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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Ferdinand, Zar der Bulgaren

nur in freundschaftlicher Verständigung mit diesem klugen Mann behaupten
konnte.

Waren die Schwierigkeiten mit Rußland beseitigt, so suchte um das unreife
Nationalgefühl der Bulgaren in seinem unruhigen Betätigungsdrang nach einem
neuen Objekt. Die großbulgarische Bewegung wuchs empor. Der Fürst sah
sich dadurch in neue Verlegenheiten versetzt, da die einmal angeregte Bewegung
in Mazedonien nicht mehr zum Stillstand zu bringen war. Er hatte kluger¬
weise die Lage der Türkei im Jahre 1897, als Griechenland den Krieg erklärte,
nicht ausgenutzt, sondern eine stritte und loyale Neutralität beobachtet. Das
war eine starke Probe auf seine eigene Autorität im Lande und gab ihm nun
auch die Möglichkeit, gegenüber dem Großbulgarentum eine geschickte Taktik zu
üben. Es gelang ihm, die Bewegung gerade so weit niederzuhalten, daß sie
dem Frieden des Landes nicht gefährlich werden konnte; zugleich zeigte er aber
auch so viel Verständnis für diese Bestrebungen, daß er seine eigene Popularität
dadurch stützen und ferner damit ein Mittel gewinnen konnte, um der Türkei
das schwerere Gewicht des inzwischen so erheblich erstarkten Bulgariens fühlbar
und sich selbst für eine Gelegenheit zur Erringung der vollen Unabhängigkeit
des Fürstentums bereit zu machen. Es war selbst für die befestigte Stellung
des Fürsten trotz aller seiner staatsmännischen Gewandtheit kein ungefährliches
Spiel. Es galt sich nach keiner Seite hin fortreißen zu lassen. Um vor allem
zuerst den Mächten eine Probe seiner Besonnenheit, seiner Sicherheit und seiner
friedlichen Absichten zu geben, tat er zu Beginn des Jahres 1903 den kühnen
Schritt einer Auflösung der mazedonischen Komitees im Lande. Sein geschicktes
Vorgehen brachte es zustande, daß trotz der erregten Stimmung ini Lande die
Sobranje dem Ministeriuni fast in demselben Augenblick ein Vertrauensvotum
erteilte, als Österreich-Ungarn und Rußland in einer gemeinsamen Note an die
Türkei herantraten, um sie aufzufordern, durch geeignete Reformen den beständigen
Unruhen in Mazedonien ein Ende zu machen. Die Bulgaren besaßen bei aller
urwüchsigen Leidenschaftlichkeit eine genügende Portion orientalischer Verschlagenheit,
um die Vorteile der Lage schnell zu erfassen. Nun konnte der Fürst im Sommer
bei geeigneter Gelegenheit ruhig den Gegenzug tun und der Türkei gegenüber
in die Rolle der gekränkten Unschuld eintreten. Am 1. Juli ging eine Zirkular¬
note der bulgarischen Regierung an die Regierungen in Wien, Se. Petersburg
und Paris ab, worin nachdrückliche Beschwerde gegen Ausschreitungen türkischer
Truppen an der Grenze erhoben wurde. Die Wellen der Leidenschaft gingen
damals ziemlich hoch in Bulgarien, aber es war eine Täuschung, wenn man
im Auslande daraus den Schluß zog, daß eine Revolution bevorstände, und die
Reise des Fürsten ins Ausland dahin deutete, als wolle er das Feld räumen.
Im Gegenteil, der Fürst hatte die Zügel fest in der Hand, die Türkei mußte nach¬
geben, und das bewegte Jahr endete mit einer neuen Vertrauenskundgebung der
Kammer. Ähnlich gestalteten sich die Dinge in den folgenden Jahren, während
in der inneren Entwicklung des Landes ein ständiger Fortschritt erkennbar war.


Ferdinand, Zar der Bulgaren

nur in freundschaftlicher Verständigung mit diesem klugen Mann behaupten
konnte.

