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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Geburtenvcrhütung und Volksvermehrung

Leider befinden wir uns jetzt noch in einem Übergangszustande, der wie
alle derartigen Stadien etwas sehr Gefährliches an sich hat.

Selbst wenn einige kulturell wertvolle Völker in diesem Übergangsstadium
vom primitiven zum rationellen Fortpflanzungstypus Schaden leiden oder gar zu¬
grunde gehen sollten, würde das nichts gegen den letzteren beweisen. Es ist
schlechterdings unmöglich, zu dem primitiven Typus zurückzukehren, namentlich
nicht in einem Lande, in dem wie in Deutschland die Volksbildung so allgemein
ist, daß, nachdem einmal die Kenntnis der Präventivmittel ins Volk eingedrungen
ist, sie sich auch in wenigen Jahrzehnten gleichmäßig bis in den letzten Winkel
verbreiten wird. Außerdem wird die kürzlich beschlossene Ausdehnung der
Krankenversicherung auf die landwirtschaftlichen Arbeiter die Benutzung medi¬
zinischer Apparate, die, wie etwa der Irrigator, zu Heilzwecken ärztlicherseits
verordnet, zugleich aber von der Bevölkerung zu Präventivmaßnahmen weiter¬
benutzt zu werden pflegen, auch der ärmsten Tagelöhnerfrau zugänglich machen.

Es ist vollständig aussichtslos, die Kenntnis der Präventivmittel und diese
selbst noch durch polizeiliche Maßnahmen fernzuhalten. Es geht also nicht mehr
an, über die Präventivmittel vornehm wegzuheben oder gar auf sie zu schimpfen,
sondern es gilt, die richtigen Regeln zu finden und sie so anzuwenden, daß
einerseits die naive Produktion zahlreicher und minderwertiger, sich überstürzender,
zur unpassenden Zeit erscheinender Früchte verhindert wird, anderseits aber auch
eine den Bevölkerungsauftrieb sichernde Anzahl gut qualifizierter, in richtigen
Zeitabständen folgender, in der zur Aufzucht günstigsten Zeit geborener Kinder
gewährleistet wird.

Bedauerlich ist, daß gegenwärtig der Bevölkerung, die schon zum großen
Teile im Besitz von Kenntnis und Übung der Präventivmittel ist, jede Führung
durch Sitte, Gewohnheit, Belehrung usw. fehlt, da die Geistlichen als Vertreter
des primitiven Typus durchaus abgelehnt werden, die Behörden sich indifferent
verhalten und selbst die Ärzte, die die nächsten zu dieser Führerschaft wären,
diesen Fragen noch völlig ratlos gegenüberstehen. Infolge dieser Führerlosigkeit
hat sich der Durchschnittsbürger das Zweikindersystem geschaffen, von der nahe¬
liegenden, aber grundfalschen Voraussetzung ausgehend, daß zum Ersatz eines
Elternpaares zwei Kinder ausreichen und damit der Volksvermehrung Genüge
geschehen sei. Grundfalsch ist diese Annahme, weil, wie Fahlbec!*) aufrechnet,
"das Zweikindersystem selbst unter der utopischen Annahme, daß 33 Prozent
aller Frauen im gebärenden Alter verheiratet seien, jährlich eine Verminderung
von ungefähr 9 pro Mille der Volksmenge herbeiführen würde, wodurch sie,
wenn sie sich selbst überlassen wäre, schon nach siebenundsiebzig Jahren auf die
Hälfte reduziert sein würde".

Das Zweikindersystem ist also auf jeden Fall zu verwerfen, da es die
Bevölkerung auf den Aussterbeetat setzt und somit die Verneinung der Gesell¬
schaft selbst bedeutet. An seine Stelle ist eine andere Regel zu setzen, die den



*) P, E. Fcchlbeck, "Der Adel Schwedens". Jena, Gustav Fischer, 1903.
Geburtenvcrhütung und Volksvermehrung

Leider befinden wir uns jetzt noch in einem Übergangszustande, der wie
alle derartigen Stadien etwas sehr Gefährliches an sich hat.

Selbst wenn einige kulturell wertvolle Völker in diesem Übergangsstadium
vom primitiven zum rationellen Fortpflanzungstypus Schaden leiden oder gar zu¬
grunde gehen sollten, würde das nichts gegen den letzteren beweisen. Es ist
schlechterdings unmöglich, zu dem primitiven Typus zurückzukehren, namentlich
nicht in einem Lande, in dem wie in Deutschland die Volksbildung so allgemein
ist, daß, nachdem einmal die Kenntnis der Präventivmittel ins Volk eingedrungen
ist, sie sich auch in wenigen Jahrzehnten gleichmäßig bis in den letzten Winkel
verbreiten wird. Außerdem wird die kürzlich beschlossene Ausdehnung der
Krankenversicherung auf die landwirtschaftlichen Arbeiter die Benutzung medi¬
zinischer Apparate, die, wie etwa der Irrigator, zu Heilzwecken ärztlicherseits
verordnet, zugleich aber von der Bevölkerung zu Präventivmaßnahmen weiter¬
benutzt zu werden pflegen, auch der ärmsten Tagelöhnerfrau zugänglich machen.

Es ist vollständig aussichtslos, die Kenntnis der Präventivmittel und diese
selbst noch durch polizeiliche Maßnahmen fernzuhalten. Es geht also nicht mehr
an, über die Präventivmittel vornehm wegzuheben oder gar auf sie zu schimpfen,
sondern es gilt, die richtigen Regeln zu finden und sie so anzuwenden, daß
einerseits die naive Produktion zahlreicher und minderwertiger, sich überstürzender,
zur unpassenden Zeit erscheinender Früchte verhindert wird, anderseits aber auch
eine den Bevölkerungsauftrieb sichernde Anzahl gut qualifizierter, in richtigen
Zeitabständen folgender, in der zur Aufzucht günstigsten Zeit geborener Kinder
gewährleistet wird.

