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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Homer der Bauern

steht "Elsi, die seltsame Magd", wie ein Kontrastepos gegenüber: durch die Stürme
der Revolution geht ein hundertjähriger Hof unter, der letzte der Bauerndynastie
zieht in die Welt hinaus; ihm folgt Elsi, die seltsame Magd, in den Tod. Es
ist dies die einzige Erzählung, in der Gotthelf nicht mit dem moralischen Pfluge
ackert. Der Erfolg war -- ein Kunstwerk.

Alle Epik ist kraft des Entwicklungsgesetzes am ehesten dem Veralten unter¬
worfen. Gotthelf ergriff fiebernd das Leben seiner Gegenwart. Uns ist es schon
historisches Dokument geworden. Aber zeitlich ist er der erste, der mit der Feder
lehrte, was uns der Pinsel Mittels einprägte. Ein Bauer, der tagsüber mit
gebeugtem Rücken der Erde ihren Segen abtrotzt, wird abends beim Angelus
den Rücken nicht wie ein Salontiroler emporschnellen. So ist es auch bei
Gotthelf. Diesen Bauern sehen wir zu, wie sie die Harke führen, wie die
Sonne auf ihren Scheitel brennt und wie die Arbeit ihnen das Symbol einer
ganz bestimmten Weltanschauung auf die Stirn und die schwielenhart drückt.
Und zutiefst lieben und hassen sie so energisch wie irgend wer und bleiben daher
der Epik die allgemeinmenschlichen Affekte nicht schuldig. Überhaupt, wenn es
Menschen gibt, die -- wie Hebbel meint -- mit der gleichen Hand eine Krone
und eine Nadel aufheben, warum sollte es nicht unter den Bauern solche geben,
die aus der gefurchten Erde eine Kartoffel -- und einen Heldengedanken zögen?

Der Bauernroman, der ja besonders ausgiebig von den Schweizer Novellisten
gepflegt worden ist, hat über Gotthelf hinaus wenig zu sagen gewußt. Im
Gegenteil! Er ist verfälscht, präpariert und stilisiert worden. Ich nehme nur
Alfred Huggenberger aus. Das wird hoffentlich die monumentale Neuausgabe
von Jeremias Gotthelfs Werken') lehren, die Gotthelf selber aus verschandelten
Texten zum reinen, unverfälschten Wort erlöst. Die dreißig Bände Gotthelf
werden nicht lauter epische Gipfel sein. Aber die Alpen Gotthelfs werfen ihre
Schönheit dem nicht in die Hände, der sie platonisch von unten -- durch die
Literaturgeschichte -- anstarrt. Wer Gipfel erklimmt und Gotthelf für den oft
beschwerlichen Weg nicht zürnt, wird diesem Homer Dank wissen, selbst wenn
er im stillen dächte: Homer? Ich dächte "Balzac der Bauern". Was liegt daran!





W


") Sie ist mit Unterstützung der schweizerischen Bundesbehörde unternommen worden
und auf 2ö Bände geplant. Erschienen ist "Gold und Geist" zum erstenmal in einwandfreier
Textgestaltung, besorgt von Hans Blösch. Verlag von Eugen Rentsch - München.
Der Homer der Bauern

steht „Elsi, die seltsame Magd", wie ein Kontrastepos gegenüber: durch die Stürme
der Revolution geht ein hundertjähriger Hof unter, der letzte der Bauerndynastie
zieht in die Welt hinaus; ihm folgt Elsi, die seltsame Magd, in den Tod. Es
ist dies die einzige Erzählung, in der Gotthelf nicht mit dem moralischen Pfluge
ackert. Der Erfolg war — ein Kunstwerk.

Alle Epik ist kraft des Entwicklungsgesetzes am ehesten dem Veralten unter¬
worfen. Gotthelf ergriff fiebernd das Leben seiner Gegenwart. Uns ist es schon
historisches Dokument geworden. Aber zeitlich ist er der erste, der mit der Feder
lehrte, was uns der Pinsel Mittels einprägte. Ein Bauer, der tagsüber mit
gebeugtem Rücken der Erde ihren Segen abtrotzt, wird abends beim Angelus
den Rücken nicht wie ein Salontiroler emporschnellen. So ist es auch bei
Gotthelf. Diesen Bauern sehen wir zu, wie sie die Harke führen, wie die
Sonne auf ihren Scheitel brennt und wie die Arbeit ihnen das Symbol einer
ganz bestimmten Weltanschauung auf die Stirn und die schwielenhart drückt.
Und zutiefst lieben und hassen sie so energisch wie irgend wer und bleiben daher
der Epik die allgemeinmenschlichen Affekte nicht schuldig. Überhaupt, wenn es
Menschen gibt, die — wie Hebbel meint — mit der gleichen Hand eine Krone
und eine Nadel aufheben, warum sollte es nicht unter den Bauern solche geben,
die aus der gefurchten Erde eine Kartoffel — und einen Heldengedanken zögen?

