Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.Aus Prozessen des Jahres allen verbunden ist, entstehen dann jene Urteile, gegen die das Empfinden des Das Volk wollte Sollcmek lynchen: das wäre ein scheußlicher Mord für einen Noch einmal: Was gesagt wird, mag alles falsch sein; aber wenn Ansichten Aus Prozessen des Jahres allen verbunden ist, entstehen dann jene Urteile, gegen die das Empfinden des Das Volk wollte Sollcmek lynchen: das wäre ein scheußlicher Mord für einen Noch einmal: Was gesagt wird, mag alles falsch sein; aber wenn Ansichten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0462" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322209"/> <fw type="header" place="top"> Aus Prozessen des Jahres</fw><lb/> <p xml:id="ID_1930" prev="#ID_1929"> allen verbunden ist, entstehen dann jene Urteile, gegen die das Empfinden des<lb/> Volkes protestiert. In der Praxis hat das Volksempfinden fast immer unrecht,<lb/> haben die gelehrten Juristen fast immer recht, und gewiß stände es um unsere<lb/> Rechtspflege viel besser, wenn man etwa die Schwurgerichte abschaffte und an die<lb/> Stelle, wo fast immer ungebildete Spießbürger sitzen, die erfahrenen und gebildeten<lb/> Berufsrichter setzte. In diesem Jahre wurde endlich, nach sechzehn Jahren, durch<lb/> ein Wiederaufnahmeverfahren den unglücklichen Kaiserdelegierten ihr Recht, die<lb/> durch ein aus Bürgern gebildetes Schwurgericht wegen Meineids zu langen Zucht¬<lb/> hausstrafen verurteilt waren, die diese Strafen auch abgebüßt haben. Alle Menschen<lb/> sind den menschlichen Schwächen unterworfen, und es ist an sich durchaus möglich,<lb/> daß auch der Berufsrichter in Zeiten hochgehender politischer Leidenschaft seine<lb/> Unbefangenheit verliert; aber die Gefahr wird bei ihm — vorausgesetzt natürlich<lb/> jene allgemeine Ehrenhaftigkeit, welche der deutsche Richter und Beamte hat —<lb/> geringer sein wie bei dem Laien, weil er eben durch seinen Beruf die Gefahren<lb/> der Subjektivität besser kennt wie der Laie und deshalb auch sich selber gegenüber<lb/> mehr auf der Hut sein wird. In jenein Falle der Kaiserdelegierten ist unwider¬<lb/> sprochen geblieben, daß Berufsrichter bei ihrer Urteilsbildung die Aussagen des<lb/> unglaubwürdigen Hauptbelastungszeugen ausgeschaltet hätten und so zu einer<lb/> Freisprechung gekommen wären. Nicht in einer Verstärkung des Laienelements<lb/> in der Rechtsprechung liegt also eine Hoffnung für Besseres: aber doch sollte man<lb/> auf die Urteile der Laien hören, sollte man das Schwinden des Gefühls der<lb/> Rechtssicherheit im Volk als wichtige Symptome betrachten. Wie so oft im gesell¬<lb/> schaftlichen Leben äußert sich ein richtiges Gefühl in falschen Vorschlägen und<lb/> Urteilen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1931"> Das Volk wollte Sollcmek lynchen: das wäre ein scheußlicher Mord für einen<lb/> scheußlichen Mord gewesen. Wenn man für Menschen, wie er ist, die Prügelstrafe<lb/> wieder einführte, so würde man Roheit gegen Roheit setzen, wie Christus sagt,<lb/> den Teufel durch Beelzebub austreiben. Macht man sich klar, wie die Prügelstrafe<lb/> auf die Beamten wirkt, die sie vollziehen müßten? Das wären bei uns frühere<lb/> Unteroffiziere, die brav und ehrenhaft im Heer gedient haben in der Hoffnung auf<lb/> eine ihrer menschlichen Würde entsprechende Anstellung. Kann man einem Ehren¬<lb/> mann solche Dienste zumuten? Und wenn man keinen Ehrenmann für sie hat, kann<lb/> der Staat minderwertige Subjekte verwenden zur Vollziehung seiner Anordnungen?<lb/> Würde sich das Herabdrücken der Sittlichkeit auf die paar Personen beschränken,<lb/> die man als Züchtiger verwendet, würde nicht eine allgemeine Verrohung ein¬<lb/> reihen? Und endlich: Hat der christliche Staat das Recht, auch den am tiefsten<lb/> Gesunkenen, auch den, der sich selbst seiner Menschenwürde beraubt hat, wie etwa<lb/> jener Sollcmek, so zu behandeln, wie er es ja an sich gewiß verdiente, als einen<lb/> Menschen ohne Menschenwürde? Auch für ihn ist Christus am Kreuz gestorben,<lb/> auch ihm bietet sich noch die Liebe Gottes an, und wir würden Gott schänden<lb/> in ihm.</p><lb/> <p xml:id="ID_1932" next="#ID_1933"> Noch einmal: Was gesagt wird, mag alles falsch sein; aber wenn Ansichten<lb/> in einem Volke allgemein verbreitet sind, so muß ein richtiges Gefühl zugrunde<lb/> liegen — ein „richtiges", vielleicht besser gesagt „notwendiges" Gefühl: denn wo¬<lb/> hin die Wege der Nationen gehen, das ist uns unbekannt, und mag ein Gefühl<lb/> zum Aufstieg oder zum Niedergang führen — nicht nur können wir das vorher</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0462]
