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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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erlebten Einzelheiten beobachtend vorknüpft --
wieder gleich dem Künstler.

Diesen Beobachtungsaufsatz wollen die
Verfasser nun als vollgültigen Ersatz an die
Stelle des bisher üblichen logischen Schul¬
aufsatzes stellen. Sie haben vollkommen
recht, wenn sie ausführen, daß aus der Be¬
obachtung die logische Erkenntnis entspringe,
daß diese Erkenntnis aus der intuitiver
Assoziierung der bisher getrennten "An¬
schauungskerne", d, h, der Einzeldarstellungen,
entstehe. Sie stellen da dasselbe fest, was
die moderne Philosophie tat, als sie die In¬
duktion als die eigentliche, schöpferische Quelle
neuer Erkenntnis festsetzte. Es ist sehr wert¬
voll für die Methodik des Aufsatzunterrichtes,
daß einmal nachdrücklich auf diese logische
Kraft und Wirksamkeit des Beobachtungs¬
aufsatzes hingewiesen wird, und die Aus¬
führungen der Verfasser werden vor allen
Dingen auch beim höheren Unterrichte Be¬
achtung finden müssen. Denn gerade an
unseren höheren Schulen wird die logisch
bildende Kraft des reinen Beobachtungsauf¬
satzes entschieden zu gering eingeschätzt.
Anderseits benutzen die Verfasser diese schwache
Seite des höheren Unterrichtsbetriebes, also
des Systemes, zu einer Kritik des höheren
Lehrstandes, die nicht nur in ihrer Form
über die Grenze weit hinausgeht, sondern
auch sachlich nur zum Teil berechtigt ist.
Man könnte sie ganz Wohl nach ihrer Ein¬
seitigkeit und ihrer Tendenz als eine Kritik
aus der Froschperspektive bezeichnen, ohne
jemand Unrecht dabei zu tun. Im Anschluß
an eine Stelle der Reinschen Enzyklopädie
sprechen die Verfasser "von der köstlich naiven
Auffassung, die unsere höheren Schulpäda¬
gogen von dem Wesen der Sprachbildung
haben", von "dem professoralen Ausfluß einer
altjüngferlichen Kunstanschauung", von "Schild¬
bürgern" usw. Ist eine solche wahllos ver¬
allgemeinernde Kritik nicht selbst sehr naiv?
Und vor allen Dingen: dient sie der Sache?

Es ist den Verfassern gelungen, und das
ist ihr Verdienst, nachzuweisen, daß auch der
Beobachtungsaussatz der logischen Schulung
dient, insofern als die Beobachtung zur
Induktion, zur schöpferischen Erkenntnis führt.
Es ist nun aber die Frage, ob auf diese
Weise der logischen Schulung genug gedient

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wird, ob sich vor allem die höhere Schule
mit diesem Grade logischer Schulung be¬
gnügen kann. Die Wissenschaft verarbeitet
das auf induktiven Wege gewonnene Er¬
kenntnismaterial mit Hilfe der ordnenden und
sichtenden Deduktion. Sollte nicht auch der
Schulaufsatz die Aufgabe haben, am Schlüsse
das heranwachsende Kind auch auf diesem
Wege einen Schritt vorwärtszuführen? Gerade
weil der Literaturaussatz dies tut, deshalb
ist er auch heute noch an unseren höheren
Schulen üblich. Er bringt viele Gefahren
mit sich, und in der Hand eines banausischen
Lehrers wird er zu einer Geißel, unter der
das Kunstwerk und der Schüler gleichmäßig
leiden. Diese Gefahren lassen sich aber von
einer feinfühligen Persönlichkeit vermeiden.

Der Weg zum eigenen Stil. Ein Auf-
satzpraktikum für Lehrer und Laien von
Adolf Jenseit und Wilhelm LamszuS.
Alfred Janssen, Hamburg und Berlin, 1912.

