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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht

kreiseinteilung vorgenommen, wenn das Wahlgeheimnis wirklich geschützt, wenn
die allgemeine Bildung gehoben, besonders wenn das Volk im liberalen Sinne
aufgeklärt wird, dann kann es gar nicht ausbleiben, daß die geschilderten
Unzuträglichkeiten schließlich von selbst fortfallen, daß der tatsächliche Wille des
Volkes zum Ausdruck kommen, eine vernünftige innere Politik getrieben, Recht
und Gerechtigkeit triumphieren und das Ganze blühen und gedeihen muß. Die
Idee des Jais8ex kairo, lÄi8se2 aller, die auf dem Gebiete des wirtschaftlichen
Lebens gründlich bankerott gemacht hat, herrscht in den Kreisen der liberalen
Parteien in bezug auf das Verfassungswesen noch uneingeschränkt. Der politische
Liberalismus, dem doch die Vernunft Autorität ist, huldigt hier einem ganz
vernunftlosen Utopiömus, wenn er an eine Art prästabilierter Harmonie durch
den Parlamentarismus glaubt, die faktisch durch keine Erfahrung begründet ist,
gegen die vielmehr alle politische Erfahrung spricht. Denn es ist für den
Unbefangenen ganz klar, daß, wenn schon heute, wo die Demokratisierung des
Verfassungslebens doch immerhin nur eine beschränkte ist, die Masse mit ihren
primitiven Instinkten das politische Niveau herabzieht, dies noch viel mehr der
Fall sein wird, wenn die Masse vermittelst des allgemeinen und gleichen Wahl¬
rechts in allen Körperschaften noch mehr Einfluß erhält. Das Ende wird nicht
eine Politik auf höherer Stufe der Kultur, sondern die Herrschaft der Demagogie
mit ihren Schrecken sein. "

Der große Irrtum, den der Liberalismus in seinem Bemühen begeht, den
Widerstreit zwischen Wirklichkeit und Ideal zu schlichten, besteht darin, daß er
die Wirklichkeit falsch steht, und auf dieser falsch gesehenen Wirklichkeit falsche
Ideale aufbaut. Es ehrt ihn sein Idealismus, der ihn die Menschen so hoch
einschätzen läßt, aber mit diesem Idealismus verliert er schließlich allen Boden
unter den Füßen, und wenn er eines schönen Tages erwacht, wird er sehen,
daß seine Kämpfe nur noch Schattenkämpfe sind, daß die wirklichen realen
Kämpfe auf ganz anderem Gebiete und auf ganz andere Weise ausgefochten
werden. Der Liberalismus nehme daher die Wirklichkeit, wie sie ist, und suche
von da aus zu neuen Idealen zu gelangen. Es hat heutzutage keinen Zweck
mehr, über die Politik der wirtschaftlichen Sonderinteressen, die sich im Par¬
lamente breit machen, zu wehklagen, in der Politik der wirtschaftlichen Interessen
die Bombe zu verfluchen, die Bismarck einst geworfen habe, um die Liberalen
zu schwächen. Es ist unreal gedacht, an die selbstlose Hingebung, an die edle
Vaterlandsliebe der alten vormärzlichen und nachmärzlichen Parlamentarier zu
erinnern und ihre Tugenden wieder herbeizusehnen. Nie werden ihr Idealismus
und ihre Opferfreudigkeit wiederkehren. Solche Tugenden gedeihen nur, wo
ganz große Ziele vor Augen stehen, große allgemeine Ziele, wie die Schaffung
der deutschen Nation und ihre Verfassung waren, über die der einzelne mit
seinen kleinen individuellen Sorgen und Wünschen sich vergißt und vergessen
wird. Ist die Institution geschaffen, dann kommt notwendig die Kleinarbeit
und dann drängen sich von selbst die individuellen Ansprüche in den Vorder-


Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht

kreiseinteilung vorgenommen, wenn das Wahlgeheimnis wirklich geschützt, wenn
die allgemeine Bildung gehoben, besonders wenn das Volk im liberalen Sinne
aufgeklärt wird, dann kann es gar nicht ausbleiben, daß die geschilderten
Unzuträglichkeiten schließlich von selbst fortfallen, daß der tatsächliche Wille des
Volkes zum Ausdruck kommen, eine vernünftige innere Politik getrieben, Recht
und Gerechtigkeit triumphieren und das Ganze blühen und gedeihen muß. Die
Idee des Jais8ex kairo, lÄi8se2 aller, die auf dem Gebiete des wirtschaftlichen
Lebens gründlich bankerott gemacht hat, herrscht in den Kreisen der liberalen
Parteien in bezug auf das Verfassungswesen noch uneingeschränkt. Der politische
Liberalismus, dem doch die Vernunft Autorität ist, huldigt hier einem ganz
vernunftlosen Utopiömus, wenn er an eine Art prästabilierter Harmonie durch
den Parlamentarismus glaubt, die faktisch durch keine Erfahrung begründet ist,
gegen die vielmehr alle politische Erfahrung spricht. Denn es ist für den
Unbefangenen ganz klar, daß, wenn schon heute, wo die Demokratisierung des
Verfassungslebens doch immerhin nur eine beschränkte ist, die Masse mit ihren
primitiven Instinkten das politische Niveau herabzieht, dies noch viel mehr der
Fall sein wird, wenn die Masse vermittelst des allgemeinen und gleichen Wahl¬
rechts in allen Körperschaften noch mehr Einfluß erhält. Das Ende wird nicht
eine Politik auf höherer Stufe der Kultur, sondern die Herrschaft der Demagogie
mit ihren Schrecken sein. »

