Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

diese Zeilen gesetzt habe, steht als Behauptung
über seinem Buche von Adolf Jansen und
Wilhelm Lamszus, das im Verlage von
Alfred Janssen erschienen ist. (Hamburg 1911.
194 S, 8°. Preis geb. M. 2.S0.)

Eine solche Behauptung, so kraß, so --
gewissermaßen mit der Faust ins Gesicht --
ausgesprochen, enthält eine so schwere An¬
klage gegen einen wichtigen Teil unseres
deutschen Unterrichtsbetriebes, daß man mit
gespanntester Aufmerksamkeit, ja mit Herz¬
klopfen in den Blättern des Buches nach dem
Beweise für jene Behauptung sucht. Vielleicht
ist gerade das der Zweck gewesen, den die
Verfasser mit ihrer Posaunenstoß-Überschrift
erreichen wollten.

Das Resultat des Suchens soll hier
gleich mit knappen und ehrlichen Worten
hingestellt werden. Der Beweis ist den
Verfassern zu zwei Dritteln geglückt. Sie
führen ihre erste Behauptung ausführ¬
licher in folgenden Sätzen aus.- "Es ist
Schundliteratur, die sich wie ein Strom aus
der zünftigen Aufsatzliteratur auf die Methode
des Lehrers ergießt und jegliche Naivität im
Keime ersticket Formalisten und Anempfinder
sind die Triumphe der Schule. Sie werden
auf Kosten der ersten sprachschöpferischen Be¬
gabung gezüchtet. Die Sprachindividualitäton
werden in der Schule zerstört und die
Phantasiebegabungen verbildet und zugrunde
gerichtet, denn es ist Schundliteratur schlimmster
Art, wozu die Wissensschule ihre Kinder im
Aufsatzunterricht systematisch erzieht." (S.19.)
Drei Hauptmerkmale finden sie an der
Schundliteratur: den Drang zum sensatio¬
nellen, womöglich Verbrecherischer, das Schil¬
dern der Dinge ohne eigene Anschauung und
daher ohne Anschaulichkeit und drittens, da¬
mit im Zusammenhange, die innere Un¬
Wahrhaftigkeit, das Anlehnen an die sprach¬
liche und gedankliche Überlieferung, die
Reinkultur der Phrase. Das eigentliche
Wesen der Schundliteratur wird allerdings
nach meiner Meinung nur durch das erste
Merkmal angegeben, durch die Vorliebe für
das sensationell-Verbrecherische. Eine solche
Vorliebe unserem Schulaufsatze vorzuwerfen,
daran denken natürlich auch die beiden
Verfasser nicht. Damit fällt aber auch die
Berechtigung für ihren sensationellen Buchtitel,

[Spaltenumbruch]

der nur geeignet ist, die Schule und ihre
Arbeit aufs neue bei dem Fernerstehenden in
schiefes Licht zu stellen. Die beiden übrigen
Merkmale bezeichnen jeden schlechten Stil,
und es heißt den Begriff "Schundliteratur"
allzu gewaltsam ausdehnen, wenn man alle
literarischen Erzeugnisse, die -- leider -- einen
schlechten Stil aufweisen, kurzerhand so be¬
zeichnen wollte. Bei einer Gegenüberstellung
von Proben aus der anerkannten Schund¬
literatur einerseits und anderseits aus der"zünf-
tigen"und "mustergültigen" Aufsatzliteratur tritt
nun allerdings mit erschreckender Deutlichkeit
zutage, wie sehr auch diese Aufsatzmusterbücher
an innerer Blässe und Anschauungslosigke.it
leiden, wie sehr sie unter der Herrschaft der
Phrase stehen. Die beiden Nachbarn hier
einmal öffentlich nebeneinandergestellt zu
haben ist ein Verdienst, und dadurch wird
das Ansehen jener ledernen Elaborate hoffent¬
lich noch mehr heruntergedrückt werden; es
war auch schon bisher nicht mehr allzu
groß.

