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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Rarl Salzer

Ecce-Homo-Bild hängenden Weihwasserkesselchen zurückzog, war er nur mit grauem
Staube bedeckt. Mannsleut geben halt nicht so viel auf fromme äußere Zeichen,
denkt Tante Seelchen.

Als man das Zimmer wieder verlassen will, sagt der Geselle erinnernd noch
einmal: "Meistern!" und blickt dabei Tante Seelchen bedeutsam an.

"Jaso, Willem," antwortet die Angerufene, "du willst ja deine Papiere!"

Sie sucht in der altmodischen Schreibkommode, wühlt in dem Inhalt ver¬
schiedener Schubladen. Nach einigem Suchen nimmt sie einen Briefumschlag
heraus und hält ihn in das Licht des einfallenden Sonnenstreifens, um die Auf¬
schrift zu lesen:

"Papiere des Schmiedegesellen Wilhelm Taubert."

"Da sind sie!" sagt Tante Seelchen und verschließt den Sekretär, wie sie
dort die altmodischen Schreibkommoden nennen, wieder.

Sie gehen die Stiege hinab.

Unten im Hausgange untersuchen sie den Inhalt des Umschlages. Das
Dienstbuch ist nicht darin. Nach langem Hin- und Herreden sagt Karl:

"O mein, wie kann man so dumm sein! Die Dienstbücher werden ja droben
auf dem Rathaus beim Bürgermeister aufgehoben!"

Da erwidert Tante Seelchen:

"Ich muß nachher doch nauf und das Absterben vom Vater anmelden, da
bring ich dir's mit, Willem und schreib dir auch ein Zeugnis hinein. So wird
dir's jetzert doch net pressiere!"

"El, nein, ich kann ja noch helfen Gummere zählen!"

Tante Seelchen setzt sich auf den Stuhl, der neben dem Herde steht, zieht
ihren Neffen an der Hand zu sich her an ihren Schoß und sagt zu ihm:

"Lieber Bub, ich muß jetzert mal allerhand mit dir reden, denn, wie du
siehst, wir zwei sind die einzigen, die bei der Hand sein können und wollen und
auch bei der Hand sein müssen!.. . Darfst net schimpfen, Karl, das sind Schickungen
von unserem Herrgott, die muß man stillschweigend tragen!"

Und weiter sagt sie ihm, daß. wie er aus dem Katechismus ja auch selbst
wisse, dem Vater, weil er "das" getan habe, das kirchliche Begräbnis verweigert
werde, wenn der Doktor nicht bescheinige, daß der Vater das in einem Anfall
von Geistesstörung getan habe. Bis jetzt sei der Arzt ja ganz und gar abgeneigt,
einen solchen Schein zu schreiben und habe nur den Totenschein ausgestellt. Es
sei leicht zu erraten, daß der Doktor nichts anderes abwarten wolle als die gericht¬
liche Untersuchung.

Karl zuckt zusammen und fragt:

"Tante Seelchen, warum gerichtlich Untersuchung? Ob Mord oder Selbst¬
mord vorliegt?"

"Nein, lieber Bub, das net, denn das ist klar, daß Selbstmord vorliegt."

Sie schweigt ein wenig, denn es fällt ihr schwer, dem Kinde zu sagen, daß
auch sie an die verbrecherische Schuld seines Vaters glaube. In ihr Schweigen
drängt sich die begehrende Frage Karls:
'

"Wenns das net ist, was ist es dann anders?"

"Ach Gott, lieber Bub!"


Rarl Salzer

Ecce-Homo-Bild hängenden Weihwasserkesselchen zurückzog, war er nur mit grauem
Staube bedeckt. Mannsleut geben halt nicht so viel auf fromme äußere Zeichen,
denkt Tante Seelchen.

Als man das Zimmer wieder verlassen will, sagt der Geselle erinnernd noch
einmal: „Meistern!" und blickt dabei Tante Seelchen bedeutsam an.

„Jaso, Willem," antwortet die Angerufene, „du willst ja deine Papiere!"

Sie sucht in der altmodischen Schreibkommode, wühlt in dem Inhalt ver¬
schiedener Schubladen. Nach einigem Suchen nimmt sie einen Briefumschlag
heraus und hält ihn in das Licht des einfallenden Sonnenstreifens, um die Auf¬
schrift zu lesen:

„Papiere des Schmiedegesellen Wilhelm Taubert."

„Da sind sie!" sagt Tante Seelchen und verschließt den Sekretär, wie sie
dort die altmodischen Schreibkommoden nennen, wieder.

Sie gehen die Stiege hinab.

Unten im Hausgange untersuchen sie den Inhalt des Umschlages. Das
Dienstbuch ist nicht darin. Nach langem Hin- und Herreden sagt Karl:

„O mein, wie kann man so dumm sein! Die Dienstbücher werden ja droben
auf dem Rathaus beim Bürgermeister aufgehoben!"

Da erwidert Tante Seelchen:

„Ich muß nachher doch nauf und das Absterben vom Vater anmelden, da
bring ich dir's mit, Willem und schreib dir auch ein Zeugnis hinein. So wird
dir's jetzert doch net pressiere!"