Der große Irrtum, den der Liberalismus in seinem Bemühen begeht, den
Widerstreit zwischen Wirklichkeit und Ideal zu schlichten, besteht darin, daß er
die Wirklichkeit falsch steht, und auf dieser falsch gesehenen Wirklichkeit falsche
Ideale aufbaut. Es ehrt ihn sein Idealismus, der ihn die Menschen so hoch
einschätzen läßt, aber mit diesem Idealismus verliert er schließlich allen Boden
unter den Füßen, und wenn er eines schönen Tages erwacht, wird er sehen,
daß seine Kämpfe nur noch Schattenkämpfe sind, daß die wirklichen realen
Kämpfe auf ganz anderem Gebiete und auf ganz andere Weise ausgefochten
werden. Der Liberalismus nehme daher die Wirklichkeit, wie sie ist, und suche
von da aus zu neuen Idealen zu gelangen. Es hat heutzutage keinen Zweck
mehr, über die Politik der wirtschaftlichen Sonderinteressen, die sich im Par¬
lamente breit machen, zu wehklagen, in der Politik der wirtschaftlichen Interessen
die Bombe zu verfluchen, die Bismarck einst geworfen habe, um die Liberalen
zu schwächen. Es ist unreal gedacht, an die selbstlose Hingebung, an die edle
Vaterlandsliebe der alten vormärzlichen und nachmärzlichen Parlamentarier zu
erinnern und ihre Tugenden wieder herbeizusehnen. Nie werden ihr Idealismus
und ihre Opferfreudigkeit wiederkehren. Solche Tugenden gedeihen nur, wo
ganz große Ziele vor Augen stehen, große allgemeine Ziele, wie die Schaffung
der deutschen Nation und ihre Verfassung waren, über die der einzelne mit
seinen kleinen individuellen Sorgen und Wünschen sich vergißt und vergessen
wird. Ist die Institution geschaffen, dann kommt notwendig die Kleinarbeit
und dann drängen sich von selbst die individuellen Ansprüche in den Vorder-


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[0416] Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht kreiseinteilung vorgenommen, wenn das Wahlgeheimnis wirklich geschützt, wenn die allgemeine Bildung gehoben, besonders wenn das Volk im liberalen Sinne aufgeklärt wird, dann kann es gar nicht ausbleiben, daß die geschilderten Unzuträglichkeiten schließlich von selbst fortfallen, daß der tatsächliche Wille des Volkes zum Ausdruck kommen, eine vernünftige innere Politik getrieben, Recht und Gerechtigkeit triumphieren und das Ganze blühen und gedeihen muß. Die Idee des Jais8ex kairo, lÄi8se2 aller, die auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Lebens gründlich bankerott gemacht hat, herrscht in den Kreisen der liberalen Parteien in bezug auf das Verfassungswesen noch uneingeschränkt. Der politische Liberalismus, dem doch die Vernunft Autorität ist, huldigt hier einem ganz vernunftlosen Utopiömus, wenn er an eine Art prästabilierter Harmonie durch den Parlamentarismus glaubt, die faktisch durch keine Erfahrung begründet ist, gegen die vielmehr alle politische Erfahrung spricht. Denn es ist für den Unbefangenen ganz klar, daß, wenn schon heute, wo die Demokratisierung des Verfassungslebens doch immerhin nur eine beschränkte ist, die Masse mit ihren primitiven Instinkten das politische Niveau herabzieht, dies noch viel mehr der Fall sein wird, wenn die Masse vermittelst des allgemeinen und gleichen Wahl¬ rechts in allen Körperschaften noch mehr Einfluß erhält. Das Ende wird nicht eine Politik auf höherer Stufe der Kultur, sondern die Herrschaft der Demagogie mit ihren Schrecken sein. » Der große Irrtum, den der Liberalismus in seinem Bemühen begeht, den Widerstreit zwischen Wirklichkeit und Ideal zu schlichten, besteht darin, daß er die Wirklichkeit falsch steht, und auf dieser falsch gesehenen Wirklichkeit falsche Ideale aufbaut. Es ehrt ihn sein Idealismus, der ihn die Menschen so hoch einschätzen läßt, aber mit diesem Idealismus verliert er schließlich allen Boden unter den Füßen, und wenn er eines schönen Tages erwacht, wird er sehen, daß seine Kämpfe nur noch Schattenkämpfe sind, daß die wirklichen realen Kämpfe auf ganz anderem Gebiete und auf ganz andere Weise ausgefochten werden. Der Liberalismus nehme daher die Wirklichkeit, wie sie ist, und suche von da aus zu neuen Idealen zu gelangen. Es hat heutzutage keinen Zweck mehr, über die Politik der wirtschaftlichen Sonderinteressen, die sich im Par¬ lamente breit machen, zu wehklagen, in der Politik der wirtschaftlichen Interessen die Bombe zu verfluchen, die Bismarck einst geworfen habe, um die Liberalen zu schwächen. Es ist unreal gedacht, an die selbstlose Hingebung, an die edle Vaterlandsliebe der alten vormärzlichen und nachmärzlichen Parlamentarier zu erinnern und ihre Tugenden wieder herbeizusehnen. Nie werden ihr Idealismus und ihre Opferfreudigkeit wiederkehren. Solche Tugenden gedeihen nur, wo ganz große Ziele vor Augen stehen, große allgemeine Ziele, wie die Schaffung der deutschen Nation und ihre Verfassung waren, über die der einzelne mit seinen kleinen individuellen Sorgen und Wünschen sich vergißt und vergessen wird. Ist die Institution geschaffen, dann kommt notwendig die Kleinarbeit und dann drängen sich von selbst die individuellen Ansprüche in den Vorder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/416>, abgerufen am 03.07.2024.