Imsen und Lamszus haben das Ver¬
sprechen, das sie in ihrem ersten Aufsatzbuche
"Unser Schulaufsatz -- ein verkappter Schund-
literat" gegeben haben, in ihrem neuen
Werke eingelöst, sie haben gewissermaßen das
Material der Öffentlichkeit unterbreitet, das
ihnen dort als Grundlage für ihre eifrige --
allzueifrige Kritik des Aufsatzbetriebes na¬
mentlich der höheren Schule diente. Es ist
mit Freude zu begrüßen, daß von jener nicht
immer sachlichen Kritik in das neue Buch nur
schwache Nachklänge hineingedrungen sind,
daß nun die Verfasser vielmehr das größere
Gewicht auf den positiven Ausbau desjenigen
legen, was sie wollen, daß sie an der Hand
freier Erlebnisaufsätze das Kind vor uns zum
"eigenen Stil" heranwachsen lassen. Mit
Rücksicht auf diese wertvolle Leistung kann
man es stillschweigend übersehen, daß die
Verfasser in der noch reichlich temperament¬
vollen Einleitung sich bemühen, alle ein¬
hundertachttausend verkauften Exemplare des
Aufsatzbuches von Josef Venn, des "geschmack¬
losesten und absurdesten von allen", den
höheren Lehrern allein in die Taschen zu
praktizieren, um es dann hohnlächelnd daraus
hervorzuholen, und man kann auch die sonst
im Buche versteckten Spitzen gegen uns ruhig

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Grenzboten III 19126
Maßgebliches und Unmaßgebliches

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erlebten Einzelheiten beobachtend vorknüpft —
wieder gleich dem Künstler.

Diesen Beobachtungsaufsatz wollen die
Verfasser nun als vollgültigen Ersatz an die
Stelle des bisher üblichen logischen Schul¬
aufsatzes stellen. Sie haben vollkommen
recht, wenn sie ausführen, daß aus der Be¬
obachtung die logische Erkenntnis entspringe,
daß diese Erkenntnis aus der intuitiver
Assoziierung der bisher getrennten „An¬
schauungskerne", d, h, der Einzeldarstellungen,
entstehe. Sie stellen da dasselbe fest, was
die moderne Philosophie tat, als sie die In¬
duktion als die eigentliche, schöpferische Quelle
neuer Erkenntnis festsetzte. Es ist sehr wert¬
voll für die Methodik des Aufsatzunterrichtes,
daß einmal nachdrücklich auf diese logische
Kraft und Wirksamkeit des Beobachtungs¬
aufsatzes hingewiesen wird, und die Aus¬
führungen der Verfasser werden vor allen
Dingen auch beim höheren Unterrichte Be¬
achtung finden müssen. Denn gerade an
unseren höheren Schulen wird die logisch
bildende Kraft des reinen Beobachtungsauf¬
satzes entschieden zu gering eingeschätzt.
Anderseits benutzen die Verfasser diese schwache
Seite des höheren Unterrichtsbetriebes, also
des Systemes, zu einer Kritik des höheren
Lehrstandes, die nicht nur in ihrer Form
über die Grenze weit hinausgeht, sondern
auch sachlich nur zum Teil berechtigt ist.
Man könnte sie ganz Wohl nach ihrer Ein¬
seitigkeit und ihrer Tendenz als eine Kritik
aus der Froschperspektive bezeichnen, ohne
jemand Unrecht dabei zu tun. Im Anschluß
an eine Stelle der Reinschen Enzyklopädie
sprechen die Verfasser „von der köstlich naiven
Auffassung, die unsere höheren Schulpäda¬
gogen von dem Wesen der Sprachbildung
haben", von „dem professoralen Ausfluß einer
altjüngferlichen Kunstanschauung", von „Schild¬
bürgern" usw. Ist eine solche wahllos ver¬
allgemeinernde Kritik nicht selbst sehr naiv?
Und vor allen Dingen: dient sie der Sache?

