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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Karl Salzer

"Da sag mir's doch auch, Tante, und red aus, wenn du was angefangen hast!"

"Na, dann horch I Im Lauf des Tags wird das Gericht noch von Worms
kommen und wird alles versiegeln, weil ihr Kinder doch noch net volljährig seid.
Bei dieser Gelegenheit werden auch ganz sicher die Kassenbücher revidiert und da
könnt schon herauskommen, daß euer Vater net -- net -- net . . . net ehr¬
lich wart"

Als Karl das hört, brüllt er wie ein zu Tode getroffenes Tier auf:

"Tante I!"

Dann ist es wieder stille. Man hört nur das Schluchzen Karls gedämpft
aus dem Schoße der Frau dringen. Plötzlich springt er auf, fährt mit beiden
Händen in die Haare, läuft in der Küche herum und wimmert:

"Lieb Tante Seelchen, lieb Tante Settchenl"

Dann bleibt er stehen, sieht die Angerufene mit starrem Blicke an und fragt:

"Kann das wirklich wahr sein??"

"Lieber Bub, du darfst net so außer dir seinl Wir sind all Menschen, und
jeder hat seine Fehler. Der eine fällt tiefer, der andere net so tief. Wenn dein
Vater unrecht getan hat -- Gott verzeih ihm seine schwere Schuld, wie er uns
unsere kleine Sünden vergeben sollt Aber was ist groß und was ist klein?"

Karl hört mit offenem Munde zu. Er muß sich zur Aufmerksamkeit zwingen,
denn seine Gedanken kreisen sausend um die Vorstellung, sein Vater sei ein Ver¬
brecher. Als Tante Seelchen ausgeredet hat, sagt er zu ihr:

"Wenn ich nur auch so denken könnt wie du, Tante. So als wenn du
wützt, wie alles zusammenhängt, und wie unser Herrgott darüber denktI"

"Wenn du mal so alt bist wie ich, Karl, da bist du auch net mehr so leicht
aus dem Gleichgewicht zu bringen und nimmst's, wie's kommt. Aber jetzert will
ich dir was sagen: ich geh eben aus der Stell nauf aufs Rathaus und laß den
Tod vom Vater einschreiben. Heut ist Mittwoch, da ist der jung Schullehrer
droben und versieht den Greffierdienst. Unter der Weil kannst du ja mal naus
zum Doktor gehen und kannst ihn noch mal drum bitten, er soll uns doch so
einen Schein schreiben für den Herrn Pfarrer. steck dir auch gleich das Rezept
ein, da kannst du vom Dokter aus gleich nach Worms in die Apothek laufenl"

Sie steht auf, bindet die Küchenschürze los, hängt sie an einen Haken hinter
der Tür und sucht sich unter den dort befindlichen Kleidern ihre Ausgehschürze
hervor, stellt sich vor den Kleiderschrank, die Scheiben der Obertüren als Spiegel
benutzend, und streicht mit der flachen Hand ordnend über ihre gescheitelten Haare.
Nachdem sie auch noch ihre Schuhe abgebürstet und die Schnürriemen daran fester
gebunden hat, geht sie. (Fortsetzung folgt)




Karl Salzer

„Da sag mir's doch auch, Tante, und red aus, wenn du was angefangen hast!"

„Na, dann horch I Im Lauf des Tags wird das Gericht noch von Worms
kommen und wird alles versiegeln, weil ihr Kinder doch noch net volljährig seid.
Bei dieser Gelegenheit werden auch ganz sicher die Kassenbücher revidiert und da
könnt schon herauskommen, daß euer Vater net — net — net . . . net ehr¬
lich wart"

Als Karl das hört, brüllt er wie ein zu Tode getroffenes Tier auf:

„Tante I!"

Dann ist es wieder stille. Man hört nur das Schluchzen Karls gedämpft
aus dem Schoße der Frau dringen. Plötzlich springt er auf, fährt mit beiden
Händen in die Haare, läuft in der Küche herum und wimmert:

„Lieb Tante Seelchen, lieb Tante Settchenl"

Dann bleibt er stehen, sieht die Angerufene mit starrem Blicke an und fragt:

„Kann das wirklich wahr sein??"

„Lieber Bub, du darfst net so außer dir seinl Wir sind all Menschen, und
jeder hat seine Fehler. Der eine fällt tiefer, der andere net so tief. Wenn dein
Vater unrecht getan hat — Gott verzeih ihm seine schwere Schuld, wie er uns
unsere kleine Sünden vergeben sollt Aber was ist groß und was ist klein?"