Aus Prozessen des Jahres
allen verbunden ist, entstehen dann jene Urteile, gegen die das Empfinden des
Volkes protestiert. In der Praxis hat das Volksempfinden fast immer unrecht,
haben die gelehrten Juristen fast immer recht, und gewiß stände es um unsere
Rechtspflege viel besser, wenn man etwa die Schwurgerichte abschaffte und an die
Stelle, wo fast immer ungebildete Spießbürger sitzen, die erfahrenen und gebildeten
Berufsrichter setzte. In diesem Jahre wurde endlich, nach sechzehn Jahren, durch
ein Wiederaufnahmeverfahren den unglücklichen Kaiserdelegierten ihr Recht, die
durch ein aus Bürgern gebildetes Schwurgericht wegen Meineids zu langen Zucht¬
hausstrafen verurteilt waren, die diese Strafen auch abgebüßt haben. Alle Menschen
sind den menschlichen Schwächen unterworfen, und es ist an sich durchaus möglich,
daß auch der Berufsrichter in Zeiten hochgehender politischer Leidenschaft seine
Unbefangenheit verliert; aber die Gefahr wird bei ihm — vorausgesetzt natürlich
jene allgemeine Ehrenhaftigkeit, welche der deutsche Richter und Beamte hat —
geringer sein wie bei dem Laien, weil er eben durch seinen Beruf die Gefahren
der Subjektivität besser kennt wie der Laie und deshalb auch sich selber gegenüber
mehr auf der Hut sein wird. In jenein Falle der Kaiserdelegierten ist unwider¬
sprochen geblieben, daß Berufsrichter bei ihrer Urteilsbildung die Aussagen des
unglaubwürdigen Hauptbelastungszeugen ausgeschaltet hätten und so zu einer
Freisprechung gekommen wären. Nicht in einer Verstärkung des Laienelements
in der Rechtsprechung liegt also eine Hoffnung für Besseres: aber doch sollte man
auf die Urteile der Laien hören, sollte man das Schwinden des Gefühls der
Rechtssicherheit im Volk als wichtige Symptome betrachten. Wie so oft im gesell¬
schaftlichen Leben äußert sich ein richtiges Gefühl in falschen Vorschlägen und
Urteilen.
Das Volk wollte Sollcmek lynchen: das wäre ein scheußlicher Mord für einen
scheußlichen Mord gewesen. Wenn man für Menschen, wie er ist, die Prügelstrafe
wieder einführte, so würde man Roheit gegen Roheit setzen, wie Christus sagt,
den Teufel durch Beelzebub austreiben. Macht man sich klar, wie die Prügelstrafe
auf die Beamten wirkt, die sie vollziehen müßten? Das wären bei uns frühere
Unteroffiziere, die brav und ehrenhaft im Heer gedient haben in der Hoffnung auf
eine ihrer menschlichen Würde entsprechende Anstellung. Kann man einem Ehren¬
mann solche Dienste zumuten? Und wenn man keinen Ehrenmann für sie hat, kann
der Staat minderwertige Subjekte verwenden zur Vollziehung seiner Anordnungen?
Würde sich das Herabdrücken der Sittlichkeit auf die paar Personen beschränken,
die man als Züchtiger verwendet, würde nicht eine allgemeine Verrohung ein¬
reihen? Und endlich: Hat der christliche Staat das Recht, auch den am tiefsten
Gesunkenen, auch den, der sich selbst seiner Menschenwürde beraubt hat, wie etwa
jener Sollcmek, so zu behandeln, wie er es ja an sich gewiß verdiente, als einen
Menschen ohne Menschenwürde? Auch für ihn ist Christus am Kreuz gestorben,
auch ihm bietet sich noch die Liebe Gottes an, und wir würden Gott schänden
in ihm.
Noch einmal: Was gesagt wird, mag alles falsch sein; aber wenn Ansichten
in einem Volke allgemein verbreitet sind, so muß ein richtiges Gefühl zugrunde
liegen — ein „richtiges", vielleicht besser gesagt „notwendiges" Gefühl: denn wo¬
hin die Wege der Nationen gehen, das ist uns unbekannt, und mag ein Gefühl
zum Aufstieg oder zum Niedergang führen — nicht nur können wir das vorher
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