige schwärmerische Priester Claude Fauchet im Jakobiner¬
kloster vom Wesen und Werden der Menschheit hat. Er sieht das Entstehen
der Erde, der Lebewesen, der Affenmenschen den heutigen Lehren der Wissenschaft
entsprechend, er steht den Wandel alles Lebendigen:

Es ist nichts als eine Wanderung der Materie, irgendwelch Geistiges
kommt nicht ins Spiel, in dieses Sinn- und ziellose Spiel einer schaffenstollen,
brutalen Gottheit, der die Dichterin solche Worte in den Mund legt:


Österreichische Dichterinnen

Auf den modernen Boden, den die 1901 verstorbene Ada Christen tapfer
betrat, sah sich eine um zwei Jahrzehnte jüngere, jetzt auf der Höhe ihres
Lebens stehende Österreicherin mit solcher Selbstverständlichkeit gestellt, daß man
ihr heute jede formale Abweichung von moderner Üblichkeit gern als langweilig
und tantenhast altmodisch vorwirft. Marie Eugenie delle Grazie zählte kaum
zwanzig Jahre, als sie den Plan zu ihrem Epos „Robespierre" faßte, in dem
die naturalistische Darstellungsweise, zugleich aber auch die jüngste naturwissen¬
schaftliche Weltanschauung wohl zum ersten Male auf ein gewaltiges Thema
der historischen Dichtung angewandt werden sollte. Ein Glück, daß die junge
Dichterin in ihrer Gewissenhaftigkeit erst einmal Jahre an geschichtliche und
, philosophische Vorstudien setzte — Jahre, in denen sie reifen durste; denn sonst
hätte im „Robespierre" doch wohl dieselbe kindliche Unfertigkeit Platz gegriffen,
die einer Reihe von Jugendarbeiten M. E. delle Grazies anhaftet. Dem Epos
künstlerische Vollendung zu geben, gelang auch der gereiften Dichterin nicht,
aber sie ging doch eine so beträchtliche Wegstrecke dem unendlich weit gesteckten
Ziel entgegen, daß man ihren „Robespierre" nicht ohne Bewunderung aus der
Hand zu legen vermag.

Im Mittelpunkt dieser Dichtung, in dem „Mysterien der Menschheit"
betitelten zwölften Gesang, malt M. E. delle Grazie mit heißen Farben eine
Viston, die der abtrünnige schwärmerische Priester Claude Fauchet im Jakobiner¬
kloster vom Wesen und Werden der Menschheit hat. Er sieht das Entstehen
der Erde, der Lebewesen, der Affenmenschen den heutigen Lehren der Wissenschaft
entsprechend, er steht den Wandel alles Lebendigen:

Es ist nichts als eine Wanderung der Materie, irgendwelch Geistiges
kommt nicht ins Spiel, in dieses Sinn- und ziellose Spiel einer schaffenstollen,
brutalen Gottheit, der die Dichterin solche Worte in den Mund legt:


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[0565] Österreichische Dichterinnen Auf den modernen Boden, den die 1901 verstorbene Ada Christen tapfer betrat, sah sich eine um zwei Jahrzehnte jüngere, jetzt auf der Höhe ihres Lebens stehende Österreicherin mit solcher Selbstverständlichkeit gestellt, daß man ihr heute jede formale Abweichung von moderner Üblichkeit gern als langweilig und tantenhast altmodisch vorwirft. Marie Eugenie delle Grazie zählte kaum zwanzig Jahre, als sie den Plan zu ihrem Epos „Robespierre" faßte, in dem die naturalistische Darstellungsweise, zugleich aber auch die jüngste naturwissen¬ schaftliche Weltanschauung wohl zum ersten Male auf ein gewaltiges Thema der historischen Dichtung angewandt werden sollte. Ein Glück, daß die junge Dichterin in ihrer Gewissenhaftigkeit erst einmal Jahre an geschichtliche und , philosophische Vorstudien setzte — Jahre, in denen sie reifen durste; denn sonst hätte im „Robespierre" doch wohl dieselbe kindliche Unfertigkeit Platz gegriffen, die einer Reihe von Jugendarbeiten M. E. delle Grazies anhaftet. Dem Epos künstlerische Vollendung zu geben, gelang auch der gereiften Dichterin nicht, aber sie ging doch eine so beträchtliche Wegstrecke dem unendlich weit gesteckten Ziel entgegen, daß man ihren „Robespierre" nicht ohne Bewunderung aus der Hand zu legen vermag. Im Mittelpunkt dieser Dichtung, in dem „Mysterien der Menschheit" betitelten zwölften Gesang, malt M. E. delle Grazie mit heißen Farben eine Viston, die der abtrünnige schwärmerische Priester Claude Fauchet im Jakobiner¬ kloster vom Wesen und Werden der Menschheit hat. Er sieht das Entstehen der Erde, der Lebewesen, der Affenmenschen den heutigen Lehren der Wissenschaft entsprechend, er steht den Wandel alles Lebendigen: Es ist nichts als eine Wanderung der Materie, irgendwelch Geistiges kommt nicht ins Spiel, in dieses Sinn- und ziellose Spiel einer schaffenstollen, brutalen Gottheit, der die Dichterin solche Worte in den Mund legt:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/565>, abgerufen am 22.07.2024.