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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Geburtenverhütuug und Volksvermehrung

gewisse Schranke auferlegt. In den früheren Epochen der Geschichte, in denen
die Völker nur von Hungersnot, Seuche und Krieg ständig großen Verlusten
an Menschenleben ausgesetzt waren, konnte allein dieser Typus die Weiter¬
existenz eines Volkes verbürgen.

Sitte. Sittlichkeit und Recht taten daher wohl, wenn sie -- meistens im
Gewände religiöser Vorschriften -- diesen Typus stützten. Man muß dieseni
Verfahren in der Tat das Verdienst zuerkennen, daß es fähig ist, ein Volk
über die denkbar schwersten Einbußen von Menschenleben fortzuhelfen. Auf der
anderen Seite hat dieser Proliferationstypus Härten, die mit steigender Kultur
schwer empfunden werden. Er läßt sich nur aufrecht erhalten durch eine rück¬
sichtslose Ausbeutung der Kräfte der Frauen, die in der Regel mit dem Aus¬
schluß der Frauen von den Kulturgütern überhaupt einhergehen wird. Ferner
liefert dieses primitive Verfahren stets eine große Anzahl minderwertiger
Individuen, deren Ausmerzung daun dem Kampfe ums Dasein überlassen
bleiben muß.

Soweit die kulturgeschichtliche Überlieferung reicht, sind denn auch Be¬
strebungen im Gange gewesen, diesen Härten des primitiven Typus auszuweichen.
Entweder haben das die Individuen selbst von Fall zu Fall durch freiwillige
Abstinenz vom Geschlechtsverkehr oder durch Abtreiben der Leibesfrucht oder
durch Aussetzen und Töten der neugeborenen Kinder versucht, oder die höheren
Schichten haben ihrerseits durch Zurückhaltung ihrer Frauen vom Sexualverkehr
und Verlegung des unvermeidlichen männlichen Geschlechtsverkehrs in die unteren
Bevölkerungsschichten die Hauptlasten auf letztere abgeschoben, die deshalb ja
auch die Römer die "proletarischen", d. i. die den Nachwuchs des Volkes
schaffenden Schichten nannten.

Endlich lernte der Mensch auch deu Geschlechtsverkehr in einer Weise aus¬
zuüben, daß dabei Befruchtung ausgeschlossen ist. Doch diese Formen der Ge-
burtenprnvention waren so geschmacklos in der Form, daß man sie mit Recht
unter die Laster und Verbrechen zählen konnte, und so unzuverlässig in der
Wirkung, daß sie für die Bevölkerungsbewegung als solche wohl bedeutungslos
waren. Aber die hochentwickelte Technik der Geburtenprävention, über die wir
erst seit einigen Jahrzehnten verfügen, ist mit der früherer Jahrhunderte gar
nicht zu vergleichen. Sie wirkt nicht geschmacklos, denn sonst würden sich nicht
ästhetisch verfeinerte und kulturell hochstehende Bevölkerungsschichren ihrer bedienen,
und sie ist nicht erfolglos, denn sonst würden nicht die oben angeführten Be¬
völkerungsschichten, die sich ihrer bedienen, einen solchen Rückgang der Geburten¬
ziffer erzielen.

Die Fähigkeit, den Geschlechtsverkehr sowohl unter dem Gesichtspunkte der
Erzielung von Nachkommenschaft wie unter dem der Vermeidung von Befruchtung
stattfinden zu lassen, ermöglicht uns, den primitiven Typus der menschlichen
Fortpflanzung völlig zu überwinden und an seine Stelle den rationellen Typus
zu setzen.


Geburtenverhütuug und Volksvermehrung

gewisse Schranke auferlegt. In den früheren Epochen der Geschichte, in denen
die Völker nur von Hungersnot, Seuche und Krieg ständig großen Verlusten
an Menschenleben ausgesetzt waren, konnte allein dieser Typus die Weiter¬
existenz eines Volkes verbürgen.

Sitte. Sittlichkeit und Recht taten daher wohl, wenn sie — meistens im
Gewände religiöser Vorschriften — diesen Typus stützten. Man muß dieseni
Verfahren in der Tat das Verdienst zuerkennen, daß es fähig ist, ein Volk
über die denkbar schwersten Einbußen von Menschenleben fortzuhelfen. Auf der
anderen Seite hat dieser Proliferationstypus Härten, die mit steigender Kultur
schwer empfunden werden. Er läßt sich nur aufrecht erhalten durch eine rück¬
sichtslose Ausbeutung der Kräfte der Frauen, die in der Regel mit dem Aus¬
schluß der Frauen von den Kulturgütern überhaupt einhergehen wird. Ferner
liefert dieses primitive Verfahren stets eine große Anzahl minderwertiger
Individuen, deren Ausmerzung daun dem Kampfe ums Dasein überlassen
bleiben muß.

Soweit die kulturgeschichtliche Überlieferung reicht, sind denn auch Be¬
strebungen im Gange gewesen, diesen Härten des primitiven Typus auszuweichen.
Entweder haben das die Individuen selbst von Fall zu Fall durch freiwillige
Abstinenz vom Geschlechtsverkehr oder durch Abtreiben der Leibesfrucht oder
durch Aussetzen und Töten der neugeborenen Kinder versucht, oder die höheren
Schichten haben ihrerseits durch Zurückhaltung ihrer Frauen vom Sexualverkehr
und Verlegung des unvermeidlichen männlichen Geschlechtsverkehrs in die unteren
Bevölkerungsschichten die Hauptlasten auf letztere abgeschoben, die deshalb ja
auch die Römer die „proletarischen", d. i. die den Nachwuchs des Volkes
schaffenden Schichten nannten.

