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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Aarl Salzor

Als der Geselle oben ist und vor der Tür des Zimmers, in dem der Schmied
liegt, stehen bleibt, greift Karl nach dem Rock seiner Tante und hält sich fest. Die
dreht sich um und fragt:

"Na, Karl, was hast du denn?" . . .

Tante Seelchen faßt den Burschen bei der Hand und führt ihn in die Toten¬
stube, die Willem geöffnet hat.

Die Fenster und Läden sind geschlossen; so ist ein Halbdunkel in dem Zimmer.
Durch ein Astloch in einem Fensterladen sällt ein Sonnenstreifen, von schwebenden
regenbogenfarbenen Stäubchen erfüllt, herein und legt sich über das mit einem
weißen Leinentuch verdeckte Bett, als ob er mit seinem hellen Finger auf den
roten Fleck deuten wolle, der das weiße Tuch färbt.

Tante Seelchen geht auf den Fußspitzen nach dem Fenster und öffnet es
samt dem Laden zu einem schmalen Ritz; es wird hell in dem Zimmer. Die
beiden Burschen stehen zu Füßen des Totenlagers.

"Wollt ihr ihn auch wirklich sehen?" fragt Tante Seelchen.

Sie nicken.

Die Frau huscht nun an das Kopfende des Bettes, beugt sich darüber, faßt
das Tuch, das die Leiche bedeckt, mit beiden Händen an den Zipfeln und zieht
es zurück. Dabei behält sie ihren Neffen sest im Auge.

Karl schaudert ein wenig. Wie kann eine Stirn, die sonst so lebensvoll
gebräunt unter dem schwarzen Kraushaar lag, auf einmal so wachsgelb werden?
Und wie seltsam die Augen I Die Lider sind halb darüber gesenkt, und durch einen
schmalen Schlitz sieht man verglast und gebrochen, was sonst braun und oft so
lustig funkelte. Und die Nase dazwischen so scharf wie ein Messerrücken. Der
Blick könnte sich daran schneiden. Die Lippen sind so unbarmherzig fest auf¬
einander gepreßt, fast verschwinden sie unter dem dunklen Schnurrbart, der scharf
absticht, gegen den gelben Untergrund der Haut. Die Arme des Toten liegen
schlaff an den Seiten. Haben diese Arme wirklich einmal den schweren Schmiede¬
hammer geschwungen?

Und was Karl jetzt sieht, jagt ihm noch stärkere Schauder über die Seele.

Hellrot stechen aus der mit halbvertrocknetem, schon ein wenig dunkel
gewordenem Blut bedeckten Brust die vier kleinen Wunden, wo die Kugeln ein¬
drangen.

Tante Seelchen sagt mit gebrochener Stimme:

"Siehst du, mein lieber Bub, das ist dein VaterI" . . .




Während Tante Seelchen Fenster und Laden wieder schließt, erhebt er sich
vom Boden. Wilhelm, der tief erschüttert ist und seinen Gleichmut wieder¬
zugewinnen trachtet, sagt verlegen:

"Ihr müßt auch ein Kreuz und ein Lichtchen zu euerm Vater stellen und ein
Gläschen Weihwasser mit einem Buxzweigelchen!"

"Ja, das machen wir jetzert," antwortet Karl, "die Tante ist halt noch net
dazu kommen I"

Die drei ordnen das Nachttischchen in der von dem Gesellen angeregten
Weise. Weihwasser und Licht muß die Tante aus ihrem Zimmer holen, denn
als sie den Finger aus dem auch über demi Bette des Schmiedes unter einem


Aarl Salzor

Als der Geselle oben ist und vor der Tür des Zimmers, in dem der Schmied
liegt, stehen bleibt, greift Karl nach dem Rock seiner Tante und hält sich fest. Die
dreht sich um und fragt:

„Na, Karl, was hast du denn?" . . .

Tante Seelchen faßt den Burschen bei der Hand und führt ihn in die Toten¬
stube, die Willem geöffnet hat.

Die Fenster und Läden sind geschlossen; so ist ein Halbdunkel in dem Zimmer.
Durch ein Astloch in einem Fensterladen sällt ein Sonnenstreifen, von schwebenden
regenbogenfarbenen Stäubchen erfüllt, herein und legt sich über das mit einem
weißen Leinentuch verdeckte Bett, als ob er mit seinem hellen Finger auf den
roten Fleck deuten wolle, der das weiße Tuch färbt.

Tante Seelchen geht auf den Fußspitzen nach dem Fenster und öffnet es
samt dem Laden zu einem schmalen Ritz; es wird hell in dem Zimmer. Die
beiden Burschen stehen zu Füßen des Totenlagers.

„Wollt ihr ihn auch wirklich sehen?" fragt Tante Seelchen.

Sie nicken.

Die Frau huscht nun an das Kopfende des Bettes, beugt sich darüber, faßt
das Tuch, das die Leiche bedeckt, mit beiden Händen an den Zipfeln und zieht
es zurück. Dabei behält sie ihren Neffen sest im Auge.