Waren die Schwierigkeiten mit Rußland beseitigt, so suchte um das unreife
Nationalgefühl der Bulgaren in seinem unruhigen Betätigungsdrang nach einem
neuen Objekt. Die großbulgarische Bewegung wuchs empor. Der Fürst sah
sich dadurch in neue Verlegenheiten versetzt, da die einmal angeregte Bewegung
in Mazedonien nicht mehr zum Stillstand zu bringen war. Er hatte kluger¬
weise die Lage der Türkei im Jahre 1897, als Griechenland den Krieg erklärte,
nicht ausgenutzt, sondern eine stritte und loyale Neutralität beobachtet. Das
war eine starke Probe auf seine eigene Autorität im Lande und gab ihm nun
auch die Möglichkeit, gegenüber dem Großbulgarentum eine geschickte Taktik zu
üben. Es gelang ihm, die Bewegung gerade so weit niederzuhalten, daß sie
dem Frieden des Landes nicht gefährlich werden konnte; zugleich zeigte er aber
auch so viel Verständnis für diese Bestrebungen, daß er seine eigene Popularität
dadurch stützen und ferner damit ein Mittel gewinnen konnte, um der Türkei
das schwerere Gewicht des inzwischen so erheblich erstarkten Bulgariens fühlbar
und sich selbst für eine Gelegenheit zur Erringung der vollen Unabhängigkeit
des Fürstentums bereit zu machen. Es war selbst für die befestigte Stellung
des Fürsten trotz aller seiner staatsmännischen Gewandtheit kein ungefährliches
Spiel. Es galt sich nach keiner Seite hin fortreißen zu lassen. Um vor allem
zuerst den Mächten eine Probe seiner Besonnenheit, seiner Sicherheit und seiner
friedlichen Absichten zu geben, tat er zu Beginn des Jahres 1903 den kühnen
Schritt einer Auflösung der mazedonischen Komitees im Lande. Sein geschicktes
Vorgehen brachte es zustande, daß trotz der erregten Stimmung ini Lande die
Sobranje dem Ministeriuni fast in demselben Augenblick ein Vertrauensvotum
erteilte, als Österreich-Ungarn und Rußland in einer gemeinsamen Note an die
Türkei herantraten, um sie aufzufordern, durch geeignete Reformen den beständigen
Unruhen in Mazedonien ein Ende zu machen. Die Bulgaren besaßen bei aller
urwüchsigen Leidenschaftlichkeit eine genügende Portion orientalischer Verschlagenheit,
um die Vorteile der Lage schnell zu erfassen. Nun konnte der Fürst im Sommer
bei geeigneter Gelegenheit ruhig den Gegenzug tun und der Türkei gegenüber
in die Rolle der gekränkten Unschuld eintreten. Am 1. Juli ging eine Zirkular¬
note der bulgarischen Regierung an die Regierungen in Wien, Se. Petersburg
und Paris ab, worin nachdrückliche Beschwerde gegen Ausschreitungen türkischer
Truppen an der Grenze erhoben wurde. Die Wellen der Leidenschaft gingen
damals ziemlich hoch in Bulgarien, aber es war eine Täuschung, wenn man
im Auslande daraus den Schluß zog, daß eine Revolution bevorstände, und die
Reise des Fürsten ins Ausland dahin deutete, als wolle er das Feld räumen.
Im Gegenteil, der Fürst hatte die Zügel fest in der Hand, die Türkei mußte nach¬
geben, und das bewegte Jahr endete mit einer neuen Vertrauenskundgebung der
Kammer. Ähnlich gestalteten sich die Dinge in den folgenden Jahren, während
in der inneren Entwicklung des Landes ein ständiger Fortschritt erkennbar war.


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[0411] Ferdinand, Zar der Bulgaren nur in freundschaftlicher Verständigung mit diesem klugen Mann behaupten konnte. Waren die Schwierigkeiten mit Rußland beseitigt, so suchte um das unreife Nationalgefühl der Bulgaren in seinem unruhigen Betätigungsdrang nach einem neuen Objekt. Die großbulgarische Bewegung wuchs empor. Der Fürst sah sich dadurch in neue Verlegenheiten versetzt, da die einmal angeregte Bewegung in Mazedonien nicht mehr zum Stillstand zu bringen war. Er hatte kluger¬ weise die Lage der Türkei im Jahre 1897, als Griechenland den Krieg erklärte, nicht ausgenutzt, sondern eine stritte und loyale Neutralität beobachtet. Das war eine starke Probe auf seine eigene Autorität im Lande und gab ihm nun auch die Möglichkeit, gegenüber dem Großbulgarentum eine geschickte Taktik zu üben. Es gelang ihm, die Bewegung gerade so weit niederzuhalten, daß sie dem Frieden des Landes nicht gefährlich werden konnte; zugleich zeigte er aber auch so viel Verständnis für diese Bestrebungen, daß er seine eigene Popularität dadurch stützen und ferner damit ein Mittel gewinnen konnte, um der Türkei das schwerere Gewicht des inzwischen so erheblich erstarkten Bulgariens fühlbar und sich selbst für eine Gelegenheit zur Erringung der vollen Unabhängigkeit des Fürstentums bereit zu machen. Es war selbst für die befestigte Stellung des Fürsten trotz aller seiner staatsmännischen Gewandtheit kein ungefährliches Spiel. Es galt sich nach keiner Seite hin fortreißen zu lassen. Um vor allem zuerst den Mächten eine Probe seiner Besonnenheit, seiner Sicherheit und seiner friedlichen Absichten zu geben, tat er zu Beginn des Jahres 1903 den kühnen Schritt einer Auflösung der mazedonischen Komitees im Lande. Sein geschicktes Vorgehen brachte es zustande, daß trotz der erregten Stimmung ini Lande die Sobranje dem Ministeriuni fast in demselben Augenblick ein Vertrauensvotum erteilte, als Österreich-Ungarn und Rußland in einer gemeinsamen Note an die Türkei herantraten, um sie aufzufordern, durch geeignete Reformen den beständigen Unruhen in Mazedonien ein Ende zu machen. Die Bulgaren besaßen bei aller urwüchsigen Leidenschaftlichkeit eine genügende Portion orientalischer Verschlagenheit, um die Vorteile der Lage schnell zu erfassen. Nun konnte der Fürst im Sommer bei geeigneter Gelegenheit ruhig den Gegenzug tun und der Türkei gegenüber in die Rolle der gekränkten Unschuld eintreten. Am 1. Juli ging eine Zirkular¬ note der bulgarischen Regierung an die Regierungen in Wien, Se. Petersburg und Paris ab, worin nachdrückliche Beschwerde gegen Ausschreitungen türkischer Truppen an der Grenze erhoben wurde. Die Wellen der Leidenschaft gingen damals ziemlich hoch in Bulgarien, aber es war eine Täuschung, wenn man im Auslande daraus den Schluß zog, daß eine Revolution bevorstände, und die Reise des Fürsten ins Ausland dahin deutete, als wolle er das Feld räumen. Im Gegenteil, der Fürst hatte die Zügel fest in der Hand, die Türkei mußte nach¬ geben, und das bewegte Jahr endete mit einer neuen Vertrauenskundgebung der Kammer. Ähnlich gestalteten sich die Dinge in den folgenden Jahren, während in der inneren Entwicklung des Landes ein ständiger Fortschritt erkennbar war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/411>, abgerufen am 22.07.2024.