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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Geburtenverhütung und Volksvermehrung

Gestaltung des Artprozesses unerläßlich ist, dazu mißbraucht werden, die Zahl
der Kinder ganz unabhängig von ihrer Wertigkeit erheblich zu vermindern.

Diesen Mißbrauch der Geburtenprävention finden wir gegenwärtig in
einigen Bevölkerungsschichten sehr weit verbreitet, und zwar wird es hier aus¬
schließlich aus privatwirtschaftlichen und Bequemlichkeitsgründen angewandt, fast
niemals aus eugenischen Rücksichten, die der Massenpsyche gegenwärtig leider
noch völlig fern liegen.

Frankreich ist das Land, in dem man gegenwärtig dieses Phänomen am
deutlichsten und in seiner verhängnisvollsten Form studieren kann. Ein Sinken
der physischen Gebärsähigkeit der französischen Frauen ist nicht als die Haupt¬
ursache der sinkenden Geburtenhäufigkeit anzusprechen. Vielmehr ist diese eine
Folge der bewußten Kinderbeschränkung, der im heutigen Frankreich die über¬
wiegende Mehrzahl der Familien huldigt. Man hat sich gewöhnt, sür diese
Praxis das Wort "Zweikindersystem" zu gebrauchen. Es hat in der Tat
höchstens der dritte Teil der Familien in Frankreich mehr als zwei Kinder.
Die große Gefahr des Bevölkerungsrückgangs und damit des Verschwindens
aus der Reihe der großen Kulturvölker besteht übrigens nicht nur für Frank¬
reich. Es sei nur in dieser Richtung an das demographische Verhalten der
eingeborenen Dankeebevölkerung Amerikas, der australischen Weißen und der
emanzipierten Juden*) erinnert. Die Geburtenziffer der Bevölkerungen ist enorm
gesunken, und dieses ist ausschließlich auf die Anwendung der Präventivmittel
zurückzuführen. Auch in Deutschland gehen wir diesem Zustande entgegen.
Der Überschuß von achthunderttausend Geburten über die Sterbefälle jährlich
innerhalb des Gebietes des Deutschen Reiches besagt gegen diese Auffassung
gar nichts, da er im wesentlichen auf einer Abnahme der Sterblichkeit beruht
und an und sür sich von Jahr zu Jahr kleiner wird, so daß sich dein Auge
des Weiterblickenden auch für Deutschland bereits die Perspektive des Vevölkerungs-
stillstandes eröffnet**).

Um in der Frage der Geburtenprävention richtig entscheiden zu können,
empfiehlt es sich, zwei Typen der Volksvermehrung zu unterscheiden, den primi¬
tiven und den rationellen.

Der primitive Typus besteht darin, daß man soviel Kinder kommen läßt,
wie immer nur kommen wollen. Das Leben der Frau ist hier völlig ausgefüllt
von Schwangerschaft, Wochenbett und Stillzeit, die sich, nur durch Fehl- und
Frühgeburten unterbrochen, immer wiederholen. Erträglich ist dieser Zustand
unter rein agrarischen Verhältnissen, bei denen die Aufzucht der Kinder keine
besonderen Schwierigkeiten macht, und bei allgemeinem selbstverständlichen Selbst¬
stillen der Säuglinge, das dem schnellen Konzipieren nach der Geburt eine




") A, Theilhaber, "Der Untergang der deutschen Juden". München, Reinhardt, 1911.
**) Vgl. besonders P. Mombert, "Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutschland
in den letzten Jahrzehnten mit besonderer Berücksichtigung der ehelichen Fruchtbarkeit".
Karlsruhe, Braun, 1907.
Geburtenverhütung und Volksvermehrung

Gestaltung des Artprozesses unerläßlich ist, dazu mißbraucht werden, die Zahl
der Kinder ganz unabhängig von ihrer Wertigkeit erheblich zu vermindern.

Diesen Mißbrauch der Geburtenprävention finden wir gegenwärtig in
einigen Bevölkerungsschichten sehr weit verbreitet, und zwar wird es hier aus¬
schließlich aus privatwirtschaftlichen und Bequemlichkeitsgründen angewandt, fast
niemals aus eugenischen Rücksichten, die der Massenpsyche gegenwärtig leider
noch völlig fern liegen.

Frankreich ist das Land, in dem man gegenwärtig dieses Phänomen am
deutlichsten und in seiner verhängnisvollsten Form studieren kann. Ein Sinken
der physischen Gebärsähigkeit der französischen Frauen ist nicht als die Haupt¬
ursache der sinkenden Geburtenhäufigkeit anzusprechen. Vielmehr ist diese eine
Folge der bewußten Kinderbeschränkung, der im heutigen Frankreich die über¬
wiegende Mehrzahl der Familien huldigt. Man hat sich gewöhnt, sür diese
Praxis das Wort „Zweikindersystem" zu gebrauchen. Es hat in der Tat
höchstens der dritte Teil der Familien in Frankreich mehr als zwei Kinder.
Die große Gefahr des Bevölkerungsrückgangs und damit des Verschwindens
aus der Reihe der großen Kulturvölker besteht übrigens nicht nur für Frank¬
reich. Es sei nur in dieser Richtung an das demographische Verhalten der
eingeborenen Dankeebevölkerung Amerikas, der australischen Weißen und der
emanzipierten Juden*) erinnert. Die Geburtenziffer der Bevölkerungen ist enorm
gesunken, und dieses ist ausschließlich auf die Anwendung der Präventivmittel
zurückzuführen. Auch in Deutschland gehen wir diesem Zustande entgegen.
Der Überschuß von achthunderttausend Geburten über die Sterbefälle jährlich
innerhalb des Gebietes des Deutschen Reiches besagt gegen diese Auffassung
gar nichts, da er im wesentlichen auf einer Abnahme der Sterblichkeit beruht
und an und sür sich von Jahr zu Jahr kleiner wird, so daß sich dein Auge
des Weiterblickenden auch für Deutschland bereits die Perspektive des Vevölkerungs-
stillstandes eröffnet**).