Bedauerlich ist, daß gegenwärtig der Bevölkerung, die schon zum großen
Teile im Besitz von Kenntnis und Übung der Präventivmittel ist, jede Führung
durch Sitte, Gewohnheit, Belehrung usw. fehlt, da die Geistlichen als Vertreter
des primitiven Typus durchaus abgelehnt werden, die Behörden sich indifferent
verhalten und selbst die Ärzte, die die nächsten zu dieser Führerschaft wären,
diesen Fragen noch völlig ratlos gegenüberstehen. Infolge dieser Führerlosigkeit
hat sich der Durchschnittsbürger das Zweikindersystem geschaffen, von der nahe¬
liegenden, aber grundfalschen Voraussetzung ausgehend, daß zum Ersatz eines
Elternpaares zwei Kinder ausreichen und damit der Volksvermehrung Genüge
geschehen sei. Grundfalsch ist diese Annahme, weil, wie Fahlbec!*) aufrechnet,
„das Zweikindersystem selbst unter der utopischen Annahme, daß 33 Prozent
aller Frauen im gebärenden Alter verheiratet seien, jährlich eine Verminderung
von ungefähr 9 pro Mille der Volksmenge herbeiführen würde, wodurch sie,
wenn sie sich selbst überlassen wäre, schon nach siebenundsiebzig Jahren auf die
Hälfte reduziert sein würde".

Das Zweikindersystem ist also auf jeden Fall zu verwerfen, da es die
Bevölkerung auf den Aussterbeetat setzt und somit die Verneinung der Gesell¬
schaft selbst bedeutet. An seine Stelle ist eine andere Regel zu setzen, die den



*) P, E. Fcchlbeck, „Der Adel Schwedens". Jena, Gustav Fischer, 1903.
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[0560] Geburtenvcrhütung und Volksvermehrung Leider befinden wir uns jetzt noch in einem Übergangszustande, der wie alle derartigen Stadien etwas sehr Gefährliches an sich hat. Selbst wenn einige kulturell wertvolle Völker in diesem Übergangsstadium vom primitiven zum rationellen Fortpflanzungstypus Schaden leiden oder gar zu¬ grunde gehen sollten, würde das nichts gegen den letzteren beweisen. Es ist schlechterdings unmöglich, zu dem primitiven Typus zurückzukehren, namentlich nicht in einem Lande, in dem wie in Deutschland die Volksbildung so allgemein ist, daß, nachdem einmal die Kenntnis der Präventivmittel ins Volk eingedrungen ist, sie sich auch in wenigen Jahrzehnten gleichmäßig bis in den letzten Winkel verbreiten wird. Außerdem wird die kürzlich beschlossene Ausdehnung der Krankenversicherung auf die landwirtschaftlichen Arbeiter die Benutzung medi¬ zinischer Apparate, die, wie etwa der Irrigator, zu Heilzwecken ärztlicherseits verordnet, zugleich aber von der Bevölkerung zu Präventivmaßnahmen weiter¬ benutzt zu werden pflegen, auch der ärmsten Tagelöhnerfrau zugänglich machen. Es ist vollständig aussichtslos, die Kenntnis der Präventivmittel und diese selbst noch durch polizeiliche Maßnahmen fernzuhalten. Es geht also nicht mehr an, über die Präventivmittel vornehm wegzuheben oder gar auf sie zu schimpfen, sondern es gilt, die richtigen Regeln zu finden und sie so anzuwenden, daß einerseits die naive Produktion zahlreicher und minderwertiger, sich überstürzender, zur unpassenden Zeit erscheinender Früchte verhindert wird, anderseits aber auch eine den Bevölkerungsauftrieb sichernde Anzahl gut qualifizierter, in richtigen Zeitabständen folgender, in der zur Aufzucht günstigsten Zeit geborener Kinder gewährleistet wird. Bedauerlich ist, daß gegenwärtig der Bevölkerung, die schon zum großen Teile im Besitz von Kenntnis und Übung der Präventivmittel ist, jede Führung durch Sitte, Gewohnheit, Belehrung usw. fehlt, da die Geistlichen als Vertreter des primitiven Typus durchaus abgelehnt werden, die Behörden sich indifferent verhalten und selbst die Ärzte, die die nächsten zu dieser Führerschaft wären, diesen Fragen noch völlig ratlos gegenüberstehen. Infolge dieser Führerlosigkeit hat sich der Durchschnittsbürger das Zweikindersystem geschaffen, von der nahe¬ liegenden, aber grundfalschen Voraussetzung ausgehend, daß zum Ersatz eines Elternpaares zwei Kinder ausreichen und damit der Volksvermehrung Genüge geschehen sei. Grundfalsch ist diese Annahme, weil, wie Fahlbec!*) aufrechnet, „das Zweikindersystem selbst unter der utopischen Annahme, daß 33 Prozent aller Frauen im gebärenden Alter verheiratet seien, jährlich eine Verminderung von ungefähr 9 pro Mille der Volksmenge herbeiführen würde, wodurch sie, wenn sie sich selbst überlassen wäre, schon nach siebenundsiebzig Jahren auf die Hälfte reduziert sein würde". Das Zweikindersystem ist also auf jeden Fall zu verwerfen, da es die Bevölkerung auf den Aussterbeetat setzt und somit die Verneinung der Gesell¬ schaft selbst bedeutet. An seine Stelle ist eine andere Regel zu setzen, die den *) P, E. Fcchlbeck, „Der Adel Schwedens". Jena, Gustav Fischer, 1903.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/560>, abgerufen am 22.07.2024.