Diese Aufsatzliteratur ist ja aber nur ein
Auswuchs der alten Aufsatzmethode, ja sie ist
nichts weiter als die zu Papier und Drucker¬
schwärze gewordene alte Methode selbst.
Gegen diese richten sich daher die folgenden
Ausführungen des Buches in erster Reihe.
Die Verfasser haben eine eigentümliche Art,
hier durch positive Kritik zu vernichten, zu
negieren. An einer Reihe von freien Kinder¬
erzählungen zeigen sie die kindliche Art des
Erzählens und Denkens auf und stellen
"methodische" Aufsatzerzcugnisse ihnen gegen¬
über, so daß jedem vorurteilsloser Leser
ohne weiteres die Erkenntnis aufleuchtet,
wie wenig die alte Methode mit ihren
logischen Ansprüchen an den kindlichen Geist
auf die Entwicklung dos kindlichen Sehens,
Sprechens und Denkens Rücksicht nimmt.
Der gestaltende Aufsatz nach dem Leben, der
natürliche Aufsatz, der bei den jüngeren
Kindern Erzählungsaufsatz, bei den heran¬
wachsenden Beobachtungsaufsatz sein soll, der
allein ist nach der Ansicht der Verfasser im¬
stande, der Eigenart des kindlichen Geistes¬
lebens vollen Spielraum zu gewähren, sei es
nun, daß es sich mit aller Liebe an die
sinnliche Einzelheit des Erlebten klammert --
gleich dem Künstler --, sei es, daß es die

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

diese Zeilen gesetzt habe, steht als Behauptung
über seinem Buche von Adolf Jansen und
Wilhelm Lamszus, das im Verlage von
Alfred Janssen erschienen ist. (Hamburg 1911.
194 S, 8°. Preis geb. M. 2.S0.)

Eine solche Behauptung, so kraß, so —
gewissermaßen mit der Faust ins Gesicht —
ausgesprochen, enthält eine so schwere An¬
klage gegen einen wichtigen Teil unseres
deutschen Unterrichtsbetriebes, daß man mit
gespanntester Aufmerksamkeit, ja mit Herz¬
klopfen in den Blättern des Buches nach dem
Beweise für jene Behauptung sucht. Vielleicht
ist gerade das der Zweck gewesen, den die
Verfasser mit ihrer Posaunenstoß-Überschrift
erreichen wollten.

Das Resultat des Suchens soll hier
gleich mit knappen und ehrlichen Worten
hingestellt werden. Der Beweis ist den
Verfassern zu zwei Dritteln geglückt. Sie
führen ihre erste Behauptung ausführ¬
licher in folgenden Sätzen aus.- „Es ist
Schundliteratur, die sich wie ein Strom aus
der zünftigen Aufsatzliteratur auf die Methode
des Lehrers ergießt und jegliche Naivität im
Keime ersticket Formalisten und Anempfinder
sind die Triumphe der Schule. Sie werden
auf Kosten der ersten sprachschöpferischen Be¬
gabung gezüchtet. Die Sprachindividualitäton
werden in der Schule zerstört und die
Phantasiebegabungen verbildet und zugrunde
gerichtet, denn es ist Schundliteratur schlimmster
Art, wozu die Wissensschule ihre Kinder im
Aufsatzunterricht systematisch erzieht." (S.19.)
Drei Hauptmerkmale finden sie an der
Schundliteratur: den Drang zum sensatio¬
nellen, womöglich Verbrecherischer, das Schil¬
dern der Dinge ohne eigene Anschauung und
daher ohne Anschaulichkeit und drittens, da¬
mit im Zusammenhange, die innere Un¬
Wahrhaftigkeit, das Anlehnen an die sprach¬
liche und gedankliche Überlieferung, die
Reinkultur der Phrase. Das eigentliche
Wesen der Schundliteratur wird allerdings
nach meiner Meinung nur durch das erste
Merkmal angegeben, durch die Vorliebe für
das sensationell-Verbrecherische. Eine solche
Vorliebe unserem Schulaufsatze vorzuwerfen,
daran denken natürlich auch die beiden
Verfasser nicht. Damit fällt aber auch die
Berechtigung für ihren sensationellen Buchtitel,