Es ist den Verfassern gelungen, und das
ist ihr Verdienst, nachzuweisen, daß auch der
Beobachtungsaussatz der logischen Schulung
dient, insofern als die Beobachtung zur
Induktion, zur schöpferischen Erkenntnis führt.
Es ist nun aber die Frage, ob auf diese
Weise der logischen Schulung genug gedient

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wird, ob sich vor allem die höhere Schule
mit diesem Grade logischer Schulung be¬
gnügen kann. Die Wissenschaft verarbeitet
das auf induktiven Wege gewonnene Er¬
kenntnismaterial mit Hilfe der ordnenden und
sichtenden Deduktion. Sollte nicht auch der
Schulaufsatz die Aufgabe haben, am Schlüsse
das heranwachsende Kind auch auf diesem
Wege einen Schritt vorwärtszuführen? Gerade
weil der Literaturaussatz dies tut, deshalb
ist er auch heute noch an unseren höheren
Schulen üblich. Er bringt viele Gefahren
mit sich, und in der Hand eines banausischen
Lehrers wird er zu einer Geißel, unter der
das Kunstwerk und der Schüler gleichmäßig
leiden. Diese Gefahren lassen sich aber von
einer feinfühligen Persönlichkeit vermeiden.

Der Weg zum eigenen Stil. Ein Auf-
satzpraktikum für Lehrer und Laien von
Adolf Jenseit und Wilhelm LamszuS.
Alfred Janssen, Hamburg und Berlin, 1912.

Imsen und Lamszus haben das Ver¬
sprechen, das sie in ihrem ersten Aufsatzbuche
„Unser Schulaufsatz — ein verkappter Schund-
literat" gegeben haben, in ihrem neuen
Werke eingelöst, sie haben gewissermaßen das
Material der Öffentlichkeit unterbreitet, das
ihnen dort als Grundlage für ihre eifrige —
allzueifrige Kritik des Aufsatzbetriebes na¬
mentlich der höheren Schule diente. Es ist
mit Freude zu begrüßen, daß von jener nicht
immer sachlichen Kritik in das neue Buch nur
schwache Nachklänge hineingedrungen sind,
daß nun die Verfasser vielmehr das größere
Gewicht auf den positiven Ausbau desjenigen
legen, was sie wollen, daß sie an der Hand
freier Erlebnisaufsätze das Kind vor uns zum
„eigenen Stil" heranwachsen lassen. Mit
Rücksicht auf diese wertvolle Leistung kann
man es stillschweigend übersehen, daß die
Verfasser in der noch reichlich temperament¬
vollen Einleitung sich bemühen, alle ein¬
hundertachttausend verkauften Exemplare des
Aufsatzbuches von Josef Venn, des „geschmack¬
losesten und absurdesten von allen", den
höheren Lehrern allein in die Taschen zu
praktizieren, um es dann hohnlächelnd daraus
hervorzuholen, und man kann auch die sonst
im Buche versteckten Spitzen gegen uns ruhig

