Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ferdinand, Icir der Bulgaren

Südrußlands, um zuletzt in die Balkanhalbinsel einzudringen und in dem Gebiet
zwischen Balkan und Donau neue Wohnsitze zu gewinnen. Ein Herrenvolk,
rauh, kriegerisch und einfach, nach Stamm und Art den Türken ähnlich. Sie
unterjochen die südslawischen Stämme des Gebiets und werden dem Kaiser in
Byzanz schlimme und gefährliche Nachbarn. Als dann der Bulgarenzar das
Christentum angenommen hat, wird aus den bulgarischen Herren und den
unterworfenen Südslawen, deren Sprache die Eroberer angenommen haben, ein
neues Volk, dem dann im weiteren Verlauf seiner Schicksale wohl noch allerlei
fremdes Blut, vornehmlich türkisches und griechisches, beigemischt wird. So wie
die Edelmetalle durch den Zusatz eines härteren Metalls zur Festhaltung der
Prägung geeigneter werden und eine größere Widerstandsfähigkeit für den
praktischen Gebrauch erhalten, so hat im bulgarischen Volk das südslawische
Naturell einen Zusatz erhalten, der die ursprüngliche Weichheit und Unbeständigkeit
durch eine größere Härte und Herbheit, durch stärkeren Sinn für Disziplin und
einen Zug von nüchternem Realismus glücklich ergänzt. Das bedeutet für die
politische und militärische Entwicklung einen Vorsprung gegenüber den anderen
Südslawen, deren sonstige, zweifellos reiche Begabung das bulgarische Volk mit
seinen Nachbarn gemeinsam hat. Aber nach den Schicksalen, die Bulgarien im
Lauf der Jahrhunderte erfahren hat, war der Weg, den dieses in seinem Kern
so tüchtige Volk vom Augenblick seiner Befreiung an zu beschreiten hatte, mit
Hindernissen und Gefahren übersät. Es ging ihm wie einem Genesenden, der
die ersten Schritte aus dem Krankenzimmer nicht ohne Stütze zurücklegen kann.
Sollte Bulgarien die letzten Spuren der langen Knechtschaft völlig überwinden,
sollte es seine Kräfte voll entwickeln und gebrauchen lernen, sollte es in moderne,
für seine Verhältnisse wirklich geeignete Staatsformen hineinwachsen und einen
angemessenen Platz in der europäischen Staaten- und Kulturwelt, in die es
durch Nationalität und Religion hineingehörte, gewinnen, so bedürfte es einer
über das Durchschnittsmaß hinausreichenden Führung, Es mußte einen Herrscher
haben, der mit überlegener Geschicklichkeit, Geduld und Verstandesschärfe die in
der jungen Nation schlummernden oder keimenden Kräfte zu behüten und zu
entwickeln verstand, äußere Hindernisse klug aus dem Wege zu räumen, unreife
und ziellose Leidenschaften, wie sie ungewohnte Freiheit so leicht hervorruft, zu
zügeln und auf ein erstrebenswertes Ziel zu lenken wußte. Bulgarien hat das
Glück gehabt, einen solchen Herrscher zu finden, der diese ungemein schwierige
Aufgabe bisher meisterhaft gelöst hat. Seit fünfundzwanzig Jahren waltet
König Ferdinand von Bulgarien seines Herrscheramts; er hat sich in dieser
Zeit den Anspruch auf einen ruhmvollen Platz in der Weltgeschichte
erworben. Wenn das bulgarische Volk jetzt dieses Jubelfest besonders festlich
begeht, so ist ihm die Teilnahme aller Urteilsfähigen unserer Kulturwelt
sicher. Es lohnt der Mühe, die Persönlichkeit des Bulgarenkönigs und sein
fünfundzwanzigjähriges Wirken näher zu betrachten, als es gewöhnlich zu
geschehen pflegt.


