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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Reichsspiegel
Fleisch- und Iesuitennot

Wir stehen wieder einmal im Zeichen der Lebensmittelteuerung. Vor
einem und vor zwei Jahren hieß es noch "Fleischnotrummel", "Fleisch- und Brot¬
wucher der Agrarier" usw. -- heute lesen wir im Vorwärts schon vom "Fleisch¬
wucher der Agrarier und Großschlächter". Übers Jahr wird man vielleicht
vom "Fleischwuchcr der Agrarier, Groß- und Kleinschlächter und Budiker" usw.
lesen. Aber erst, wenn alle am Fleischhandel beteiligten Kreise für die ungeheuere
Steigerung der Preise verantwortlich gemacht sein werden, dann darf man hoffen,
der Mehrheit nähergekommen zu sein. Denn sie alle: Vieh- und Schweine¬
züchter, Zwischenhändler, Schlächter und Detaillisten haben ihr Teil daran.
Sie haben das getan und werden fortfahren das zu tun, was der Kaufmann
die Ausnutzung der Konjunktur nennt. Sie haben die Preise gesteigert, als die
Nachfrage größer wurde -- natürlich ohne Rücksicht auf die Geldbeutel der
Verbraucher -- und die Frage ist nur die, ob die Höhe der Steigerung der
Spannung zwischen Bedarf und Produktion entspricht oder ob tatsächlich eine
Bewucherung der Bevölkerung durch den Fleischhandel stattfindet.

Daß der Bedarf gestiegen ist, daran zweifelt niemand. Die Industrie
hat die Zahl ihrer Arbeiter vermehrt; außer der Million Fremder, die in
Deutschland fast das ganze Jahr hindurch tätig sind, strömen alljährlich mehrere
Millionen Ausländer herein, die als Touristen, Geschäftsleute oder auch nur
Durchreisende den Verbrauch vergrößern; eine große Rolle spielen die Feste,
Jubiläen, Erinnerungsfeiern, die aus tausend nichtigen und wenigen ernsten
Gründen in allen Gauen der deutschen Heimat gefeiert werden. Da wird "für
billiges Geld" verbraucht, vernichtet, vertan, weil es "en gros" geliefert werden
kann, während der einzelne Verbraucher, die Familie der kulturell wichtigsten
Bevölkerungskreise, der Beamten, Lehrer, Offiziere und selbstverständlich auch der
Arbeiter sich den teueren Fleischgenuß vielfach versagen müssen.

Man zahlte in Berlin für ein Pfund in Pfennigen:

c^. in ^ s> ^ 5>^^s Schweine- Speck Schinken Schweine-
Jahr Und- Kalb- Hammel- ^sah sckZmalz
1901.....64 78 61 63 76 108 64
1912.....110 110 10S 83 90 160 90
Erhöhung . . . 4K 32 44 20 15 52 26

Man vergegenwärtige sich, was eine Familie von sechs Köpfen einschließlich
Bedienung wöchentlich im Durchschnitt mindestens an Fleisch verbraucht, so wird
man die Mehrbelastung des Budgets leicht ermessen können. Mit der Steigerung
der Löhne und Beamtengehälter steht sie aber nicht im Einklang, da diese fast
ganz durch die Erhöhung der Mieter aufgebraucht wird.

Wer einigermaßen Verständnis dafür hat, zu beurteilen, welche Verbitterung,
und Unlust, welchen Pessimismus gerade Nahrungssorgen in der Familie erzeugen,.


Reichsspiegel

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Fleisch- und Iesuitennot

Wir stehen wieder einmal im Zeichen der Lebensmittelteuerung. Vor
einem und vor zwei Jahren hieß es noch „Fleischnotrummel", „Fleisch- und Brot¬
wucher der Agrarier" usw. — heute lesen wir im Vorwärts schon vom „Fleisch¬
wucher der Agrarier und Großschlächter". Übers Jahr wird man vielleicht
vom „Fleischwuchcr der Agrarier, Groß- und Kleinschlächter und Budiker" usw.
lesen. Aber erst, wenn alle am Fleischhandel beteiligten Kreise für die ungeheuere
Steigerung der Preise verantwortlich gemacht sein werden, dann darf man hoffen,
der Mehrheit nähergekommen zu sein. Denn sie alle: Vieh- und Schweine¬
züchter, Zwischenhändler, Schlächter und Detaillisten haben ihr Teil daran.
Sie haben das getan und werden fortfahren das zu tun, was der Kaufmann
die Ausnutzung der Konjunktur nennt. Sie haben die Preise gesteigert, als die
Nachfrage größer wurde — natürlich ohne Rücksicht auf die Geldbeutel der
Verbraucher — und die Frage ist nur die, ob die Höhe der Steigerung der
Spannung zwischen Bedarf und Produktion entspricht oder ob tatsächlich eine
Bewucherung der Bevölkerung durch den Fleischhandel stattfindet.

