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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Ferdinand, Zar der Bulgaren

Es würde zu weit führen, die Einzelheiten dieser Entwicklung zu verfolgen.
Die Fürsorge für Finanzen und Handel, Verkehrswege und Häfen nahm darin
einen breiten Raum ein. aber auch die Wehrkraft des Landes wurde angemessen
verstärkt und in ihrer Organisation vervollkommnet. Dabei hatte der Fürst
durch seine Reisen in das Ausland persönlich die Stellung seiner Regierung zu
den Großmächten erheblich verbessert und überall das Vertrauen hergestellt.
Auch zu Serbien war in diesen Jahren ein freundnachbarliches Verhältnis
gewonnen worden. Freilich mußte der junge Balkanstaat immer auf kritische
Lagen und Zwischenfälle gefaßt sein. So hatte die mazedonische Bewegung
den Gegensatz zwischen Griechen und Bulgaren auf das äußerste verschärft.
Die griechenfeindliche Bewegung übertrug sich auf Bulgarien selbst, und ein
Konflikt mit dem Königreich Griechenland drohte. Die eigentliche Gefahr lag
jedoch weniger darin, als in der Einmischung der Türkei, die in diesem Konflikt
eine Gelegenheit sah, ein Autoritätsverhältnis gegenüber Bulgarien geltend zu
machen. Aber Bulgarien wies diesen Versuch der türkischen Regierung mit
solcher Entschiedenheit zurück, daß die tatsächliche Unabhängigkeit Bulgariens
aller Welt klar wurde, obgleich sie formell noch nicht anerkannt war. Es konnte
nur noch die Frage einer kurzen Zeit sein, daß diese Unabhängigkeit auch formell
erreicht wurde.

Einen äußeren Anlaß dazu gab die Streitbewegung auf den Orientbahnen,
die schon im Jahre 1907 eingesetzt hatte. Im September 1908 kam es zu
einem neuen Aufstand, wenige Wochen, nachdem die Umwälzung in der Türkei
dem persönlichen Regiment Abdul Hamids ein Ende bereitet und das osmanische
Reich in einen Verfassungsstaat verwandelt hatte. Die bulgarische Regierung
tat jetzt selbständig einen entscheidenden Schritt; sie besetzte die Orientbahnstrecken
im bulgarischen Gebiete militärisch. Der Rechtsstandpunkt Bulgariens war dabei
sehr zweifelhafter Natur. Nicht nur die Verwaltung der Orientbahnen protestierte,
sondern auch die Pforte und die Signatarmächte des Berliner Vertrages. Aber
in Bulgarien wußte man die Maßregeln geschickt zu begründen, und die Lage
war außerdem derart, daß keine europäische Macht sich unter diesen Umständen
zum Exekutor des Berliner Vertrages aufwerfen konnte. Die Türkei aber hatte
genug mit sich selbst zu tun, und eben in diesen Tagen beging man in Kon¬
stantinopel die Unklugheit, das bulgarische Selbstgefühl unnötig zu verletzen;
der Agent Bulgariens wurde zu einem diplomatischen Diner der Pforte nicht
eingeladen, weil er "Vertreter eines Vasallenstaats der Türkei" sei. Durch
seine Wiener Verbindungen war Fürst Ferdinand überdies zweifellos davon
unterrichtet, daß die österreichisch-ungarische Regierung die Annexion von
Bosnien und der Herzegowina plante. Jetzt war also der Augenblick zu
dem letzten Schritt gekommen. An demselben Tage, an dem Österreich-
Ungarn die Annexion von Bosnien vollzog, verkündete ein Manifest des
Fürsten Ferdinand aus Trnowa die Erklärung Bulgariens zum unabhängigen
Königreich.


Ferdinand, Zar der Bulgaren

Es würde zu weit führen, die Einzelheiten dieser Entwicklung zu verfolgen.
Die Fürsorge für Finanzen und Handel, Verkehrswege und Häfen nahm darin
einen breiten Raum ein. aber auch die Wehrkraft des Landes wurde angemessen
verstärkt und in ihrer Organisation vervollkommnet. Dabei hatte der Fürst
durch seine Reisen in das Ausland persönlich die Stellung seiner Regierung zu
den Großmächten erheblich verbessert und überall das Vertrauen hergestellt.
Auch zu Serbien war in diesen Jahren ein freundnachbarliches Verhältnis
gewonnen worden. Freilich mußte der junge Balkanstaat immer auf kritische
Lagen und Zwischenfälle gefaßt sein. So hatte die mazedonische Bewegung
den Gegensatz zwischen Griechen und Bulgaren auf das äußerste verschärft.
Die griechenfeindliche Bewegung übertrug sich auf Bulgarien selbst, und ein
Konflikt mit dem Königreich Griechenland drohte. Die eigentliche Gefahr lag
jedoch weniger darin, als in der Einmischung der Türkei, die in diesem Konflikt
eine Gelegenheit sah, ein Autoritätsverhältnis gegenüber Bulgarien geltend zu
machen. Aber Bulgarien wies diesen Versuch der türkischen Regierung mit
solcher Entschiedenheit zurück, daß die tatsächliche Unabhängigkeit Bulgariens
aller Welt klar wurde, obgleich sie formell noch nicht anerkannt war. Es konnte
nur noch die Frage einer kurzen Zeit sein, daß diese Unabhängigkeit auch formell
erreicht wurde.

Einen äußeren Anlaß dazu gab die Streitbewegung auf den Orientbahnen,
die schon im Jahre 1907 eingesetzt hatte. Im September 1908 kam es zu
einem neuen Aufstand, wenige Wochen, nachdem die Umwälzung in der Türkei
dem persönlichen Regiment Abdul Hamids ein Ende bereitet und das osmanische
Reich in einen Verfassungsstaat verwandelt hatte. Die bulgarische Regierung
tat jetzt selbständig einen entscheidenden Schritt; sie besetzte die Orientbahnstrecken
im bulgarischen Gebiete militärisch. Der Rechtsstandpunkt Bulgariens war dabei
sehr zweifelhafter Natur. Nicht nur die Verwaltung der Orientbahnen protestierte,
sondern auch die Pforte und die Signatarmächte des Berliner Vertrages. Aber
in Bulgarien wußte man die Maßregeln geschickt zu begründen, und die Lage
war außerdem derart, daß keine europäische Macht sich unter diesen Umständen
zum Exekutor des Berliner Vertrages aufwerfen konnte. Die Türkei aber hatte
genug mit sich selbst zu tun, und eben in diesen Tagen beging man in Kon¬
stantinopel die Unklugheit, das bulgarische Selbstgefühl unnötig zu verletzen;
der Agent Bulgariens wurde zu einem diplomatischen Diner der Pforte nicht
eingeladen, weil er „Vertreter eines Vasallenstaats der Türkei" sei. Durch
seine Wiener Verbindungen war Fürst Ferdinand überdies zweifellos davon
unterrichtet, daß die österreichisch-ungarische Regierung die Annexion von
Bosnien und der Herzegowina plante. Jetzt war also der Augenblick zu
dem letzten Schritt gekommen. An demselben Tage, an dem Österreich-
Ungarn die Annexion von Bosnien vollzog, verkündete ein Manifest des
Fürsten Ferdinand aus Trnowa die Erklärung Bulgariens zum unabhängigen
Königreich.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/412>, abgerufen am 03.07.2024.