Der Bauernroman, der ja besonders ausgiebig von den Schweizer Novellisten
gepflegt worden ist, hat über Gotthelf hinaus wenig zu sagen gewußt. Im
Gegenteil! Er ist verfälscht, präpariert und stilisiert worden. Ich nehme nur
Alfred Huggenberger aus. Das wird hoffentlich die monumentale Neuausgabe
von Jeremias Gotthelfs Werken') lehren, die Gotthelf selber aus verschandelten
Texten zum reinen, unverfälschten Wort erlöst. Die dreißig Bände Gotthelf
werden nicht lauter epische Gipfel sein. Aber die Alpen Gotthelfs werfen ihre
Schönheit dem nicht in die Hände, der sie platonisch von unten — durch die
Literaturgeschichte — anstarrt. Wer Gipfel erklimmt und Gotthelf für den oft
beschwerlichen Weg nicht zürnt, wird diesem Homer Dank wissen, selbst wenn
er im stillen dächte: Homer? Ich dächte „Balzac der Bauern". Was liegt daran!





W


") Sie ist mit Unterstützung der schweizerischen Bundesbehörde unternommen worden
und auf 2ö Bände geplant. Erschienen ist „Gold und Geist" zum erstenmal in einwandfreier
Textgestaltung, besorgt von Hans Blösch. Verlag von Eugen Rentsch - München.
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[0049] Der Homer der Bauern steht „Elsi, die seltsame Magd", wie ein Kontrastepos gegenüber: durch die Stürme der Revolution geht ein hundertjähriger Hof unter, der letzte der Bauerndynastie zieht in die Welt hinaus; ihm folgt Elsi, die seltsame Magd, in den Tod. Es ist dies die einzige Erzählung, in der Gotthelf nicht mit dem moralischen Pfluge ackert. Der Erfolg war — ein Kunstwerk. Alle Epik ist kraft des Entwicklungsgesetzes am ehesten dem Veralten unter¬ worfen. Gotthelf ergriff fiebernd das Leben seiner Gegenwart. Uns ist es schon historisches Dokument geworden. Aber zeitlich ist er der erste, der mit der Feder lehrte, was uns der Pinsel Mittels einprägte. Ein Bauer, der tagsüber mit gebeugtem Rücken der Erde ihren Segen abtrotzt, wird abends beim Angelus den Rücken nicht wie ein Salontiroler emporschnellen. So ist es auch bei Gotthelf. Diesen Bauern sehen wir zu, wie sie die Harke führen, wie die Sonne auf ihren Scheitel brennt und wie die Arbeit ihnen das Symbol einer ganz bestimmten Weltanschauung auf die Stirn und die schwielenhart drückt. Und zutiefst lieben und hassen sie so energisch wie irgend wer und bleiben daher der Epik die allgemeinmenschlichen Affekte nicht schuldig. Überhaupt, wenn es Menschen gibt, die — wie Hebbel meint — mit der gleichen Hand eine Krone und eine Nadel aufheben, warum sollte es nicht unter den Bauern solche geben, die aus der gefurchten Erde eine Kartoffel — und einen Heldengedanken zögen? Der Bauernroman, der ja besonders ausgiebig von den Schweizer Novellisten gepflegt worden ist, hat über Gotthelf hinaus wenig zu sagen gewußt. Im Gegenteil! Er ist verfälscht, präpariert und stilisiert worden. Ich nehme nur Alfred Huggenberger aus. Das wird hoffentlich die monumentale Neuausgabe von Jeremias Gotthelfs Werken') lehren, die Gotthelf selber aus verschandelten Texten zum reinen, unverfälschten Wort erlöst. Die dreißig Bände Gotthelf werden nicht lauter epische Gipfel sein. Aber die Alpen Gotthelfs werfen ihre Schönheit dem nicht in die Hände, der sie platonisch von unten — durch die Literaturgeschichte — anstarrt. Wer Gipfel erklimmt und Gotthelf für den oft beschwerlichen Weg nicht zürnt, wird diesem Homer Dank wissen, selbst wenn er im stillen dächte: Homer? Ich dächte „Balzac der Bauern". Was liegt daran! W ") Sie ist mit Unterstützung der schweizerischen Bundesbehörde unternommen worden und auf 2ö Bände geplant. Erschienen ist „Gold und Geist" zum erstenmal in einwandfreier Textgestaltung, besorgt von Hans Blösch. Verlag von Eugen Rentsch - München.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/49>, abgerufen am 01.07.2024.