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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht

die durch den Gegensatz zwischen Ideal und Wirklichkeit entstanden sind. Gerade
auf dem Gebiete der Politik ist dieser Gegensatz besonders scharf, mindestens
ebenso wie auf dem Gebiete des religiösen Lebens, wo er in der Kluft zwischen
Religion und Kirchentum zutage tritt. Nach der Idee soll das Parlament eine
Auslese der tüchtigsten und besten Männer der Nation sein; nach der Idee
treten die Staatsbürger zusammen, um im Nachdenken über das Wohl des
Vaterlandes den Würdigsten unter sich zu ihrem Vertreter zu erwählen. In
der Wirklichkeit sehen wir nicht etwa, daß vor den Wahlen die einzelnen mit
sich zu Rate gehen, wer unter ihnen der würdigste Vertreter sei, sondern wir
sehen das Volk in verschiedene Massen auseinanderfallen, die sich in der Haupt¬
sache nach Berufen gliedern, also sich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten scheiden.
Diese Massen werden dann nach ihrem angeblichen oder wirklichen Interesse
von geschickten politischen Suggestioneuren gelenkt. In der Idee wird an die
Einsicht und den Patriotismus der einzelnen appelliert, in der Wirklichkeit sind
Einsicht und Patriotismus nur Aushängeschilder, spekuliert wird dagegen faktisch
auf gewisse Masseninstinkte, die mit den gröbsten Mitteln, die auf die Massen
Eindruck machen, geweckt werden. Darum sind es auch nicht die Tüchtigsten
und Besten, die diese Mittel anwenden, sondern es sind meistens diejenigen,
die sich am besten auf die Massen verstehen, die den Massen am meisten ver¬
sprechen. -- nicht die die Massen hinaufsehen, sondern die zu den Massen
herabsteigen, welche als deren Vertreter ins Parlament einziehen. Und das
Parlament selbst ist ein Spiegelbild der Massen, die von der Parlamentstribüne
aus weiter umschmeichelt werden, und während die Abgeordneten in Wirklichkeit
um nackte wirtschaftliche Interessen kämpfen, berauschen sie die Massen zugleich
mit schön klingenden allgemeinen Phrasen von den edlen Absichten ihrer Partei
und von den bösen Gesinnungen der Gegner.

Überall, wo Ideale und Wirklichkeit auseinanderlaufen, setzt eine Bewegung
ein, sie in bessere Übereinstimmung zu bringen. Die religiöse Bewegung unserer
Zeit ist ein Beispiel davon. Es kann nicht ausbleiben, daß dieser Vorgang
auch auf dem Gebiete der Politik stattfindet. Ernste Männer aus allen Partei¬
tagern schenken ihm die aufmerksamste Beachtung, wie Jentsch, Ünold, neuer¬
dings auch der Däne Christensen (in seinem Buche "Massenmoral und Politik",
verlegt bei Teubner), dessen Gedankengängen sich der Verfasser im großen und
ganzen anschließt. Nur im liberalen Parteilager verkennt man noch die Be¬
deutung der Dinge, die da allmählich kommen wollen. Man gibt sich hier
einem gefährlichen optimistischen Ouietismus hin. Man kann freilich seine
Augen den vielen Schäden des Parlamentarismus nicht ganz verschließen, aber
man verneint, daß es sich dabei um die Grundlagen des parlamentarischen
Wesens handelt, und glaubt es nur mit Auswüchsen zu tun zu haben, die sich
ohne Erneuerung der Grundlagen beseitigen lassen. Man läßt sich durch einen
bequemen MrMzismus einschläfern: wenn das allgemeine Wahlrecht nur überall
in den Einzelparlamenten durchgeführt wird, wenn ferner eine gerechte Wahl-


Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht

die durch den Gegensatz zwischen Ideal und Wirklichkeit entstanden sind. Gerade
auf dem Gebiete der Politik ist dieser Gegensatz besonders scharf, mindestens
ebenso wie auf dem Gebiete des religiösen Lebens, wo er in der Kluft zwischen
Religion und Kirchentum zutage tritt. Nach der Idee soll das Parlament eine
Auslese der tüchtigsten und besten Männer der Nation sein; nach der Idee
treten die Staatsbürger zusammen, um im Nachdenken über das Wohl des
Vaterlandes den Würdigsten unter sich zu ihrem Vertreter zu erwählen. In
der Wirklichkeit sehen wir nicht etwa, daß vor den Wahlen die einzelnen mit
sich zu Rate gehen, wer unter ihnen der würdigste Vertreter sei, sondern wir
sehen das Volk in verschiedene Massen auseinanderfallen, die sich in der Haupt¬
sache nach Berufen gliedern, also sich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten scheiden.
Diese Massen werden dann nach ihrem angeblichen oder wirklichen Interesse
von geschickten politischen Suggestioneuren gelenkt. In der Idee wird an die
Einsicht und den Patriotismus der einzelnen appelliert, in der Wirklichkeit sind
Einsicht und Patriotismus nur Aushängeschilder, spekuliert wird dagegen faktisch
auf gewisse Masseninstinkte, die mit den gröbsten Mitteln, die auf die Massen
Eindruck machen, geweckt werden. Darum sind es auch nicht die Tüchtigsten
und Besten, die diese Mittel anwenden, sondern es sind meistens diejenigen,
die sich am besten auf die Massen verstehen, die den Massen am meisten ver¬
sprechen. — nicht die die Massen hinaufsehen, sondern die zu den Massen
herabsteigen, welche als deren Vertreter ins Parlament einziehen. Und das
Parlament selbst ist ein Spiegelbild der Massen, die von der Parlamentstribüne
aus weiter umschmeichelt werden, und während die Abgeordneten in Wirklichkeit
um nackte wirtschaftliche Interessen kämpfen, berauschen sie die Massen zugleich
mit schön klingenden allgemeinen Phrasen von den edlen Absichten ihrer Partei
und von den bösen Gesinnungen der Gegner.