„El, nein, ich kann ja noch helfen Gummere zählen!"

Tante Seelchen setzt sich auf den Stuhl, der neben dem Herde steht, zieht
ihren Neffen an der Hand zu sich her an ihren Schoß und sagt zu ihm:

„Lieber Bub, ich muß jetzert mal allerhand mit dir reden, denn, wie du
siehst, wir zwei sind die einzigen, die bei der Hand sein können und wollen und
auch bei der Hand sein müssen!.. . Darfst net schimpfen, Karl, das sind Schickungen
von unserem Herrgott, die muß man stillschweigend tragen!"

Und weiter sagt sie ihm, daß. wie er aus dem Katechismus ja auch selbst
wisse, dem Vater, weil er „das" getan habe, das kirchliche Begräbnis verweigert
werde, wenn der Doktor nicht bescheinige, daß der Vater das in einem Anfall
von Geistesstörung getan habe. Bis jetzt sei der Arzt ja ganz und gar abgeneigt,
einen solchen Schein zu schreiben und habe nur den Totenschein ausgestellt. Es
sei leicht zu erraten, daß der Doktor nichts anderes abwarten wolle als die gericht¬
liche Untersuchung.

Karl zuckt zusammen und fragt:

„Tante Seelchen, warum gerichtlich Untersuchung? Ob Mord oder Selbst¬
mord vorliegt?"

„Nein, lieber Bub, das net, denn das ist klar, daß Selbstmord vorliegt."

Sie schweigt ein wenig, denn es fällt ihr schwer, dem Kinde zu sagen, daß
auch sie an die verbrecherische Schuld seines Vaters glaube. In ihr Schweigen
drängt sich die begehrende Frage Karls:
'

„Wenns das net ist, was ist es dann anders?"

„Ach Gott, lieber Bub!"


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[0527] Rarl Salzer Ecce-Homo-Bild hängenden Weihwasserkesselchen zurückzog, war er nur mit grauem Staube bedeckt. Mannsleut geben halt nicht so viel auf fromme äußere Zeichen, denkt Tante Seelchen. Als man das Zimmer wieder verlassen will, sagt der Geselle erinnernd noch einmal: „Meistern!" und blickt dabei Tante Seelchen bedeutsam an. „Jaso, Willem," antwortet die Angerufene, „du willst ja deine Papiere!" Sie sucht in der altmodischen Schreibkommode, wühlt in dem Inhalt ver¬ schiedener Schubladen. Nach einigem Suchen nimmt sie einen Briefumschlag heraus und hält ihn in das Licht des einfallenden Sonnenstreifens, um die Auf¬ schrift zu lesen: „Papiere des Schmiedegesellen Wilhelm Taubert." „Da sind sie!" sagt Tante Seelchen und verschließt den Sekretär, wie sie dort die altmodischen Schreibkommoden nennen, wieder. Sie gehen die Stiege hinab. Unten im Hausgange untersuchen sie den Inhalt des Umschlages. Das Dienstbuch ist nicht darin. Nach langem Hin- und Herreden sagt Karl: „O mein, wie kann man so dumm sein! Die Dienstbücher werden ja droben auf dem Rathaus beim Bürgermeister aufgehoben!" Da erwidert Tante Seelchen: „Ich muß nachher doch nauf und das Absterben vom Vater anmelden, da bring ich dir's mit, Willem und schreib dir auch ein Zeugnis hinein. So wird dir's jetzert doch net pressiere!" „El, nein, ich kann ja noch helfen Gummere zählen!" Tante Seelchen setzt sich auf den Stuhl, der neben dem Herde steht, zieht ihren Neffen an der Hand zu sich her an ihren Schoß und sagt zu ihm: „Lieber Bub, ich muß jetzert mal allerhand mit dir reden, denn, wie du siehst, wir zwei sind die einzigen, die bei der Hand sein können und wollen und auch bei der Hand sein müssen!.. . Darfst net schimpfen, Karl, das sind Schickungen von unserem Herrgott, die muß man stillschweigend tragen!" Und weiter sagt sie ihm, daß. wie er aus dem Katechismus ja auch selbst wisse, dem Vater, weil er „das" getan habe, das kirchliche Begräbnis verweigert werde, wenn der Doktor nicht bescheinige, daß der Vater das in einem Anfall von Geistesstörung getan habe. Bis jetzt sei der Arzt ja ganz und gar abgeneigt, einen solchen Schein zu schreiben und habe nur den Totenschein ausgestellt. Es sei leicht zu erraten, daß der Doktor nichts anderes abwarten wolle als die gericht¬ liche Untersuchung. Karl zuckt zusammen und fragt: „Tante Seelchen, warum gerichtlich Untersuchung? Ob Mord oder Selbst¬ mord vorliegt?" „Nein, lieber Bub, das net, denn das ist klar, daß Selbstmord vorliegt." Sie schweigt ein wenig, denn es fällt ihr schwer, dem Kinde zu sagen, daß auch sie an die verbrecherische Schuld seines Vaters glaube. In ihr Schweigen drängt sich die begehrende Frage Karls: ' „Wenns das net ist, was ist es dann anders?" „Ach Gott, lieber Bub!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/527>, abgerufen am 24.08.2024.