Ferdinand, Icir der Bulgaren

Südrußlands, um zuletzt in die Balkanhalbinsel einzudringen und in dem Gebiet
zwischen Balkan und Donau neue Wohnsitze zu gewinnen. Ein Herrenvolk,
rauh, kriegerisch und einfach, nach Stamm und Art den Türken ähnlich. Sie
unterjochen die südslawischen Stämme des Gebiets und werden dem Kaiser in
Byzanz schlimme und gefährliche Nachbarn. Als dann der Bulgarenzar das
Christentum angenommen hat, wird aus den bulgarischen Herren und den
unterworfenen Südslawen, deren Sprache die Eroberer angenommen haben, ein
neues Volk, dem dann im weiteren Verlauf seiner Schicksale wohl noch allerlei
fremdes Blut, vornehmlich türkisches und griechisches, beigemischt wird. So wie
die Edelmetalle durch den Zusatz eines härteren Metalls zur Festhaltung der
Prägung geeigneter werden und eine größere Widerstandsfähigkeit für den
praktischen Gebrauch erhalten, so hat im bulgarischen Volk das südslawische
Naturell einen Zusatz erhalten, der die ursprüngliche Weichheit und Unbeständigkeit
durch eine größere Härte und Herbheit, durch stärkeren Sinn für Disziplin und
einen Zug von nüchternem Realismus glücklich ergänzt. Das bedeutet für die
politische und militärische Entwicklung einen Vorsprung gegenüber den anderen
Südslawen, deren sonstige, zweifellos reiche Begabung das bulgarische Volk mit
seinen Nachbarn gemeinsam hat. Aber nach den Schicksalen, die Bulgarien im
Lauf der Jahrhunderte erfahren hat, war der Weg, den dieses in seinem Kern
so tüchtige Volk vom Augenblick seiner Befreiung an zu beschreiten hatte, mit
Hindernissen und Gefahren übersät. Es ging ihm wie einem Genesenden, der
die ersten Schritte aus dem Krankenzimmer nicht ohne Stütze zurücklegen kann.
Sollte Bulgarien die letzten Spuren der langen Knechtschaft völlig überwinden,
sollte es seine Kräfte voll entwickeln und gebrauchen lernen, sollte es in moderne,
für seine Verhältnisse wirklich geeignete Staatsformen hineinwachsen und einen
angemessenen Platz in der europäischen Staaten- und Kulturwelt, in die es
durch Nationalität und Religion hineingehörte, gewinnen, so bedürfte es einer
über das Durchschnittsmaß hinausreichenden Führung, Es mußte einen Herrscher
haben, der mit überlegener Geschicklichkeit, Geduld und Verstandesschärfe die in
der jungen Nation schlummernden oder keimenden Kräfte zu behüten und zu
entwickeln verstand, äußere Hindernisse klug aus dem Wege zu räumen, unreife
und ziellose Leidenschaften, wie sie ungewohnte Freiheit so leicht hervorruft, zu
zügeln und auf ein erstrebenswertes Ziel zu lenken wußte. Bulgarien hat das
Glück gehabt, einen solchen Herrscher zu finden, der diese ungemein schwierige
Aufgabe bisher meisterhaft gelöst hat. Seit fünfundzwanzig Jahren waltet
König Ferdinand von Bulgarien seines Herrscheramts; er hat sich in dieser
Zeit den Anspruch auf einen ruhmvollen Platz in der Weltgeschichte
erworben. Wenn das bulgarische Volk jetzt dieses Jubelfest besonders festlich
begeht, so ist ihm die Teilnahme aller Urteilsfähigen unserer Kulturwelt
sicher. Es lohnt der Mühe, die Persönlichkeit des Bulgarenkönigs und sein
fünfundzwanzigjähriges Wirken näher zu betrachten, als es gewöhnlich zu
geschehen pflegt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0403" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322150"/>
