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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Individuen nicht aufheben, sondern, was viel schlimmer ist, insofern beein¬
trächtigen, als die erzeugten oder geborenen Nachkommen schlechter ausfallen
als die Eltern. Bestimmt wissen wir das z. B. vom Alkoholismus, von der
Bleikrankheit, von der Malaria usw. Die Bekämpfung dieser Krankheiten bis
zu ihrem vollständigen Verschwinden würde auch die ergiebigsten Quellen der
frei entstandenen Entartung verstopfen. Ferner ist wohl als sicher anzunehmen,
daß erworbene chronische Schwächezustände nicht die geeignete Körperverfassung
schaffen, in der tüchtige Nachkommen erzeugt, ausgetragen und geboren werden
können. Langdauernde Unterernährung, Überanstrengung, erworbene chronische
Erkrankungen dürften die Keimsubstanz schwerlich ohne dauernde Beeinträchtigung
lassen. Auch die sich überstürzenden Wochenbetten, die wir gegenwärtig so
häufig beobachten, dürften ähnlich wirken. Gegenwärtig werden noch unzählige
Früchte von Eltern hervorgebracht, die durch solche Schwächezustände in ihren
generativen Fähigkeiten beeinträchtigt sind. Alle ärztlichen, hygienischen und
sozialen Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, derartige Zustände zu verhindern
oder, wenn das nicht angeht, sie wenigstens zu mildern und abzukürzen, wirken
auch im Sinn einer Verhütung des Umsichgreifens degenerativer Tendenzen.
Es ist wohl denkbar, daß Heilkunde, Hygiene und Sozialpolitik einmal so voll¬
kommen entwickelt und so gut ineinander greifen werden, daß diese Wurzel
der qualitativen Entartung bis zur Bedeutungslosigkeit herabsänke oder gar
völlig ausgerottet würde.

Dann aber würde immer noch die andere, mindestens ebenso, vielleicht
aber in noch höherem Grade wichtige Wurzel der Minderwertigkeit bestehen
bleiben, nämlich die unendlichen Reihen der schwachen Konstitutionen, die in
der Vergangenheit aus unbekannter Ursache entstanden sind und ihre Minder¬
wertigkeit in eine ferne Zukunft weitergeben können. Sozialpolitik und Hygiene
wirken direkt nicht auf die Verkleinerung dieses Kontingentes hin. Es wäre im
Gegenteil möglich und ist auch mit guten Gründen behauptet worden, daß der
durch soziale Fürsorge gewährleistete Schutz der schwächlichen Individuen diese
vor einem für die Verhütung der Entartung wünschenswerten schnellen Dahin¬
sterben bewahrte und so die Entartungstendenz begünstigte.

Dieser Einwurf ist durchaus berechtigt. Denn wenn wir oben sahen, daß
es Krankheiten gibt, die unmittelbar eine Entartung rüstiger Individuen hervor¬
rufen und deren Beseitigung auch entartungsverhüteno wirkt, so dürfen wir doch
auch nicht übersehen, daß es weitverbreitete Krankheiten gibt, zu denen die
Individuen infolge ihrer schwachen Konstitution disponiert sind, daß diese
Krankheiten die Tendenz haben, derartige Individuen aus dem Artprozeß aus¬
zuschalten, und daß wir daher den Artprozeß ungünstig beeinflussen, wenn wir
durch Heilkunde, Hygiene und soziale Fürsorge diese Krankheiten zurückdämmen oder
beseitigen. Das gilt namentlich von den Nerven-, Herz- und Lungenkrankheiten.

Anderseits können wir unmöglich diesen Elementen die hygienische Obsorge
nur deshalb entziehen, damit sie dann nur ein paar Jahre früher sterben und


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Individuen nicht aufheben, sondern, was viel schlimmer ist, insofern beein¬
trächtigen, als die erzeugten oder geborenen Nachkommen schlechter ausfallen
als die Eltern. Bestimmt wissen wir das z. B. vom Alkoholismus, von der
Bleikrankheit, von der Malaria usw. Die Bekämpfung dieser Krankheiten bis
zu ihrem vollständigen Verschwinden würde auch die ergiebigsten Quellen der
frei entstandenen Entartung verstopfen. Ferner ist wohl als sicher anzunehmen,
daß erworbene chronische Schwächezustände nicht die geeignete Körperverfassung
schaffen, in der tüchtige Nachkommen erzeugt, ausgetragen und geboren werden
können. Langdauernde Unterernährung, Überanstrengung, erworbene chronische
Erkrankungen dürften die Keimsubstanz schwerlich ohne dauernde Beeinträchtigung
lassen. Auch die sich überstürzenden Wochenbetten, die wir gegenwärtig so
häufig beobachten, dürften ähnlich wirken. Gegenwärtig werden noch unzählige
Früchte von Eltern hervorgebracht, die durch solche Schwächezustände in ihren
generativen Fähigkeiten beeinträchtigt sind. Alle ärztlichen, hygienischen und
sozialen Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, derartige Zustände zu verhindern
oder, wenn das nicht angeht, sie wenigstens zu mildern und abzukürzen, wirken
auch im Sinn einer Verhütung des Umsichgreifens degenerativer Tendenzen.
Es ist wohl denkbar, daß Heilkunde, Hygiene und Sozialpolitik einmal so voll¬
kommen entwickelt und so gut ineinander greifen werden, daß diese Wurzel
der qualitativen Entartung bis zur Bedeutungslosigkeit herabsänke oder gar
völlig ausgerottet würde.

