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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Österreichische Dichterinnen

aus der damals verbreiteten Geschmacksrichtung heraus die Sache nennt. Ada
Christen gebraucht zu häufig das Wort "Elend"; sie fühlt sich elend, sie bewegt
sich in elender Gesellschaft, sie schildert andauernd eigenes und fremdes, mate¬
rielles und seelisches Elend. Von heiterer und anmutiger Poesie ist in ihren
"Liedern einer Verlorenen" ebensowenig zu bemerken wie in ihren späteren Gedichts¬
sammlungen. Und dieser Mangel erscheint Lindau sehr viel gräulicher als alles
Heine-Kopieren, alle Flachheit der Form und Untiefe des Gedankens. Wie
bezeichnend für die literarische Geschmackswandlung im letzten Menschenalter ist
es nun, daß gerade um dieses scheinbar schlimmsten Mangels willen das Fort¬
leben der wenig genialen Frau gesichert ist, daß man ihre handgreiflichen
Schwächen verzeiht um der Leidenschaft willen, mit der sie als eine der zeitigsten
unter den Dichtenden die Not der Elenden zum Thema nahm. Mit sicherem
Griff hat Richard M. Meyer aus einer Fülle von Versen, die größeren Anspruch
erheben und weniger sind, das kleine Gedicht "Not" (Sammlung: "Aus der
Tiefe") als besonders charakteristisch herausgegriffen:

All euer girrendes Herzeleid
Tut lange nicht so weh,
Wie WinterlMe im dünnen Kleid,
Die bloßen Füße im Schnee.
All eure romantische Seelennot
Schafft nicht so herbe Pein,
Wie ohne Dach und ohne Brot
Sich betten auf einen Stein.

Während sich Ada Christen mit solchen Versen in sozusagen internationaler
Weise als eine der ersten Dichterinnen oder doch als Vorläuferin der "neuen
Richtung" gibt, trägt ihre Prosa auch österreichisches Heimatgepräge. Und hier
ist ihr neben mehr durchschnittlich gearteten Skizzen und Novellen einmal zum
mindesten ein bedeutendes Werk gelungen. Was an ihrer "Vorstadtgeschichte
Jungfer Mutter" größeren Wert besitzt als die Schilderungen aus dem Alltag
armer Leute und dem Jammer einer glücklosen Ehe, scheint mir das ungemein
gerechte und tiefgreifende Abwägen der Charakteristik zu sein. Ein häßlicher
Invalide heiratet das schönste Mädchen des Vorstadthauses; die Flatterhafte
entzieht sich ihm bald, und er geht an seiner leidenschaftlichen Liebe zugrunde.
Doch nun ist weder die Frau als Teufelin, noch der Mann als Engel gezeichnet,
vielmehr besteht Lenes unerotische Sünde in einer völligen Gemütsstumpfheit
und einer im Kern nicht unhäßlichen Sehnsucht nach dem Schönen, die nur bei
der gänzlich Ungebildeten die abgeschmackte Richtung auf den Putz nimmt, und
der Mann wiederum sinkt in seiner Not zum wirklich häßlichen und rohen
Säufer hinab. In diesen seelischen Verkrüppelungen erst liegt doch wohl die
eigentlich dichterische Aufgabe der Elendmalerei. Und fo reiht sich Ada Christen
durch solches Charakterisieren enger und besser der Moderne an, als sich nach
manchem ihrer Gedichte vermuten läßt.


Österreichische Dichterinnen

aus der damals verbreiteten Geschmacksrichtung heraus die Sache nennt. Ada
Christen gebraucht zu häufig das Wort „Elend"; sie fühlt sich elend, sie bewegt
sich in elender Gesellschaft, sie schildert andauernd eigenes und fremdes, mate¬
rielles und seelisches Elend. Von heiterer und anmutiger Poesie ist in ihren
„Liedern einer Verlorenen" ebensowenig zu bemerken wie in ihren späteren Gedichts¬
sammlungen. Und dieser Mangel erscheint Lindau sehr viel gräulicher als alles
Heine-Kopieren, alle Flachheit der Form und Untiefe des Gedankens. Wie
bezeichnend für die literarische Geschmackswandlung im letzten Menschenalter ist
es nun, daß gerade um dieses scheinbar schlimmsten Mangels willen das Fort¬
leben der wenig genialen Frau gesichert ist, daß man ihre handgreiflichen
Schwächen verzeiht um der Leidenschaft willen, mit der sie als eine der zeitigsten
unter den Dichtenden die Not der Elenden zum Thema nahm. Mit sicherem
Griff hat Richard M. Meyer aus einer Fülle von Versen, die größeren Anspruch
erheben und weniger sind, das kleine Gedicht „Not" (Sammlung: „Aus der
Tiefe") als besonders charakteristisch herausgegriffen:

All euer girrendes Herzeleid
Tut lange nicht so weh,
Wie WinterlMe im dünnen Kleid,
Die bloßen Füße im Schnee.
All eure romantische Seelennot
Schafft nicht so herbe Pein,
Wie ohne Dach und ohne Brot
Sich betten auf einen Stein.