Endlich lernte der Mensch auch deu Geschlechtsverkehr in einer Weise aus¬
zuüben, daß dabei Befruchtung ausgeschlossen ist. Doch diese Formen der Ge-
burtenprnvention waren so geschmacklos in der Form, daß man sie mit Recht
unter die Laster und Verbrechen zählen konnte, und so unzuverlässig in der
Wirkung, daß sie für die Bevölkerungsbewegung als solche wohl bedeutungslos
waren. Aber die hochentwickelte Technik der Geburtenprävention, über die wir
erst seit einigen Jahrzehnten verfügen, ist mit der früherer Jahrhunderte gar
nicht zu vergleichen. Sie wirkt nicht geschmacklos, denn sonst würden sich nicht
ästhetisch verfeinerte und kulturell hochstehende Bevölkerungsschichren ihrer bedienen,
und sie ist nicht erfolglos, denn sonst würden nicht die oben angeführten Be¬
völkerungsschichten, die sich ihrer bedienen, einen solchen Rückgang der Geburten¬
ziffer erzielen.

Die Fähigkeit, den Geschlechtsverkehr sowohl unter dem Gesichtspunkte der
Erzielung von Nachkommenschaft wie unter dem der Vermeidung von Befruchtung
stattfinden zu lassen, ermöglicht uns, den primitiven Typus der menschlichen
Fortpflanzung völlig zu überwinden und an seine Stelle den rationellen Typus
zu setzen.


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[0559] Geburtenverhütuug und Volksvermehrung gewisse Schranke auferlegt. In den früheren Epochen der Geschichte, in denen die Völker nur von Hungersnot, Seuche und Krieg ständig großen Verlusten an Menschenleben ausgesetzt waren, konnte allein dieser Typus die Weiter¬ existenz eines Volkes verbürgen. Sitte. Sittlichkeit und Recht taten daher wohl, wenn sie — meistens im Gewände religiöser Vorschriften — diesen Typus stützten. Man muß dieseni Verfahren in der Tat das Verdienst zuerkennen, daß es fähig ist, ein Volk über die denkbar schwersten Einbußen von Menschenleben fortzuhelfen. Auf der anderen Seite hat dieser Proliferationstypus Härten, die mit steigender Kultur schwer empfunden werden. Er läßt sich nur aufrecht erhalten durch eine rück¬ sichtslose Ausbeutung der Kräfte der Frauen, die in der Regel mit dem Aus¬ schluß der Frauen von den Kulturgütern überhaupt einhergehen wird. Ferner liefert dieses primitive Verfahren stets eine große Anzahl minderwertiger Individuen, deren Ausmerzung daun dem Kampfe ums Dasein überlassen bleiben muß. Soweit die kulturgeschichtliche Überlieferung reicht, sind denn auch Be¬ strebungen im Gange gewesen, diesen Härten des primitiven Typus auszuweichen. Entweder haben das die Individuen selbst von Fall zu Fall durch freiwillige Abstinenz vom Geschlechtsverkehr oder durch Abtreiben der Leibesfrucht oder durch Aussetzen und Töten der neugeborenen Kinder versucht, oder die höheren Schichten haben ihrerseits durch Zurückhaltung ihrer Frauen vom Sexualverkehr und Verlegung des unvermeidlichen männlichen Geschlechtsverkehrs in die unteren Bevölkerungsschichten die Hauptlasten auf letztere abgeschoben, die deshalb ja auch die Römer die „proletarischen", d. i. die den Nachwuchs des Volkes schaffenden Schichten nannten. Endlich lernte der Mensch auch deu Geschlechtsverkehr in einer Weise aus¬ zuüben, daß dabei Befruchtung ausgeschlossen ist. Doch diese Formen der Ge- burtenprnvention waren so geschmacklos in der Form, daß man sie mit Recht unter die Laster und Verbrechen zählen konnte, und so unzuverlässig in der Wirkung, daß sie für die Bevölkerungsbewegung als solche wohl bedeutungslos waren. Aber die hochentwickelte Technik der Geburtenprävention, über die wir erst seit einigen Jahrzehnten verfügen, ist mit der früherer Jahrhunderte gar nicht zu vergleichen. Sie wirkt nicht geschmacklos, denn sonst würden sich nicht ästhetisch verfeinerte und kulturell hochstehende Bevölkerungsschichren ihrer bedienen, und sie ist nicht erfolglos, denn sonst würden nicht die oben angeführten Be¬ völkerungsschichten, die sich ihrer bedienen, einen solchen Rückgang der Geburten¬ ziffer erzielen. Die Fähigkeit, den Geschlechtsverkehr sowohl unter dem Gesichtspunkte der Erzielung von Nachkommenschaft wie unter dem der Vermeidung von Befruchtung stattfinden zu lassen, ermöglicht uns, den primitiven Typus der menschlichen Fortpflanzung völlig zu überwinden und an seine Stelle den rationellen Typus zu setzen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/559>, abgerufen am 22.07.2024.