Dann aber würde immer noch die andere, mindestens ebenso, vielleicht
aber in noch höherem Grade wichtige Wurzel der Minderwertigkeit bestehen
bleiben, nämlich die unendlichen Reihen der schwachen Konstitutionen, die in
der Vergangenheit aus unbekannter Ursache entstanden sind und ihre Minder¬
wertigkeit in eine ferne Zukunft weitergeben können. Sozialpolitik und Hygiene
wirken direkt nicht auf die Verkleinerung dieses Kontingentes hin. Es wäre im
Gegenteil möglich und ist auch mit guten Gründen behauptet worden, daß der
durch soziale Fürsorge gewährleistete Schutz der schwächlichen Individuen diese
vor einem für die Verhütung der Entartung wünschenswerten schnellen Dahin¬
sterben bewahrte und so die Entartungstendenz begünstigte.

Dieser Einwurf ist durchaus berechtigt. Denn wenn wir oben sahen, daß
es Krankheiten gibt, die unmittelbar eine Entartung rüstiger Individuen hervor¬
rufen und deren Beseitigung auch entartungsverhüteno wirkt, so dürfen wir doch
auch nicht übersehen, daß es weitverbreitete Krankheiten gibt, zu denen die
Individuen infolge ihrer schwachen Konstitution disponiert sind, daß diese
Krankheiten die Tendenz haben, derartige Individuen aus dem Artprozeß aus¬
zuschalten, und daß wir daher den Artprozeß ungünstig beeinflussen, wenn wir
durch Heilkunde, Hygiene und soziale Fürsorge diese Krankheiten zurückdämmen oder
beseitigen. Das gilt namentlich von den Nerven-, Herz- und Lungenkrankheiten.

Anderseits können wir unmöglich diesen Elementen die hygienische Obsorge
nur deshalb entziehen, damit sie dann nur ein paar Jahre früher sterben und


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[0555] Gcburtcnverhütung und volksvcrmehrung Individuen nicht aufheben, sondern, was viel schlimmer ist, insofern beein¬ trächtigen, als die erzeugten oder geborenen Nachkommen schlechter ausfallen als die Eltern. Bestimmt wissen wir das z. B. vom Alkoholismus, von der Bleikrankheit, von der Malaria usw. Die Bekämpfung dieser Krankheiten bis zu ihrem vollständigen Verschwinden würde auch die ergiebigsten Quellen der frei entstandenen Entartung verstopfen. Ferner ist wohl als sicher anzunehmen, daß erworbene chronische Schwächezustände nicht die geeignete Körperverfassung schaffen, in der tüchtige Nachkommen erzeugt, ausgetragen und geboren werden können. Langdauernde Unterernährung, Überanstrengung, erworbene chronische Erkrankungen dürften die Keimsubstanz schwerlich ohne dauernde Beeinträchtigung lassen. Auch die sich überstürzenden Wochenbetten, die wir gegenwärtig so häufig beobachten, dürften ähnlich wirken. Gegenwärtig werden noch unzählige Früchte von Eltern hervorgebracht, die durch solche Schwächezustände in ihren generativen Fähigkeiten beeinträchtigt sind. Alle ärztlichen, hygienischen und sozialen Maßnahmen, die darauf gerichtet sind, derartige Zustände zu verhindern oder, wenn das nicht angeht, sie wenigstens zu mildern und abzukürzen, wirken auch im Sinn einer Verhütung des Umsichgreifens degenerativer Tendenzen. Es ist wohl denkbar, daß Heilkunde, Hygiene und Sozialpolitik einmal so voll¬ kommen entwickelt und so gut ineinander greifen werden, daß diese Wurzel der qualitativen Entartung bis zur Bedeutungslosigkeit herabsänke oder gar völlig ausgerottet würde. Dann aber würde immer noch die andere, mindestens ebenso, vielleicht aber in noch höherem Grade wichtige Wurzel der Minderwertigkeit bestehen bleiben, nämlich die unendlichen Reihen der schwachen Konstitutionen, die in der Vergangenheit aus unbekannter Ursache entstanden sind und ihre Minder¬ wertigkeit in eine ferne Zukunft weitergeben können. Sozialpolitik und Hygiene wirken direkt nicht auf die Verkleinerung dieses Kontingentes hin. Es wäre im Gegenteil möglich und ist auch mit guten Gründen behauptet worden, daß der durch soziale Fürsorge gewährleistete Schutz der schwächlichen Individuen diese vor einem für die Verhütung der Entartung wünschenswerten schnellen Dahin¬ sterben bewahrte und so die Entartungstendenz begünstigte. Dieser Einwurf ist durchaus berechtigt. Denn wenn wir oben sahen, daß es Krankheiten gibt, die unmittelbar eine Entartung rüstiger Individuen hervor¬ rufen und deren Beseitigung auch entartungsverhüteno wirkt, so dürfen wir doch auch nicht übersehen, daß es weitverbreitete Krankheiten gibt, zu denen die Individuen infolge ihrer schwachen Konstitution disponiert sind, daß diese Krankheiten die Tendenz haben, derartige Individuen aus dem Artprozeß aus¬ zuschalten, und daß wir daher den Artprozeß ungünstig beeinflussen, wenn wir durch Heilkunde, Hygiene und soziale Fürsorge diese Krankheiten zurückdämmen oder beseitigen. Das gilt namentlich von den Nerven-, Herz- und Lungenkrankheiten. Anderseits können wir unmöglich diesen Elementen die hygienische Obsorge nur deshalb entziehen, damit sie dann nur ein paar Jahre früher sterben und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/555>, abgerufen am 22.07.2024.