Um in der Frage der Geburtenprävention richtig entscheiden zu können,
empfiehlt es sich, zwei Typen der Volksvermehrung zu unterscheiden, den primi¬
tiven und den rationellen.

Der primitive Typus besteht darin, daß man soviel Kinder kommen läßt,
wie immer nur kommen wollen. Das Leben der Frau ist hier völlig ausgefüllt
von Schwangerschaft, Wochenbett und Stillzeit, die sich, nur durch Fehl- und
Frühgeburten unterbrochen, immer wiederholen. Erträglich ist dieser Zustand
unter rein agrarischen Verhältnissen, bei denen die Aufzucht der Kinder keine
besonderen Schwierigkeiten macht, und bei allgemeinem selbstverständlichen Selbst¬
stillen der Säuglinge, das dem schnellen Konzipieren nach der Geburt eine




") A, Theilhaber, „Der Untergang der deutschen Juden". München, Reinhardt, 1911.
**) Vgl. besonders P. Mombert, „Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutschland
in den letzten Jahrzehnten mit besonderer Berücksichtigung der ehelichen Fruchtbarkeit".
Karlsruhe, Braun, 1907.
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[0558] Geburtenverhütung und Volksvermehrung Gestaltung des Artprozesses unerläßlich ist, dazu mißbraucht werden, die Zahl der Kinder ganz unabhängig von ihrer Wertigkeit erheblich zu vermindern. Diesen Mißbrauch der Geburtenprävention finden wir gegenwärtig in einigen Bevölkerungsschichten sehr weit verbreitet, und zwar wird es hier aus¬ schließlich aus privatwirtschaftlichen und Bequemlichkeitsgründen angewandt, fast niemals aus eugenischen Rücksichten, die der Massenpsyche gegenwärtig leider noch völlig fern liegen. Frankreich ist das Land, in dem man gegenwärtig dieses Phänomen am deutlichsten und in seiner verhängnisvollsten Form studieren kann. Ein Sinken der physischen Gebärsähigkeit der französischen Frauen ist nicht als die Haupt¬ ursache der sinkenden Geburtenhäufigkeit anzusprechen. Vielmehr ist diese eine Folge der bewußten Kinderbeschränkung, der im heutigen Frankreich die über¬ wiegende Mehrzahl der Familien huldigt. Man hat sich gewöhnt, sür diese Praxis das Wort „Zweikindersystem" zu gebrauchen. Es hat in der Tat höchstens der dritte Teil der Familien in Frankreich mehr als zwei Kinder. Die große Gefahr des Bevölkerungsrückgangs und damit des Verschwindens aus der Reihe der großen Kulturvölker besteht übrigens nicht nur für Frank¬ reich. Es sei nur in dieser Richtung an das demographische Verhalten der eingeborenen Dankeebevölkerung Amerikas, der australischen Weißen und der emanzipierten Juden*) erinnert. Die Geburtenziffer der Bevölkerungen ist enorm gesunken, und dieses ist ausschließlich auf die Anwendung der Präventivmittel zurückzuführen. Auch in Deutschland gehen wir diesem Zustande entgegen. Der Überschuß von achthunderttausend Geburten über die Sterbefälle jährlich innerhalb des Gebietes des Deutschen Reiches besagt gegen diese Auffassung gar nichts, da er im wesentlichen auf einer Abnahme der Sterblichkeit beruht und an und sür sich von Jahr zu Jahr kleiner wird, so daß sich dein Auge des Weiterblickenden auch für Deutschland bereits die Perspektive des Vevölkerungs- stillstandes eröffnet**). Um in der Frage der Geburtenprävention richtig entscheiden zu können, empfiehlt es sich, zwei Typen der Volksvermehrung zu unterscheiden, den primi¬ tiven und den rationellen. Der primitive Typus besteht darin, daß man soviel Kinder kommen läßt, wie immer nur kommen wollen. Das Leben der Frau ist hier völlig ausgefüllt von Schwangerschaft, Wochenbett und Stillzeit, die sich, nur durch Fehl- und Frühgeburten unterbrochen, immer wiederholen. Erträglich ist dieser Zustand unter rein agrarischen Verhältnissen, bei denen die Aufzucht der Kinder keine besonderen Schwierigkeiten macht, und bei allgemeinem selbstverständlichen Selbst¬ stillen der Säuglinge, das dem schnellen Konzipieren nach der Geburt eine ") A, Theilhaber, „Der Untergang der deutschen Juden". München, Reinhardt, 1911. **) Vgl. besonders P. Mombert, „Studien zur Bevölkerungsbewegung in Deutschland in den letzten Jahrzehnten mit besonderer Berücksichtigung der ehelichen Fruchtbarkeit". Karlsruhe, Braun, 1907.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/558>, abgerufen am 22.07.2024.