[Spaltenumbruch]

der nur geeignet ist, die Schule und ihre
Arbeit aufs neue bei dem Fernerstehenden in
schiefes Licht zu stellen. Die beiden übrigen
Merkmale bezeichnen jeden schlechten Stil,
und es heißt den Begriff „Schundliteratur"
allzu gewaltsam ausdehnen, wenn man alle
literarischen Erzeugnisse, die — leider — einen
schlechten Stil aufweisen, kurzerhand so be¬
zeichnen wollte. Bei einer Gegenüberstellung
von Proben aus der anerkannten Schund¬
literatur einerseits und anderseits aus der„zünf-
tigen"und „mustergültigen" Aufsatzliteratur tritt
nun allerdings mit erschreckender Deutlichkeit
zutage, wie sehr auch diese Aufsatzmusterbücher
an innerer Blässe und Anschauungslosigke.it
leiden, wie sehr sie unter der Herrschaft der
Phrase stehen. Die beiden Nachbarn hier
einmal öffentlich nebeneinandergestellt zu
haben ist ein Verdienst, und dadurch wird
das Ansehen jener ledernen Elaborate hoffent¬
lich noch mehr heruntergedrückt werden; es
war auch schon bisher nicht mehr allzu
groß.

Diese Aufsatzliteratur ist ja aber nur ein
Auswuchs der alten Aufsatzmethode, ja sie ist
nichts weiter als die zu Papier und Drucker¬
schwärze gewordene alte Methode selbst.
Gegen diese richten sich daher die folgenden
Ausführungen des Buches in erster Reihe.
Die Verfasser haben eine eigentümliche Art,
hier durch positive Kritik zu vernichten, zu
negieren. An einer Reihe von freien Kinder¬
erzählungen zeigen sie die kindliche Art des
Erzählens und Denkens auf und stellen
„methodische" Aufsatzerzcugnisse ihnen gegen¬
über, so daß jedem vorurteilsloser Leser
ohne weiteres die Erkenntnis aufleuchtet,
wie wenig die alte Methode mit ihren
logischen Ansprüchen an den kindlichen Geist
auf die Entwicklung dos kindlichen Sehens,
Sprechens und Denkens Rücksicht nimmt.
Der gestaltende Aufsatz nach dem Leben, der
natürliche Aufsatz, der bei den jüngeren
Kindern Erzählungsaufsatz, bei den heran¬
wachsenden Beobachtungsaufsatz sein soll, der
allein ist nach der Ansicht der Verfasser im¬
stande, der Eigenart des kindlichen Geistes¬
lebens vollen Spielraum zu gewähren, sei es
nun, daß es sich mit aller Liebe an die
sinnliche Einzelheit des Erlebten klammert —
gleich dem Künstler —, sei es, daß es die