Überall, wo Ideale und Wirklichkeit auseinanderlaufen, setzt eine Bewegung
ein, sie in bessere Übereinstimmung zu bringen. Die religiöse Bewegung unserer
Zeit ist ein Beispiel davon. Es kann nicht ausbleiben, daß dieser Vorgang
auch auf dem Gebiete der Politik stattfindet. Ernste Männer aus allen Partei¬
tagern schenken ihm die aufmerksamste Beachtung, wie Jentsch, Ünold, neuer¬
dings auch der Däne Christensen (in seinem Buche „Massenmoral und Politik",
verlegt bei Teubner), dessen Gedankengängen sich der Verfasser im großen und
ganzen anschließt. Nur im liberalen Parteilager verkennt man noch die Be¬
deutung der Dinge, die da allmählich kommen wollen. Man gibt sich hier
einem gefährlichen optimistischen Ouietismus hin. Man kann freilich seine
Augen den vielen Schäden des Parlamentarismus nicht ganz verschließen, aber
man verneint, daß es sich dabei um die Grundlagen des parlamentarischen
Wesens handelt, und glaubt es nur mit Auswüchsen zu tun zu haben, die sich
ohne Erneuerung der Grundlagen beseitigen lassen. Man läßt sich durch einen
bequemen MrMzismus einschläfern: wenn das allgemeine Wahlrecht nur überall
in den Einzelparlamenten durchgeführt wird, wenn ferner eine gerechte Wahl-


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[0415] Der Liberalismus und das Reichstagswahlrecht die durch den Gegensatz zwischen Ideal und Wirklichkeit entstanden sind. Gerade auf dem Gebiete der Politik ist dieser Gegensatz besonders scharf, mindestens ebenso wie auf dem Gebiete des religiösen Lebens, wo er in der Kluft zwischen Religion und Kirchentum zutage tritt. Nach der Idee soll das Parlament eine Auslese der tüchtigsten und besten Männer der Nation sein; nach der Idee treten die Staatsbürger zusammen, um im Nachdenken über das Wohl des Vaterlandes den Würdigsten unter sich zu ihrem Vertreter zu erwählen. In der Wirklichkeit sehen wir nicht etwa, daß vor den Wahlen die einzelnen mit sich zu Rate gehen, wer unter ihnen der würdigste Vertreter sei, sondern wir sehen das Volk in verschiedene Massen auseinanderfallen, die sich in der Haupt¬ sache nach Berufen gliedern, also sich nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten scheiden. Diese Massen werden dann nach ihrem angeblichen oder wirklichen Interesse von geschickten politischen Suggestioneuren gelenkt. In der Idee wird an die Einsicht und den Patriotismus der einzelnen appelliert, in der Wirklichkeit sind Einsicht und Patriotismus nur Aushängeschilder, spekuliert wird dagegen faktisch auf gewisse Masseninstinkte, die mit den gröbsten Mitteln, die auf die Massen Eindruck machen, geweckt werden. Darum sind es auch nicht die Tüchtigsten und Besten, die diese Mittel anwenden, sondern es sind meistens diejenigen, die sich am besten auf die Massen verstehen, die den Massen am meisten ver¬ sprechen. — nicht die die Massen hinaufsehen, sondern die zu den Massen herabsteigen, welche als deren Vertreter ins Parlament einziehen. Und das Parlament selbst ist ein Spiegelbild der Massen, die von der Parlamentstribüne aus weiter umschmeichelt werden, und während die Abgeordneten in Wirklichkeit um nackte wirtschaftliche Interessen kämpfen, berauschen sie die Massen zugleich mit schön klingenden allgemeinen Phrasen von den edlen Absichten ihrer Partei und von den bösen Gesinnungen der Gegner. Überall, wo Ideale und Wirklichkeit auseinanderlaufen, setzt eine Bewegung ein, sie in bessere Übereinstimmung zu bringen. Die religiöse Bewegung unserer Zeit ist ein Beispiel davon. Es kann nicht ausbleiben, daß dieser Vorgang auch auf dem Gebiete der Politik stattfindet. Ernste Männer aus allen Partei¬ tagern schenken ihm die aufmerksamste Beachtung, wie Jentsch, Ünold, neuer¬ dings auch der Däne Christensen (in seinem Buche „Massenmoral und Politik", verlegt bei Teubner), dessen Gedankengängen sich der Verfasser im großen und ganzen anschließt. Nur im liberalen Parteilager verkennt man noch die Be¬ deutung der Dinge, die da allmählich kommen wollen. Man gibt sich hier einem gefährlichen optimistischen Ouietismus hin. Man kann freilich seine Augen den vielen Schäden des Parlamentarismus nicht ganz verschließen, aber man verneint, daß es sich dabei um die Grundlagen des parlamentarischen Wesens handelt, und glaubt es nur mit Auswüchsen zu tun zu haben, die sich ohne Erneuerung der Grundlagen beseitigen lassen. Man läßt sich durch einen bequemen MrMzismus einschläfern: wenn das allgemeine Wahlrecht nur überall in den Einzelparlamenten durchgeführt wird, wenn ferner eine gerechte Wahl-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/415>, abgerufen am 01.07.2024.