Karl schaudert ein wenig. Wie kann eine Stirn, die sonst so lebensvoll
gebräunt unter dem schwarzen Kraushaar lag, auf einmal so wachsgelb werden?
Und wie seltsam die Augen I Die Lider sind halb darüber gesenkt, und durch einen
schmalen Schlitz sieht man verglast und gebrochen, was sonst braun und oft so
lustig funkelte. Und die Nase dazwischen so scharf wie ein Messerrücken. Der
Blick könnte sich daran schneiden. Die Lippen sind so unbarmherzig fest auf¬
einander gepreßt, fast verschwinden sie unter dem dunklen Schnurrbart, der scharf
absticht, gegen den gelben Untergrund der Haut. Die Arme des Toten liegen
schlaff an den Seiten. Haben diese Arme wirklich einmal den schweren Schmiede¬
hammer geschwungen?

Und was Karl jetzt sieht, jagt ihm noch stärkere Schauder über die Seele.

Hellrot stechen aus der mit halbvertrocknetem, schon ein wenig dunkel
gewordenem Blut bedeckten Brust die vier kleinen Wunden, wo die Kugeln ein¬
drangen.

Tante Seelchen sagt mit gebrochener Stimme:

„Siehst du, mein lieber Bub, das ist dein VaterI" . . .




Während Tante Seelchen Fenster und Laden wieder schließt, erhebt er sich
vom Boden. Wilhelm, der tief erschüttert ist und seinen Gleichmut wieder¬
zugewinnen trachtet, sagt verlegen:

„Ihr müßt auch ein Kreuz und ein Lichtchen zu euerm Vater stellen und ein
Gläschen Weihwasser mit einem Buxzweigelchen!"

„Ja, das machen wir jetzert," antwortet Karl, „die Tante ist halt noch net
dazu kommen I"

Die drei ordnen das Nachttischchen in der von dem Gesellen angeregten
Weise. Weihwasser und Licht muß die Tante aus ihrem Zimmer holen, denn
als sie den Finger aus dem auch über demi Bette des Schmiedes unter einem


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[0526] Aarl Salzor Als der Geselle oben ist und vor der Tür des Zimmers, in dem der Schmied liegt, stehen bleibt, greift Karl nach dem Rock seiner Tante und hält sich fest. Die dreht sich um und fragt: „Na, Karl, was hast du denn?" . . . Tante Seelchen faßt den Burschen bei der Hand und führt ihn in die Toten¬ stube, die Willem geöffnet hat. Die Fenster und Läden sind geschlossen; so ist ein Halbdunkel in dem Zimmer. Durch ein Astloch in einem Fensterladen sällt ein Sonnenstreifen, von schwebenden regenbogenfarbenen Stäubchen erfüllt, herein und legt sich über das mit einem weißen Leinentuch verdeckte Bett, als ob er mit seinem hellen Finger auf den roten Fleck deuten wolle, der das weiße Tuch färbt. Tante Seelchen geht auf den Fußspitzen nach dem Fenster und öffnet es samt dem Laden zu einem schmalen Ritz; es wird hell in dem Zimmer. Die beiden Burschen stehen zu Füßen des Totenlagers. „Wollt ihr ihn auch wirklich sehen?" fragt Tante Seelchen. Sie nicken. Die Frau huscht nun an das Kopfende des Bettes, beugt sich darüber, faßt das Tuch, das die Leiche bedeckt, mit beiden Händen an den Zipfeln und zieht es zurück. Dabei behält sie ihren Neffen sest im Auge. Karl schaudert ein wenig. Wie kann eine Stirn, die sonst so lebensvoll gebräunt unter dem schwarzen Kraushaar lag, auf einmal so wachsgelb werden? Und wie seltsam die Augen I Die Lider sind halb darüber gesenkt, und durch einen schmalen Schlitz sieht man verglast und gebrochen, was sonst braun und oft so lustig funkelte. Und die Nase dazwischen so scharf wie ein Messerrücken. Der Blick könnte sich daran schneiden. Die Lippen sind so unbarmherzig fest auf¬ einander gepreßt, fast verschwinden sie unter dem dunklen Schnurrbart, der scharf absticht, gegen den gelben Untergrund der Haut. Die Arme des Toten liegen schlaff an den Seiten. Haben diese Arme wirklich einmal den schweren Schmiede¬ hammer geschwungen? Und was Karl jetzt sieht, jagt ihm noch stärkere Schauder über die Seele. Hellrot stechen aus der mit halbvertrocknetem, schon ein wenig dunkel gewordenem Blut bedeckten Brust die vier kleinen Wunden, wo die Kugeln ein¬ drangen. Tante Seelchen sagt mit gebrochener Stimme: „Siehst du, mein lieber Bub, das ist dein VaterI" . . . Während Tante Seelchen Fenster und Laden wieder schließt, erhebt er sich vom Boden. Wilhelm, der tief erschüttert ist und seinen Gleichmut wieder¬ zugewinnen trachtet, sagt verlegen: „Ihr müßt auch ein Kreuz und ein Lichtchen zu euerm Vater stellen und ein Gläschen Weihwasser mit einem Buxzweigelchen!" „Ja, das machen wir jetzert," antwortet Karl, „die Tante ist halt noch net dazu kommen I" Die drei ordnen das Nachttischchen in der von dem Gesellen angeregten Weise. Weihwasser und Licht muß die Tante aus ihrem Zimmer holen, denn als sie den Finger aus dem auch über demi Bette des Schmiedes unter einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/526>, abgerufen am 22.07.2024.