Während sich Ada Christen mit solchen Versen in sozusagen internationaler
Weise als eine der ersten Dichterinnen oder doch als Vorläuferin der „neuen
Richtung" gibt, trägt ihre Prosa auch österreichisches Heimatgepräge. Und hier
ist ihr neben mehr durchschnittlich gearteten Skizzen und Novellen einmal zum
mindesten ein bedeutendes Werk gelungen. Was an ihrer „Vorstadtgeschichte
Jungfer Mutter" größeren Wert besitzt als die Schilderungen aus dem Alltag
armer Leute und dem Jammer einer glücklosen Ehe, scheint mir das ungemein
gerechte und tiefgreifende Abwägen der Charakteristik zu sein. Ein häßlicher
Invalide heiratet das schönste Mädchen des Vorstadthauses; die Flatterhafte
entzieht sich ihm bald, und er geht an seiner leidenschaftlichen Liebe zugrunde.
Doch nun ist weder die Frau als Teufelin, noch der Mann als Engel gezeichnet,
vielmehr besteht Lenes unerotische Sünde in einer völligen Gemütsstumpfheit
und einer im Kern nicht unhäßlichen Sehnsucht nach dem Schönen, die nur bei
der gänzlich Ungebildeten die abgeschmackte Richtung auf den Putz nimmt, und
der Mann wiederum sinkt in seiner Not zum wirklich häßlichen und rohen
Säufer hinab. In diesen seelischen Verkrüppelungen erst liegt doch wohl die
eigentlich dichterische Aufgabe der Elendmalerei. Und fo reiht sich Ada Christen
durch solches Charakterisieren enger und besser der Moderne an, als sich nach
manchem ihrer Gedichte vermuten läßt.


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[0564] Österreichische Dichterinnen aus der damals verbreiteten Geschmacksrichtung heraus die Sache nennt. Ada Christen gebraucht zu häufig das Wort „Elend"; sie fühlt sich elend, sie bewegt sich in elender Gesellschaft, sie schildert andauernd eigenes und fremdes, mate¬ rielles und seelisches Elend. Von heiterer und anmutiger Poesie ist in ihren „Liedern einer Verlorenen" ebensowenig zu bemerken wie in ihren späteren Gedichts¬ sammlungen. Und dieser Mangel erscheint Lindau sehr viel gräulicher als alles Heine-Kopieren, alle Flachheit der Form und Untiefe des Gedankens. Wie bezeichnend für die literarische Geschmackswandlung im letzten Menschenalter ist es nun, daß gerade um dieses scheinbar schlimmsten Mangels willen das Fort¬ leben der wenig genialen Frau gesichert ist, daß man ihre handgreiflichen Schwächen verzeiht um der Leidenschaft willen, mit der sie als eine der zeitigsten unter den Dichtenden die Not der Elenden zum Thema nahm. Mit sicherem Griff hat Richard M. Meyer aus einer Fülle von Versen, die größeren Anspruch erheben und weniger sind, das kleine Gedicht „Not" (Sammlung: „Aus der Tiefe") als besonders charakteristisch herausgegriffen: All euer girrendes Herzeleid Tut lange nicht so weh, Wie WinterlMe im dünnen Kleid, Die bloßen Füße im Schnee. All eure romantische Seelennot Schafft nicht so herbe Pein, Wie ohne Dach und ohne Brot Sich betten auf einen Stein. Während sich Ada Christen mit solchen Versen in sozusagen internationaler Weise als eine der ersten Dichterinnen oder doch als Vorläuferin der „neuen Richtung" gibt, trägt ihre Prosa auch österreichisches Heimatgepräge. Und hier ist ihr neben mehr durchschnittlich gearteten Skizzen und Novellen einmal zum mindesten ein bedeutendes Werk gelungen. Was an ihrer „Vorstadtgeschichte Jungfer Mutter" größeren Wert besitzt als die Schilderungen aus dem Alltag armer Leute und dem Jammer einer glücklosen Ehe, scheint mir das ungemein gerechte und tiefgreifende Abwägen der Charakteristik zu sein. Ein häßlicher Invalide heiratet das schönste Mädchen des Vorstadthauses; die Flatterhafte entzieht sich ihm bald, und er geht an seiner leidenschaftlichen Liebe zugrunde. Doch nun ist weder die Frau als Teufelin, noch der Mann als Engel gezeichnet, vielmehr besteht Lenes unerotische Sünde in einer völligen Gemütsstumpfheit und einer im Kern nicht unhäßlichen Sehnsucht nach dem Schönen, die nur bei der gänzlich Ungebildeten die abgeschmackte Richtung auf den Putz nimmt, und der Mann wiederum sinkt in seiner Not zum wirklich häßlichen und rohen Säufer hinab. In diesen seelischen Verkrüppelungen erst liegt doch wohl die eigentlich dichterische Aufgabe der Elendmalerei. Und fo reiht sich Ada Christen durch solches Charakterisieren enger und besser der Moderne an, als sich nach manchem ihrer Gedichte vermuten läßt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/564>, abgerufen am 22.07.2024.