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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Gebnrtenverhürung und Volksvermehrung

Tendenz -- bei unseren Kulturvölkern schon so wirksam und schon so verbreitet
sind, daß sie einer allgemeinen Degeneration entgegengehen, wie die Römer der
nachchristlichen Zeit.

Jedenfalls dürfte es wohl nicht übertrieben sein, wenn man die Summe
aller Individuen, die in irgendeiner Weise somatisch oder psychisch minder¬
wertig sind, auf ein volles Drittel unserer Gesamtbevölkerung schätzt.
Dieses Resultat ist betrübend, selbst wenn man zugibt, daß es noch nicht den
Eintritt einer allgemeinen Entartung zu bedeuten braucht. Es kommt nun alles
darauf an, zu wissen, ob dieser Prozentsatz der Minderwertigen in den einzelnen
Kulturländern abnimmt oder zunimmt, und deshalb ist es so überaus wichtig,
daß Bevölkerungsstatistik, Gebrechenstatistik, medizinische Stammbaumforschung
und Anthropometrie nach der Richtung hin ausgebaut werden, daß wir diese
Frage beantworten können.

Lehrt uns die Bevölkerungsstatistik, daß ein Volk sich in normaler Weise
vermehrt, die Gebrechenstatistik, daß die Körperfehler von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
abnehmen, und endlich die Anthropometrie, daß Körpergröße und Brustumfang
mindestens nicht sinken, so kann man von dieser Bevölkerung sagen, daß in ihr
die Entartungserscheinungen keine Neigung haben, sich zu einer verhängnisvollen
allgemeinen Entartung auszuwachsen. Ehe aber dieser Beweis nicht Ziffern-
mäßig geführt ist, sollten wir uns doch vor jedem Optimismus hüten. Gerade
weil wir heute wissen, daß die verschwundenen Kulturvölker der Vergangenheit
keineswegs sich einer größeren Gesundheit und Körperkraft erfreut haben als
wir, sondern ebenso sehr oder gar noch mehr von krankhaften Zuständen und
Gebrechen geplagt worden sind, sollten wir uns an ihrem Schicksal ein Beispiel
nehmen und uns nicht mit der Vorstellung beruhigen, daß ihr Verfall lediglich
politischen und kulturellen Ursachen zuzuschreiben ist. Es ist höchst wahrscheinlich,
daß bei ihnen auch eine weitgehende Verschlechterung des physischen Substrates
stattgefunden hat und es deshalb erst einer vollständigen Erneuerung der Be¬
völkerung bedürfte, um auch eine neue Kultur hervorzubringen.

Zahlreiche minderwertige Individuen haben ihren Defekt von den Eltern
ererbt und werden, da diese Defekte in den meisten Fällen nicht ausreichen, sie
unfruchtbar zu machen, ihre Minderwertigkeit auf ihre Deszendenten weiter¬
vererben. So sind unendliche Reihen von entarteten Konstitutionen denkbar,
deren Ende nicht abzusehen ist, die aber alle einmal ihren Ursprung aus voll¬
wertigen Individuen genommen haben müssen. Neben der angeerbten muß es
also eine frei entstandene Minderwertigkeit geben, -- dieses Wort niemals im
Sinne des erworbenen aber nicht vererbbarem Defektes, sondern wie überall in
diesen Ausführungen als eine auf die Nachkommen übertragbare aufgefaßt.

Wollen wir die Armee der Minderwertigen verkleinern, so ist vor allen
Dingen erforderlich, daß wir ihr diesen frischen Zuzug abschneiden. Ist es doch
schon schlimm genug, daß sie imstande ist, sich durch Erbgang selbst zu ergänzen.
Wir wissen von zahlreichen Krankheiten, daß sie die Zeugungsfähigkeit rüstiger


Gebnrtenverhürung und Volksvermehrung

Tendenz — bei unseren Kulturvölkern schon so wirksam und schon so verbreitet
sind, daß sie einer allgemeinen Degeneration entgegengehen, wie die Römer der
nachchristlichen Zeit.

Jedenfalls dürfte es wohl nicht übertrieben sein, wenn man die Summe
aller Individuen, die in irgendeiner Weise somatisch oder psychisch minder¬
wertig sind, auf ein volles Drittel unserer Gesamtbevölkerung schätzt.
Dieses Resultat ist betrübend, selbst wenn man zugibt, daß es noch nicht den
Eintritt einer allgemeinen Entartung zu bedeuten braucht. Es kommt nun alles
darauf an, zu wissen, ob dieser Prozentsatz der Minderwertigen in den einzelnen
Kulturländern abnimmt oder zunimmt, und deshalb ist es so überaus wichtig,
daß Bevölkerungsstatistik, Gebrechenstatistik, medizinische Stammbaumforschung
und Anthropometrie nach der Richtung hin ausgebaut werden, daß wir diese
Frage beantworten können.

Lehrt uns die Bevölkerungsstatistik, daß ein Volk sich in normaler Weise
vermehrt, die Gebrechenstatistik, daß die Körperfehler von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
abnehmen, und endlich die Anthropometrie, daß Körpergröße und Brustumfang
mindestens nicht sinken, so kann man von dieser Bevölkerung sagen, daß in ihr
die Entartungserscheinungen keine Neigung haben, sich zu einer verhängnisvollen
allgemeinen Entartung auszuwachsen. Ehe aber dieser Beweis nicht Ziffern-
mäßig geführt ist, sollten wir uns doch vor jedem Optimismus hüten. Gerade
weil wir heute wissen, daß die verschwundenen Kulturvölker der Vergangenheit
keineswegs sich einer größeren Gesundheit und Körperkraft erfreut haben als
wir, sondern ebenso sehr oder gar noch mehr von krankhaften Zuständen und
Gebrechen geplagt worden sind, sollten wir uns an ihrem Schicksal ein Beispiel
nehmen und uns nicht mit der Vorstellung beruhigen, daß ihr Verfall lediglich
politischen und kulturellen Ursachen zuzuschreiben ist. Es ist höchst wahrscheinlich,
daß bei ihnen auch eine weitgehende Verschlechterung des physischen Substrates
stattgefunden hat und es deshalb erst einer vollständigen Erneuerung der Be¬
völkerung bedürfte, um auch eine neue Kultur hervorzubringen.