Karl hört mit offenem Munde zu. Er muß sich zur Aufmerksamkeit zwingen,
denn seine Gedanken kreisen sausend um die Vorstellung, sein Vater sei ein Ver¬
brecher. Als Tante Seelchen ausgeredet hat, sagt er zu ihr:

„Wenn ich nur auch so denken könnt wie du, Tante. So als wenn du
wützt, wie alles zusammenhängt, und wie unser Herrgott darüber denktI"

„Wenn du mal so alt bist wie ich, Karl, da bist du auch net mehr so leicht
aus dem Gleichgewicht zu bringen und nimmst's, wie's kommt. Aber jetzert will
ich dir was sagen: ich geh eben aus der Stell nauf aufs Rathaus und laß den
Tod vom Vater einschreiben. Heut ist Mittwoch, da ist der jung Schullehrer
droben und versieht den Greffierdienst. Unter der Weil kannst du ja mal naus
zum Doktor gehen und kannst ihn noch mal drum bitten, er soll uns doch so
einen Schein schreiben für den Herrn Pfarrer. steck dir auch gleich das Rezept
ein, da kannst du vom Dokter aus gleich nach Worms in die Apothek laufenl"

Sie steht auf, bindet die Küchenschürze los, hängt sie an einen Haken hinter
der Tür und sucht sich unter den dort befindlichen Kleidern ihre Ausgehschürze
hervor, stellt sich vor den Kleiderschrank, die Scheiben der Obertüren als Spiegel
benutzend, und streicht mit der flachen Hand ordnend über ihre gescheitelten Haare.
Nachdem sie auch noch ihre Schuhe abgebürstet und die Schnürriemen daran fester
gebunden hat, geht sie. (Fortsetzung folgt)




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[0528] Karl Salzer „Da sag mir's doch auch, Tante, und red aus, wenn du was angefangen hast!" „Na, dann horch I Im Lauf des Tags wird das Gericht noch von Worms kommen und wird alles versiegeln, weil ihr Kinder doch noch net volljährig seid. Bei dieser Gelegenheit werden auch ganz sicher die Kassenbücher revidiert und da könnt schon herauskommen, daß euer Vater net — net — net . . . net ehr¬ lich wart" Als Karl das hört, brüllt er wie ein zu Tode getroffenes Tier auf: „Tante I!" Dann ist es wieder stille. Man hört nur das Schluchzen Karls gedämpft aus dem Schoße der Frau dringen. Plötzlich springt er auf, fährt mit beiden Händen in die Haare, läuft in der Küche herum und wimmert: „Lieb Tante Seelchen, lieb Tante Settchenl" Dann bleibt er stehen, sieht die Angerufene mit starrem Blicke an und fragt: „Kann das wirklich wahr sein??" „Lieber Bub, du darfst net so außer dir seinl Wir sind all Menschen, und jeder hat seine Fehler. Der eine fällt tiefer, der andere net so tief. Wenn dein Vater unrecht getan hat — Gott verzeih ihm seine schwere Schuld, wie er uns unsere kleine Sünden vergeben sollt Aber was ist groß und was ist klein?" Karl hört mit offenem Munde zu. Er muß sich zur Aufmerksamkeit zwingen, denn seine Gedanken kreisen sausend um die Vorstellung, sein Vater sei ein Ver¬ brecher. Als Tante Seelchen ausgeredet hat, sagt er zu ihr: „Wenn ich nur auch so denken könnt wie du, Tante. So als wenn du wützt, wie alles zusammenhängt, und wie unser Herrgott darüber denktI" „Wenn du mal so alt bist wie ich, Karl, da bist du auch net mehr so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen und nimmst's, wie's kommt. Aber jetzert will ich dir was sagen: ich geh eben aus der Stell nauf aufs Rathaus und laß den Tod vom Vater einschreiben. Heut ist Mittwoch, da ist der jung Schullehrer droben und versieht den Greffierdienst. Unter der Weil kannst du ja mal naus zum Doktor gehen und kannst ihn noch mal drum bitten, er soll uns doch so einen Schein schreiben für den Herrn Pfarrer. steck dir auch gleich das Rezept ein, da kannst du vom Dokter aus gleich nach Worms in die Apothek laufenl" Sie steht auf, bindet die Küchenschürze los, hängt sie an einen Haken hinter der Tür und sucht sich unter den dort befindlichen Kleidern ihre Ausgehschürze hervor, stellt sich vor den Kleiderschrank, die Scheiben der Obertüren als Spiegel benutzend, und streicht mit der flachen Hand ordnend über ihre gescheitelten Haare. Nachdem sie auch noch ihre Schuhe abgebürstet und die Schnürriemen daran fester gebunden hat, geht sie. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/528>, abgerufen am 24.08.2024.