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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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der wird auch die politischen Gefahren ermessen, die für ein Land in der Ver¬
hetzung eines Teils der Bevölkerung gegen andere Teile wegen der Lebens-
mittelpreise liegt, der wird aber auch erkennen, was seitens der einzigen vor¬
handenen autoritativen Stelle, seitens der Staatsregierung getan werden mußte,
um dem Übel zu steuern. Was hat die Negierung getan, seit sie vor
einem Jahre und dann wieder im Januar dieses Jahres die aufgeregte öffent-
liche Meinung zu beruhigen suchte? Wenn man die zahlreichen Statistiker sieht,
die amtlich und halbamtlich veröffentlicht wurden, so könnte man sagen: viel!
Sieht man sich aber die Zahlen näher an, so muß man sagen: nichts! Die
amtlichen Statistiker bestätigen lediglich, was wir alle Tage am eigenen Leibe
erfahren: die Preise steigen. Wenn wir aber daraus folgern, es ist nicht genug
Fleisch da, so wird uns gesagt: Doch, die Landwirtschaft produziert genug.
Also muß doch der Zwischenhandel daran Schuld sein? Doch wir kommen auf
den Wochenmarkt und hören schon zwei Stunden nach seinem Beginn, daß
bestimmte Fleischsorten nicht mehr zu haben sind, daß also wir und noch hundert
Familien unseres Stadtteils heute auf gewisses Fleisch verzichten oder die noch um
zehn vom Hundert höheren Preise beim Fleischer an der nächsten Ecke zahlen müssen.

Diese Widersprüche hat die Regierung bisher nicht aufgeklärt, obwohl sie
es gekonnt hätte. Für einen so exakt arbeitenden Apparat, wie z. B. die
preußische Verwaltung es ist, kann es nur eine Kleinigkeit sein, festzustellen,
wohin, in welche Taschen der ungeheuere Aufschlag als Verdienst fließt, den
zwei Drittel der Bevölkerung bezahlen muß. Der mißtrauische Bürger sagt:
entweder ist die Verwaltung doch nicht so, wie wir noch geneigt sind, zu glauben
oder die bösen Landräte stecken mit den Agrariern unter einer Decke; der
gewerkschaftlich organisierte Arbeiter aber macht den nach kapitalistischen Gesichts¬
punkten geleiteten Staat verantwortlich, und, da er hungern muß, erklärt er
den Staat für sich als überflüssig und wertlos. Wie lange kann es noch dauern,
daß die Ansichten über Lebensmittelnot beim Mittelstande und bei der Arbeiter¬
schaft auseinandergehen? Wenn die Regierung sich nicht bald entschließt, die
wirklichen Gründe für die hohen Preise und gleichzeitig wirksame Abhilfe¬
maßregeln anzugeben, werden sich die Grenzen zwischen Mittelstand und Arbeiter¬
schaft zugunsten der radikalen Parteien noch mehr verwischen wie es heute schon
der Fall ist. Eine die Mehrheit schädigende Nahrungsmittelpolitik schafft eine
natürliche Interessengemeinschaft aller derer, die an den Geschäften der Minderheit
nicht teilnehmen können.




Ein freimütiges und energisches Auftreten der Regierung in der Lebens¬
mittelfrage erscheint uns um so mehr geboten, als sie allen Anlaß hat, sich
einiges Kapital Vertrauen im Lande anzuhäufen. Neben der Teuerung pocht
ein anderes Gespenst an die Pforten des Reichs und begehrt Einlaß: die
Jesuiten. Das Vorgehen des bayerischen Ministerpräsidenten Freiherrn von


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der wird auch die politischen Gefahren ermessen, die für ein Land in der Ver¬
hetzung eines Teils der Bevölkerung gegen andere Teile wegen der Lebens-
mittelpreise liegt, der wird aber auch erkennen, was seitens der einzigen vor¬
handenen autoritativen Stelle, seitens der Staatsregierung getan werden mußte,
um dem Übel zu steuern. Was hat die Negierung getan, seit sie vor
einem Jahre und dann wieder im Januar dieses Jahres die aufgeregte öffent-
liche Meinung zu beruhigen suchte? Wenn man die zahlreichen Statistiker sieht,
die amtlich und halbamtlich veröffentlicht wurden, so könnte man sagen: viel!
Sieht man sich aber die Zahlen näher an, so muß man sagen: nichts! Die
amtlichen Statistiker bestätigen lediglich, was wir alle Tage am eigenen Leibe
erfahren: die Preise steigen. Wenn wir aber daraus folgern, es ist nicht genug
Fleisch da, so wird uns gesagt: Doch, die Landwirtschaft produziert genug.
Also muß doch der Zwischenhandel daran Schuld sein? Doch wir kommen auf
den Wochenmarkt und hören schon zwei Stunden nach seinem Beginn, daß
bestimmte Fleischsorten nicht mehr zu haben sind, daß also wir und noch hundert
Familien unseres Stadtteils heute auf gewisses Fleisch verzichten oder die noch um
zehn vom Hundert höheren Preise beim Fleischer an der nächsten Ecke zahlen müssen.