Daß der Bedarf gestiegen ist, daran zweifelt niemand. Die Industrie
hat die Zahl ihrer Arbeiter vermehrt; außer der Million Fremder, die in
Deutschland fast das ganze Jahr hindurch tätig sind, strömen alljährlich mehrere
Millionen Ausländer herein, die als Touristen, Geschäftsleute oder auch nur
Durchreisende den Verbrauch vergrößern; eine große Rolle spielen die Feste,
Jubiläen, Erinnerungsfeiern, die aus tausend nichtigen und wenigen ernsten
Gründen in allen Gauen der deutschen Heimat gefeiert werden. Da wird „für
billiges Geld" verbraucht, vernichtet, vertan, weil es „en gros" geliefert werden
kann, während der einzelne Verbraucher, die Familie der kulturell wichtigsten
Bevölkerungskreise, der Beamten, Lehrer, Offiziere und selbstverständlich auch der
Arbeiter sich den teueren Fleischgenuß vielfach versagen müssen.

Man zahlte in Berlin für ein Pfund in Pfennigen:

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Erhöhung . . . 4K 32 44 20 15 52 26

Man vergegenwärtige sich, was eine Familie von sechs Köpfen einschließlich
Bedienung wöchentlich im Durchschnitt mindestens an Fleisch verbraucht, so wird
man die Mehrbelastung des Budgets leicht ermessen können. Mit der Steigerung
der Löhne und Beamtengehälter steht sie aber nicht im Einklang, da diese fast
ganz durch die Erhöhung der Mieter aufgebraucht wird.

Wer einigermaßen Verständnis dafür hat, zu beurteilen, welche Verbitterung,
und Unlust, welchen Pessimismus gerade Nahrungssorgen in der Familie erzeugen,.


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[0445] Reichsspiegel Reichsspiegel Fleisch- und Iesuitennot Wir stehen wieder einmal im Zeichen der Lebensmittelteuerung. Vor einem und vor zwei Jahren hieß es noch „Fleischnotrummel", „Fleisch- und Brot¬ wucher der Agrarier" usw. — heute lesen wir im Vorwärts schon vom „Fleisch¬ wucher der Agrarier und Großschlächter". Übers Jahr wird man vielleicht vom „Fleischwuchcr der Agrarier, Groß- und Kleinschlächter und Budiker" usw. lesen. Aber erst, wenn alle am Fleischhandel beteiligten Kreise für die ungeheuere Steigerung der Preise verantwortlich gemacht sein werden, dann darf man hoffen, der Mehrheit nähergekommen zu sein. Denn sie alle: Vieh- und Schweine¬ züchter, Zwischenhändler, Schlächter und Detaillisten haben ihr Teil daran. Sie haben das getan und werden fortfahren das zu tun, was der Kaufmann die Ausnutzung der Konjunktur nennt. Sie haben die Preise gesteigert, als die Nachfrage größer wurde — natürlich ohne Rücksicht auf die Geldbeutel der Verbraucher — und die Frage ist nur die, ob die Höhe der Steigerung der Spannung zwischen Bedarf und Produktion entspricht oder ob tatsächlich eine Bewucherung der Bevölkerung durch den Fleischhandel stattfindet. Daß der Bedarf gestiegen ist, daran zweifelt niemand. Die Industrie hat die Zahl ihrer Arbeiter vermehrt; außer der Million Fremder, die in Deutschland fast das ganze Jahr hindurch tätig sind, strömen alljährlich mehrere Millionen Ausländer herein, die als Touristen, Geschäftsleute oder auch nur Durchreisende den Verbrauch vergrößern; eine große Rolle spielen die Feste, Jubiläen, Erinnerungsfeiern, die aus tausend nichtigen und wenigen ernsten Gründen in allen Gauen der deutschen Heimat gefeiert werden. Da wird „für billiges Geld" verbraucht, vernichtet, vertan, weil es „en gros" geliefert werden kann, während der einzelne Verbraucher, die Familie der kulturell wichtigsten Bevölkerungskreise, der Beamten, Lehrer, Offiziere und selbstverständlich auch der Arbeiter sich den teueren Fleischgenuß vielfach versagen müssen. Man zahlte in Berlin für ein Pfund in Pfennigen: c^. in ^ s> ^ 5>^^s Schweine- Speck Schinken Schweine- Jahr Und- Kalb- Hammel- ^sah sckZmalz 1901.....64 78 61 63 76 108 64 1912.....110 110 10S 83 90 160 90 Erhöhung . . . 4K 32 44 20 15 52 26 Man vergegenwärtige sich, was eine Familie von sechs Köpfen einschließlich Bedienung wöchentlich im Durchschnitt mindestens an Fleisch verbraucht, so wird man die Mehrbelastung des Budgets leicht ermessen können. Mit der Steigerung der Löhne und Beamtengehälter steht sie aber nicht im Einklang, da diese fast ganz durch die Erhöhung der Mieter aufgebraucht wird. Wer einigermaßen Verständnis dafür hat, zu beurteilen, welche Verbitterung, und Unlust, welchen Pessimismus gerade Nahrungssorgen in der Familie erzeugen,.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/445>, abgerufen am 22.07.2024.