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0052" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/321799"/>
              <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
              <cb type="start"/>
              <p xml:id="ID_134" prev="#ID_133"> diese Zeilen gesetzt habe, steht als Behauptung<lb/>
über seinem Buche von Adolf Jansen und<lb/>
Wilhelm Lamszus, das im Verlage von<lb/>
Alfred Janssen erschienen ist. (Hamburg 1911.<lb/>
194 S, 8°. Preis geb. M. 2.S0.)</p>
              <p xml:id="ID_135"> Eine solche Behauptung, so kraß, so &#x2014;<lb/>
gewissermaßen mit der Faust ins Gesicht &#x2014;<lb/>
ausgesprochen, enthält eine so schwere An¬<lb/>
klage gegen einen wichtigen Teil unseres<lb/>
deutschen Unterrichtsbetriebes, daß man mit<lb/>
gespanntester Aufmerksamkeit, ja mit Herz¬<lb/>
klopfen in den Blättern des Buches nach dem<lb/>
Beweise für jene Behauptung sucht. Vielleicht<lb/>
ist gerade das der Zweck gewesen, den die<lb/>
Verfasser mit ihrer Posaunenstoß-Überschrift<lb/>
erreichen wollten.</p>
              <p xml:id="ID_136" next="#ID_137"> Das Resultat des Suchens soll hier<lb/>
gleich mit knappen und ehrlichen Worten<lb/>
hingestellt werden. Der Beweis ist den<lb/>
Verfassern zu zwei Dritteln geglückt. Sie<lb/>
führen ihre erste Behauptung ausführ¬<lb/>
licher in folgenden Sätzen aus.- &#x201E;Es ist<lb/>
Schundliteratur, die sich wie ein Strom aus<lb/>
der zünftigen Aufsatzliteratur auf die Methode<lb/>
des Lehrers ergießt und jegliche Naivität im<lb/>
Keime ersticket Formalisten und Anempfinder<lb/>
sind die Triumphe der Schule. Sie werden<lb/>
auf Kosten der ersten sprachschöpferischen Be¬<lb/>
gabung gezüchtet. Die Sprachindividualitäton<lb/>
werden in der Schule zerstört und die<lb/>
Phantasiebegabungen verbildet und zugrunde<lb/>
gerichtet, denn es ist Schundliteratur schlimmster<lb/>
Art, wozu die Wissensschule ihre Kinder im<lb/>
Aufsatzunterricht systematisch erzieht." (S.19.)<lb/>
Drei Hauptmerkmale finden sie an der<lb/>
Schundliteratur: den Drang zum sensatio¬<lb/>
nellen, womöglich Verbrecherischer, das Schil¬<lb/>
dern der Dinge ohne eigene Anschauung und<lb/>
daher ohne Anschaulichkeit und drittens, da¬<lb/>
mit im Zusammenhange, die innere Un¬<lb/>
Wahrhaftigkeit, das Anlehnen an die sprach¬<lb/>
liche und gedankliche Überlieferung, die<lb/>
Reinkultur der Phrase. Das eigentliche<lb/>
Wesen der Schundliteratur wird allerdings<lb/>
nach meiner Meinung nur durch das erste<lb/>
Merkmal angegeben, durch die Vorliebe für<lb/>
das sensationell-Verbrecherische. Eine solche<lb/>
Vorliebe unserem Schulaufsatze vorzuwerfen,<lb/>
daran denken natürlich auch die beiden<lb/>
Verfasser nicht. Damit fällt aber auch die<lb/>
Berechtigung für ihren sensationellen Buchtitel,</p>
              <cb/><lb/>
              <p xml:id="ID_137" prev="#ID_136"> der nur geeignet ist, die Schule und ihre<lb/>
Arbeit aufs neue bei dem Fernerstehenden in<lb/>
schiefes Licht zu stellen. Die beiden übrigen<lb/>
Merkmale bezeichnen jeden schlechten Stil,<lb/>
und es heißt den Begriff &#x201E;Schundliteratur"<lb/>
allzu gewaltsam ausdehnen, wenn man alle<lb/>
literarischen Erzeugnisse, die &#x2014; leider &#x2014; einen<lb/>
schlechten Stil aufweisen, kurzerhand so be¬<lb/>
zeichnen wollte. Bei einer Gegenüberstellung<lb/>