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Grenzboten III 19126
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[0053] Maßgebliches und Unmaßgebliches erlebten Einzelheiten beobachtend vorknüpft — wieder gleich dem Künstler. Diesen Beobachtungsaufsatz wollen die Verfasser nun als vollgültigen Ersatz an die Stelle des bisher üblichen logischen Schul¬ aufsatzes stellen. Sie haben vollkommen recht, wenn sie ausführen, daß aus der Be¬ obachtung die logische Erkenntnis entspringe, daß diese Erkenntnis aus der intuitiver Assoziierung der bisher getrennten „An¬ schauungskerne", d, h, der Einzeldarstellungen, entstehe. Sie stellen da dasselbe fest, was die moderne Philosophie tat, als sie die In¬ duktion als die eigentliche, schöpferische Quelle neuer Erkenntnis festsetzte. Es ist sehr wert¬ voll für die Methodik des Aufsatzunterrichtes, daß einmal nachdrücklich auf diese logische Kraft und Wirksamkeit des Beobachtungs¬ aufsatzes hingewiesen wird, und die Aus¬ führungen der Verfasser werden vor allen Dingen auch beim höheren Unterrichte Be¬ achtung finden müssen. Denn gerade an unseren höheren Schulen wird die logisch bildende Kraft des reinen Beobachtungsauf¬ satzes entschieden zu gering eingeschätzt. Anderseits benutzen die Verfasser diese schwache Seite des höheren Unterrichtsbetriebes, also des Systemes, zu einer Kritik des höheren Lehrstandes, die nicht nur in ihrer Form über die Grenze weit hinausgeht, sondern auch sachlich nur zum Teil berechtigt ist. Man könnte sie ganz Wohl nach ihrer Ein¬ seitigkeit und ihrer Tendenz als eine Kritik aus der Froschperspektive bezeichnen, ohne jemand Unrecht dabei zu tun. Im Anschluß an eine Stelle der Reinschen Enzyklopädie sprechen die Verfasser „von der köstlich naiven Auffassung, die unsere höheren Schulpäda¬ gogen von dem Wesen der Sprachbildung haben", von „dem professoralen Ausfluß einer altjüngferlichen Kunstanschauung", von „Schild¬ bürgern" usw. Ist eine solche wahllos ver¬ allgemeinernde Kritik nicht selbst sehr naiv? Und vor allen Dingen: dient sie der Sache? Es ist den Verfassern gelungen, und das ist ihr Verdienst, nachzuweisen, daß auch der Beobachtungsaussatz der logischen Schulung dient, insofern als die Beobachtung zur Induktion, zur schöpferischen Erkenntnis führt. Es ist nun aber die Frage, ob auf diese Weise der logischen Schulung genug gedient wird, ob sich vor allem die höhere Schule mit diesem Grade logischer Schulung be¬ gnügen kann. Die Wissenschaft verarbeitet das auf induktiven Wege gewonnene Er¬ kenntnismaterial mit Hilfe der ordnenden und sichtenden Deduktion. Sollte nicht auch der Schulaufsatz die Aufgabe haben, am Schlüsse das heranwachsende Kind auch auf diesem Wege einen Schritt vorwärtszuführen? Gerade weil der Literaturaussatz dies tut, deshalb ist er auch heute noch an unseren höheren Schulen üblich. Er bringt viele Gefahren mit sich, und in der Hand eines banausischen Lehrers wird er zu einer Geißel, unter der das Kunstwerk und der Schüler gleichmäßig leiden. Diese Gefahren lassen sich aber von einer feinfühligen Persönlichkeit vermeiden. Der Weg zum eigenen Stil. Ein Auf- satzpraktikum für Lehrer und Laien von Adolf Jenseit und Wilhelm LamszuS. Alfred Janssen, Hamburg und Berlin, 1912. Imsen und Lamszus haben das Ver¬ sprechen, das sie in ihrem ersten Aufsatzbuche „Unser Schulaufsatz — ein verkappter Schund- literat" gegeben haben, in ihrem neuen Werke eingelöst, sie haben gewissermaßen das Material der Öffentlichkeit unterbreitet, das ihnen dort als Grundlage für ihre eifrige — allzueifrige Kritik des Aufsatzbetriebes na¬ mentlich der höheren Schule diente. Es ist mit Freude zu begrüßen, daß von jener nicht immer sachlichen Kritik in das neue Buch nur schwache Nachklänge hineingedrungen sind, daß nun die Verfasser vielmehr das größere Gewicht auf den positiven Ausbau desjenigen legen, was sie wollen, daß sie an der Hand freier Erlebnisaufsätze das Kind vor uns zum „eigenen Stil" heranwachsen lassen. Mit Rücksicht auf diese wertvolle Leistung kann man es stillschweigend übersehen, daß die Verfasser in der noch reichlich temperament¬ vollen Einleitung sich bemühen, alle ein¬ hundertachttausend verkauften Exemplare des Aufsatzbuches von Josef Venn, des „geschmack¬ losesten und absurdesten von allen", den höheren Lehrern allein in die Taschen zu praktizieren, um es dann hohnlächelnd daraus hervorzuholen, und man kann auch die sonst im Buche versteckten Spitzen gegen uns ruhig Grenzboten III 19126

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/53>, abgerufen am 03.07.2024.