          <fw type="header" place="top"> Ferdinand, Icir der Bulgaren</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1686" prev="#ID_1685"> Südrußlands, um zuletzt in die Balkanhalbinsel einzudringen und in dem Gebiet<lb/>
zwischen Balkan und Donau neue Wohnsitze zu gewinnen. Ein Herrenvolk,<lb/>
rauh, kriegerisch und einfach, nach Stamm und Art den Türken ähnlich. Sie<lb/>
unterjochen die südslawischen Stämme des Gebiets und werden dem Kaiser in<lb/>
Byzanz schlimme und gefährliche Nachbarn. Als dann der Bulgarenzar das<lb/>
Christentum angenommen hat, wird aus den bulgarischen Herren und den<lb/>
unterworfenen Südslawen, deren Sprache die Eroberer angenommen haben, ein<lb/>
neues Volk, dem dann im weiteren Verlauf seiner Schicksale wohl noch allerlei<lb/>
fremdes Blut, vornehmlich türkisches und griechisches, beigemischt wird. So wie<lb/>
die Edelmetalle durch den Zusatz eines härteren Metalls zur Festhaltung der<lb/>
Prägung geeigneter werden und eine größere Widerstandsfähigkeit für den<lb/>
praktischen Gebrauch erhalten, so hat im bulgarischen Volk das südslawische<lb/>
Naturell einen Zusatz erhalten, der die ursprüngliche Weichheit und Unbeständigkeit<lb/>
durch eine größere Härte und Herbheit, durch stärkeren Sinn für Disziplin und<lb/>
einen Zug von nüchternem Realismus glücklich ergänzt. Das bedeutet für die<lb/>
politische und militärische Entwicklung einen Vorsprung gegenüber den anderen<lb/>
Südslawen, deren sonstige, zweifellos reiche Begabung das bulgarische Volk mit<lb/>
seinen Nachbarn gemeinsam hat. Aber nach den Schicksalen, die Bulgarien im<lb/>
Lauf der Jahrhunderte erfahren hat, war der Weg, den dieses in seinem Kern<lb/>
so tüchtige Volk vom Augenblick seiner Befreiung an zu beschreiten hatte, mit<lb/>
Hindernissen und Gefahren übersät. Es ging ihm wie einem Genesenden, der<lb/>
die ersten Schritte aus dem Krankenzimmer nicht ohne Stütze zurücklegen kann.<lb/>
Sollte Bulgarien die letzten Spuren der langen Knechtschaft völlig überwinden,<lb/>
sollte es seine Kräfte voll entwickeln und gebrauchen lernen, sollte es in moderne,<lb/>
für seine Verhältnisse wirklich geeignete Staatsformen hineinwachsen und einen<lb/>
angemessenen Platz in der europäischen Staaten- und Kulturwelt, in die es<lb/>
durch Nationalität und Religion hineingehörte, gewinnen, so bedürfte es einer<lb/>
über das Durchschnittsmaß hinausreichenden Führung, Es mußte einen Herrscher<lb/>
haben, der mit überlegener Geschicklichkeit, Geduld und Verstandesschärfe die in<lb/>
der jungen Nation schlummernden oder keimenden Kräfte zu behüten und zu<lb/>
entwickeln verstand, äußere Hindernisse klug aus dem Wege zu räumen, unreife<lb/>
und ziellose Leidenschaften, wie sie ungewohnte Freiheit so leicht hervorruft, zu<lb/>
zügeln und auf ein erstrebenswertes Ziel zu lenken wußte. Bulgarien hat das<lb/>
Glück gehabt, einen solchen Herrscher zu finden, der diese ungemein schwierige<lb/>
Aufgabe bisher meisterhaft gelöst hat. Seit fünfundzwanzig Jahren waltet<lb/>
König Ferdinand von Bulgarien seines Herrscheramts; er hat sich in dieser<lb/>
Zeit den Anspruch auf einen ruhmvollen Platz in der Weltgeschichte<lb/>
erworben. Wenn das bulgarische Volk jetzt dieses Jubelfest besonders festlich<lb/>
begeht, so ist ihm die Teilnahme aller Urteilsfähigen unserer Kulturwelt<lb/>
sicher. Es lohnt der Mühe, die Persönlichkeit des Bulgarenkönigs und sein<lb/>
fünfundzwanzigjähriges Wirken näher zu betrachten, als es gewöhnlich zu<lb/>