von Proben aus der anerkannten Schund¬<lb/>
literatur einerseits und anderseits aus der&#x201E;zünf-<lb/>
tigen"und &#x201E;mustergültigen" Aufsatzliteratur tritt<lb/>
nun allerdings mit erschreckender Deutlichkeit<lb/>
zutage, wie sehr auch diese Aufsatzmusterbücher<lb/>
an innerer Blässe und Anschauungslosigke.it<lb/>
leiden, wie sehr sie unter der Herrschaft der<lb/>
Phrase stehen. Die beiden Nachbarn hier<lb/>
einmal öffentlich nebeneinandergestellt zu<lb/>
haben ist ein Verdienst, und dadurch wird<lb/>
das Ansehen jener ledernen Elaborate hoffent¬<lb/>
lich noch mehr heruntergedrückt werden; es<lb/>
war auch schon bisher nicht mehr allzu<lb/>
groß.</p>
              <p xml:id="ID_138" next="#ID_139"> Diese Aufsatzliteratur ist ja aber nur ein<lb/>
Auswuchs der alten Aufsatzmethode, ja sie ist<lb/>
nichts weiter als die zu Papier und Drucker¬<lb/>
schwärze gewordene alte Methode selbst.<lb/>
Gegen diese richten sich daher die folgenden<lb/>
Ausführungen des Buches in erster Reihe.<lb/>
Die Verfasser haben eine eigentümliche Art,<lb/>
hier durch positive Kritik zu vernichten, zu<lb/>
negieren. An einer Reihe von freien Kinder¬<lb/>
erzählungen zeigen sie die kindliche Art des<lb/>
Erzählens und Denkens auf und stellen<lb/>
&#x201E;methodische" Aufsatzerzcugnisse ihnen gegen¬<lb/>
über, so daß jedem vorurteilsloser Leser<lb/>
ohne weiteres die Erkenntnis aufleuchtet,<lb/>
wie wenig die alte Methode mit ihren<lb/>
logischen Ansprüchen an den kindlichen Geist<lb/>
auf die Entwicklung dos kindlichen Sehens,<lb/>
Sprechens und Denkens Rücksicht nimmt.<lb/>
Der gestaltende Aufsatz nach dem Leben, der<lb/>
natürliche Aufsatz, der bei den jüngeren<lb/>
Kindern Erzählungsaufsatz, bei den heran¬<lb/>
wachsenden Beobachtungsaufsatz sein soll, der<lb/>
allein ist nach der Ansicht der Verfasser im¬<lb/>
stande, der Eigenart des kindlichen Geistes¬<lb/>
lebens vollen Spielraum zu gewähren, sei es<lb/>
nun, daß es sich mit aller Liebe an die<lb/>
sinnliche Einzelheit des Erlebten klammert &#x2014;<lb/>
gleich dem Künstler &#x2014;, sei es, daß es die</p>
              <cb type="end"/><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0052] Maßgebliches und Unmaßgebliches diese Zeilen gesetzt habe, steht als Behauptung über seinem Buche von Adolf Jansen und Wilhelm Lamszus, das im Verlage von Alfred Janssen erschienen ist. (Hamburg 1911. 194 S, 8°. Preis geb. M. 2.S0.) Eine solche Behauptung, so kraß, so — gewissermaßen mit der Faust ins Gesicht — ausgesprochen, enthält eine so schwere An¬ klage gegen einen wichtigen Teil unseres deutschen Unterrichtsbetriebes, daß man mit gespanntester Aufmerksamkeit, ja mit Herz¬ klopfen in den Blättern des Buches nach dem Beweise für jene Behauptung sucht. Vielleicht ist gerade das der Zweck gewesen, den die Verfasser mit ihrer Posaunenstoß-Überschrift erreichen wollten. Das Resultat des Suchens soll hier gleich mit knappen und ehrlichen Worten hingestellt werden. Der Beweis ist den Verfassern zu zwei Dritteln geglückt. Sie führen ihre erste Behauptung ausführ¬ licher in folgenden Sätzen aus.