Zahlreiche minderwertige Individuen haben ihren Defekt von den Eltern
ererbt und werden, da diese Defekte in den meisten Fällen nicht ausreichen, sie
unfruchtbar zu machen, ihre Minderwertigkeit auf ihre Deszendenten weiter¬
vererben. So sind unendliche Reihen von entarteten Konstitutionen denkbar,
deren Ende nicht abzusehen ist, die aber alle einmal ihren Ursprung aus voll¬
wertigen Individuen genommen haben müssen. Neben der angeerbten muß es
also eine frei entstandene Minderwertigkeit geben, — dieses Wort niemals im
Sinne des erworbenen aber nicht vererbbarem Defektes, sondern wie überall in
diesen Ausführungen als eine auf die Nachkommen übertragbare aufgefaßt.

Wollen wir die Armee der Minderwertigen verkleinern, so ist vor allen
Dingen erforderlich, daß wir ihr diesen frischen Zuzug abschneiden. Ist es doch
schon schlimm genug, daß sie imstande ist, sich durch Erbgang selbst zu ergänzen.
Wir wissen von zahlreichen Krankheiten, daß sie die Zeugungsfähigkeit rüstiger


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[0554] Gebnrtenverhürung und Volksvermehrung Tendenz — bei unseren Kulturvölkern schon so wirksam und schon so verbreitet sind, daß sie einer allgemeinen Degeneration entgegengehen, wie die Römer der nachchristlichen Zeit. Jedenfalls dürfte es wohl nicht übertrieben sein, wenn man die Summe aller Individuen, die in irgendeiner Weise somatisch oder psychisch minder¬ wertig sind, auf ein volles Drittel unserer Gesamtbevölkerung schätzt. Dieses Resultat ist betrübend, selbst wenn man zugibt, daß es noch nicht den Eintritt einer allgemeinen Entartung zu bedeuten braucht. Es kommt nun alles darauf an, zu wissen, ob dieser Prozentsatz der Minderwertigen in den einzelnen Kulturländern abnimmt oder zunimmt, und deshalb ist es so überaus wichtig, daß Bevölkerungsstatistik, Gebrechenstatistik, medizinische Stammbaumforschung und Anthropometrie nach der Richtung hin ausgebaut werden, daß wir diese Frage beantworten können. Lehrt uns die Bevölkerungsstatistik, daß ein Volk sich in normaler Weise vermehrt, die Gebrechenstatistik, daß die Körperfehler von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abnehmen, und endlich die Anthropometrie, daß Körpergröße und Brustumfang mindestens nicht sinken, so kann man von dieser Bevölkerung sagen, daß in ihr die Entartungserscheinungen keine Neigung haben, sich zu einer verhängnisvollen allgemeinen Entartung auszuwachsen. Ehe aber dieser Beweis nicht Ziffern- mäßig geführt ist, sollten wir uns doch vor jedem Optimismus hüten. Gerade weil wir heute wissen, daß die verschwundenen Kulturvölker der Vergangenheit keineswegs sich einer größeren Gesundheit und Körperkraft erfreut haben als wir, sondern ebenso sehr oder gar noch mehr von krankhaften Zuständen und Gebrechen geplagt worden sind, sollten wir uns an ihrem Schicksal ein Beispiel nehmen und uns nicht mit der Vorstellung beruhigen, daß ihr Verfall lediglich politischen und kulturellen Ursachen zuzuschreiben ist. Es ist höchst wahrscheinlich, daß bei ihnen auch eine weitgehende Verschlechterung des physischen Substrates stattgefunden hat und es deshalb erst einer vollständigen Erneuerung der Be¬ völkerung bedürfte, um auch eine neue Kultur hervorzubringen. Zahlreiche minderwertige Individuen haben ihren Defekt von den Eltern ererbt und werden, da diese Defekte in den meisten Fällen nicht ausreichen, sie unfruchtbar zu machen, ihre Minderwertigkeit auf ihre Deszendenten weiter¬ vererben. So sind unendliche Reihen von entarteten Konstitutionen denkbar, deren Ende nicht abzusehen ist, die aber alle einmal ihren Ursprung aus voll¬ wertigen Individuen genommen haben müssen. Neben der angeerbten muß es also eine frei entstandene Minderwertigkeit geben, — dieses Wort niemals im Sinne des erworbenen aber nicht vererbbarem Defektes, sondern wie überall in diesen Ausführungen als eine auf die Nachkommen übertragbare aufgefaßt. Wollen wir die Armee der Minderwertigen verkleinern, so ist vor allen Dingen erforderlich, daß wir ihr diesen frischen Zuzug abschneiden. Ist es doch schon schlimm genug, daß sie imstande ist, sich durch Erbgang selbst zu ergänzen. Wir wissen von zahlreichen Krankheiten, daß sie die Zeugungsfähigkeit rüstiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/554>, abgerufen am 22.07.2024.