geschehen pflegt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0403] Ferdinand, Icir der Bulgaren Südrußlands, um zuletzt in die Balkanhalbinsel einzudringen und in dem Gebiet zwischen Balkan und Donau neue Wohnsitze zu gewinnen. Ein Herrenvolk, rauh, kriegerisch und einfach, nach Stamm und Art den Türken ähnlich. Sie unterjochen die südslawischen Stämme des Gebiets und werden dem Kaiser in Byzanz schlimme und gefährliche Nachbarn. Als dann der Bulgarenzar das Christentum angenommen hat, wird aus den bulgarischen Herren und den unterworfenen Südslawen, deren Sprache die Eroberer angenommen haben, ein neues Volk, dem dann im weiteren Verlauf seiner Schicksale wohl noch allerlei fremdes Blut, vornehmlich türkisches und griechisches, beigemischt wird. So wie die Edelmetalle durch den Zusatz eines härteren Metalls zur Festhaltung der Prägung geeigneter werden und eine größere Widerstandsfähigkeit für den praktischen Gebrauch erhalten, so hat im bulgarischen Volk das südslawische Naturell einen Zusatz erhalten, der die ursprüngliche Weichheit und Unbeständigkeit durch eine größere Härte und Herbheit, durch stärkeren Sinn für Disziplin und einen Zug von nüchternem Realismus glücklich ergänzt. Das bedeutet für die politische und militärische Entwicklung einen Vorsprung gegenüber den anderen Südslawen, deren sonstige, zweifellos reiche Begabung das bulgarische Volk mit seinen Nachbarn gemeinsam hat. Aber nach den Schicksalen, die Bulgarien im Lauf der Jahrhunderte erfahren hat, war der Weg, den dieses in seinem Kern so tüchtige Volk vom Augenblick seiner Befreiung an zu beschreiten hatte, mit Hindernissen und Gefahren übersät. Es ging ihm wie einem Genesenden, der die ersten Schritte aus dem Krankenzimmer nicht ohne Stütze zurücklegen kann. Sollte Bulgarien die letzten Spuren der langen Knechtschaft völlig überwinden, sollte es seine Kräfte voll entwickeln und gebrauchen lernen, sollte es in moderne, für seine Verhältnisse wirklich geeignete Staatsformen hineinwachsen und einen angemessenen Platz in der europäischen Staaten- und Kulturwelt, in die es durch Nationalität und Religion hineingehörte, gewinnen, so bedürfte es einer über das Durchschnittsmaß hinausreichenden Führung, Es mußte einen Herrscher haben, der mit überlegener Geschicklichkeit, Geduld und Verstandesschärfe die in der jungen Nation schlummernden oder keimenden Kräfte zu behüten und zu entwickeln verstand, äußere Hindernisse klug aus dem Wege zu räumen, unreife und ziellose Leidenschaften, wie sie ungewohnte Freiheit so leicht hervorruft, zu zügeln und auf ein erstrebenswertes Ziel zu lenken wußte. Bulgarien hat das Glück gehabt, einen solchen Herrscher zu finden, der diese ungemein schwierige Aufgabe bisher meisterhaft gelöst hat. Seit fünfundzwanzig Jahren waltet König Ferdinand von Bulgarien seines Herrscheramts; er hat sich in dieser Zeit den Anspruch auf einen ruhmvollen Platz in der Weltgeschichte erworben. Wenn das bulgarische Volk jetzt dieses Jubelfest besonders festlich begeht, so ist ihm die Teilnahme aller Urteilsfähigen unserer Kulturwelt sicher. Es lohnt der Mühe, die Persönlichkeit des Bulgarenkönigs und sein fünfundzwanzigjähriges Wirken näher zu betrachten, als es gewöhnlich zu geschehen pflegt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/403
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/403>, abgerufen am 03.07.2024.