- „Es ist Schundliteratur, die sich wie ein Strom aus der zünftigen Aufsatzliteratur auf die Methode des Lehrers ergießt und jegliche Naivität im Keime ersticket Formalisten und Anempfinder sind die Triumphe der Schule. Sie werden auf Kosten der ersten sprachschöpferischen Be¬ gabung gezüchtet. Die Sprachindividualitäton werden in der Schule zerstört und die Phantasiebegabungen verbildet und zugrunde gerichtet, denn es ist Schundliteratur schlimmster Art, wozu die Wissensschule ihre Kinder im Aufsatzunterricht systematisch erzieht." (S.19.) Drei Hauptmerkmale finden sie an der Schundliteratur: den Drang zum sensatio¬ nellen, womöglich Verbrecherischer, das Schil¬ dern der Dinge ohne eigene Anschauung und daher ohne Anschaulichkeit und drittens, da¬ mit im Zusammenhange, die innere Un¬ Wahrhaftigkeit, das Anlehnen an die sprach¬ liche und gedankliche Überlieferung, die Reinkultur der Phrase. Das eigentliche Wesen der Schundliteratur wird allerdings nach meiner Meinung nur durch das erste Merkmal angegeben, durch die Vorliebe für das sensationell-Verbrecherische. Eine solche Vorliebe unserem Schulaufsatze vorzuwerfen, daran denken natürlich auch die beiden Verfasser nicht. Damit fällt aber auch die Berechtigung für ihren sensationellen Buchtitel, der nur geeignet ist, die Schule und ihre Arbeit aufs neue bei dem Fernerstehenden in schiefes Licht zu stellen. Die beiden übrigen Merkmale bezeichnen jeden schlechten Stil, und es heißt den Begriff „Schundliteratur" allzu gewaltsam ausdehnen, wenn man alle literarischen Erzeugnisse, die — leider — einen schlechten Stil aufweisen, kurzerhand so be¬ zeichnen wollte. Bei einer Gegenüberstellung von Proben aus der anerkannten Schund¬ literatur einerseits und anderseits aus der„zünf- tigen"und „mustergültigen" Aufsatzliteratur tritt nun allerdings mit erschreckender Deutlichkeit zutage, wie sehr auch diese Aufsatzmusterbücher an innerer Blässe und Anschauungslosigke.it leiden, wie sehr sie unter der Herrschaft der Phrase stehen. Die beiden Nachbarn hier einmal öffentlich nebeneinandergestellt zu haben ist ein Verdienst, und dadurch wird das Ansehen jener ledernen Elaborate hoffent¬ lich noch mehr heruntergedrückt werden; es war auch schon bisher nicht mehr allzu groß. Diese Aufsatzliteratur ist ja aber nur ein Auswuchs der alten Aufsatzmethode, ja sie ist nichts weiter als die zu Papier und Drucker¬ schwärze gewordene alte Methode selbst. Gegen diese richten sich daher die folgenden Ausführungen des Buches in erster Reihe. Die Verfasser haben eine eigentümliche Art, hier durch positive Kritik zu vernichten, zu negieren. An einer Reihe von freien Kinder¬ erzählungen zeigen sie die kindliche Art des Erzählens und Denkens auf und stellen „methodische" Aufsatzerzcugnisse ihnen gegen¬ über, so daß jedem vorurteilsloser Leser ohne weiteres die Erkenntnis aufleuchtet, wie wenig die alte Methode mit ihren logischen Ansprüchen an den kindlichen Geist auf die Entwicklung dos kindlichen Sehens, Sprechens und Denkens Rücksicht nimmt. Der gestaltende Aufsatz nach dem Leben, der natürliche Aufsatz, der bei den jüngeren Kindern Erzählungsaufsatz, bei den heran¬ wachsenden Beobachtungsaufsatz sein soll, der allein ist nach der Ansicht der Verfasser im¬ stande, der Eigenart des kindlichen Geistes¬ lebens vollen Spielraum zu gewähren, sei es nun, daß es sich mit aller Liebe an die sinnliche Einzelheit des Erlebten klammert — gleich dem Künstler —, sei es, daß es die

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/52
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/52>, abgerufen am 03.07.2024.