Diese Widersprüche hat die Regierung bisher nicht aufgeklärt, obwohl sie
es gekonnt hätte. Für einen so exakt arbeitenden Apparat, wie z. B. die
preußische Verwaltung es ist, kann es nur eine Kleinigkeit sein, festzustellen,
wohin, in welche Taschen der ungeheuere Aufschlag als Verdienst fließt, den
zwei Drittel der Bevölkerung bezahlen muß. Der mißtrauische Bürger sagt:
entweder ist die Verwaltung doch nicht so, wie wir noch geneigt sind, zu glauben
oder die bösen Landräte stecken mit den Agrariern unter einer Decke; der
gewerkschaftlich organisierte Arbeiter aber macht den nach kapitalistischen Gesichts¬
punkten geleiteten Staat verantwortlich, und, da er hungern muß, erklärt er
den Staat für sich als überflüssig und wertlos. Wie lange kann es noch dauern,
daß die Ansichten über Lebensmittelnot beim Mittelstande und bei der Arbeiter¬
schaft auseinandergehen? Wenn die Regierung sich nicht bald entschließt, die
wirklichen Gründe für die hohen Preise und gleichzeitig wirksame Abhilfe¬
maßregeln anzugeben, werden sich die Grenzen zwischen Mittelstand und Arbeiter¬
schaft zugunsten der radikalen Parteien noch mehr verwischen wie es heute schon
der Fall ist. Eine die Mehrheit schädigende Nahrungsmittelpolitik schafft eine
natürliche Interessengemeinschaft aller derer, die an den Geschäften der Minderheit
nicht teilnehmen können.




Ein freimütiges und energisches Auftreten der Regierung in der Lebens¬
mittelfrage erscheint uns um so mehr geboten, als sie allen Anlaß hat, sich
einiges Kapital Vertrauen im Lande anzuhäufen. Neben der Teuerung pocht
ein anderes Gespenst an die Pforten des Reichs und begehrt Einlaß: die
Jesuiten. Das Vorgehen des bayerischen Ministerpräsidenten Freiherrn von


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[0446] Reichsspiogel der wird auch die politischen Gefahren ermessen, die für ein Land in der Ver¬ hetzung eines Teils der Bevölkerung gegen andere Teile wegen der Lebens- mittelpreise liegt, der wird aber auch erkennen, was seitens der einzigen vor¬ handenen autoritativen Stelle, seitens der Staatsregierung getan werden mußte, um dem Übel zu steuern. Was hat die Negierung getan, seit sie vor einem Jahre und dann wieder im Januar dieses Jahres die aufgeregte öffent- liche Meinung zu beruhigen suchte? Wenn man die zahlreichen Statistiker sieht, die amtlich und halbamtlich veröffentlicht wurden, so könnte man sagen: viel! Sieht man sich aber die Zahlen näher an, so muß man sagen: nichts! Die amtlichen Statistiker bestätigen lediglich, was wir alle Tage am eigenen Leibe erfahren: die Preise steigen. Wenn wir aber daraus folgern, es ist nicht genug Fleisch da, so wird uns gesagt: Doch, die Landwirtschaft produziert genug. Also muß doch der Zwischenhandel daran Schuld sein? Doch wir kommen auf den Wochenmarkt und hören schon zwei Stunden nach seinem Beginn, daß bestimmte Fleischsorten nicht mehr zu haben sind, daß also wir und noch hundert Familien unseres Stadtteils heute auf gewisses Fleisch verzichten oder die noch um zehn vom Hundert höheren Preise beim Fleischer an der nächsten Ecke zahlen müssen. Diese Widersprüche hat die Regierung bisher nicht aufgeklärt, obwohl sie es gekonnt hätte. Für einen so exakt arbeitenden Apparat, wie z. B. die preußische Verwaltung es ist, kann es nur eine Kleinigkeit sein, festzustellen, wohin, in welche Taschen der ungeheuere Aufschlag als Verdienst fließt, den zwei Drittel der Bevölkerung bezahlen muß. Der mißtrauische Bürger sagt: entweder ist die Verwaltung doch nicht so, wie wir noch geneigt sind, zu glauben oder die bösen Landräte stecken mit den Agrariern unter einer Decke; der gewerkschaftlich organisierte Arbeiter aber macht den nach kapitalistischen Gesichts¬ punkten geleiteten Staat verantwortlich, und, da er hungern muß, erklärt er den Staat für sich als überflüssig und wertlos. Wie lange kann es noch dauern, daß die Ansichten über Lebensmittelnot beim Mittelstande und bei der Arbeiter¬ schaft auseinandergehen? Wenn die Regierung sich nicht bald entschließt, die wirklichen Gründe für die hohen Preise und gleichzeitig wirksame Abhilfe¬ maßregeln anzugeben, werden sich die Grenzen zwischen Mittelstand und Arbeiter¬ schaft zugunsten der radikalen Parteien noch mehr verwischen wie es heute schon der Fall ist. Eine die Mehrheit schädigende Nahrungsmittelpolitik schafft eine natürliche Interessengemeinschaft aller derer, die an den Geschäften der Minderheit nicht teilnehmen können. Ein freimütiges und energisches Auftreten der Regierung in der Lebens¬ mittelfrage erscheint uns um so mehr geboten, als sie allen Anlaß hat, sich einiges Kapital Vertrauen im Lande anzuhäufen. Neben der Teuerung pocht ein anderes Gespenst an die Pforten des Reichs und begehrt Einlaß: die Jesuiten. Das Vorgehen des bayerischen Ministerpräsidenten Freiherrn von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/446>, abgerufen am 22.07.2024.