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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Ferdinand, Zar der Bulgaren

der Türkei in Europa so bedeutend gehoben hat, die völlige Loslösung der
christlichen Nationalitäten der Balkanhalbinsel von der türkischen Oberherrschaft.

Es besteht wohl ein innerer Zusammenhang zwischen dieser äußeren Ab-
bröckelung des osmanischen Reichs und seiner einstweiligen inneren Kräftigung,
die freilich neuerdings in einen neuen Zersetzungsprozeß umzuschlagen scheint.
Die Türkei hatte sich mit dem Augenblick, als sie sich nach europäischen: Muster
umzubilden begann, von der alten Grundlage ihres Wesens, der religiös-
orientalischen, losgelöst; sie mußte ein neues Fundament gewinnen, und das
war das national-türkische. Damit wurde die islamitische Idee, die durch den
Sultan als Kalifen vertreten wurde, nicht aufgegeben; sie bildete immer noch
den festen Kitt, der das Völkergemisch mohammedanischen Glaubens zusammen¬
hielt. Aber der Charakter der Staatseinrichtungen erhielt eine nationale Färbung;
die Türken fühlten sich jetzt als herrschender Stamm auch gegenüber den Arabern
und anderen Glaubensgenossen, und der Despotismus Abdul Hamids, so
orientalisch er war, hatte nichts mehr von dem Glaubensfanatismus, der alle
nationalen Unterschiede verwischte, wo die Fahne des Propheten wehte. Dieser
neue Despotismus war vielmehr die straffe, persönliche Zusammenfassung der
Ideen und Eigenheiten, die der alttürkische Nationalcharakter in sich barg. Daß
daraus eine Steigerung der nationalen Fähigkeiten, eine Art von Wiedergeburt
des Türkentums hervorging, ist wohl zu erklären, aber das neue Osmanentum,
das nicht mehr von der religiösen Begeisterung und dem Gegensatz gegen die
"Ungläubigen" getragen wurde, war auch nicht mehr sähig, die schon eingeleitete
Befreiung der christlichen Nationalitäten aufzuhalten.

Daraus darf nun freilich nicht geschlossen werden, die christlichen Balkan¬
völker verdankten ihre Befreiung nur dieser Gunst der Umstände. Nichts ist
weniger am Platz als die abfälligen Urteile und das spöttische Lächeln, womit
das alte Europa oft noch das Emporringen dieser Völker begleitet, weil sie die
traurige Vergangenheit der letzten Jahrhunderte, die für sie Jahrhunderte der
Knechtschaft in der schlimmsten, am tiefsten herabwürdigenden Form waren,
noch nicht ganz abgestreift haben. Man muß sich die Natur und Entwicklung des
osmanischen Staatswesens gründlich vor Augen halten, um zu erkennen, was
es für die christlichen Balkanvölker bedeutete, in so kurzer Zeit auch nur die
bescheidene Höhe zu ersteigen, die sie jetzt erreicht haben.

Merkwürdig, daß gerade die Balkanvölker, denen die europäische Welt von
Hause aus vielleicht am wenigsten zugetraut hat, in diesem Vorwärtsschreiten
die Führung übernommen haben und sich jetzt als die zukunftsreichsten darstellen.
Es sind die Rumänen und die Bulgaren. Vielleicht hat sie die eigenartige
Blutmischung dazu prädestiniert. Von den südslawischen Völkern sind die Bul¬
garen das am wenigsten "rassenreine". Ursprünglich waren ja die Bulgaren
ein Volk finnischen Stammes, von dessen einstigen Wirken an den Ufern der
Wolga sich noch heute Spuren erhalten haben. Von diesem frischen, lebens¬
kräftigen Volk zweigt sich ein Teil ab, durchstreift lange Zeit die weiten Steppen


Ferdinand, Zar der Bulgaren

der Türkei in Europa so bedeutend gehoben hat, die völlige Loslösung der
christlichen Nationalitäten der Balkanhalbinsel von der türkischen Oberherrschaft.

Es besteht wohl ein innerer Zusammenhang zwischen dieser äußeren Ab-
bröckelung des osmanischen Reichs und seiner einstweiligen inneren Kräftigung,
die freilich neuerdings in einen neuen Zersetzungsprozeß umzuschlagen scheint.
Die Türkei hatte sich mit dem Augenblick, als sie sich nach europäischen: Muster
umzubilden begann, von der alten Grundlage ihres Wesens, der religiös-
orientalischen, losgelöst; sie mußte ein neues Fundament gewinnen, und das
war das national-türkische. Damit wurde die islamitische Idee, die durch den
Sultan als Kalifen vertreten wurde, nicht aufgegeben; sie bildete immer noch
den festen Kitt, der das Völkergemisch mohammedanischen Glaubens zusammen¬
hielt. Aber der Charakter der Staatseinrichtungen erhielt eine nationale Färbung;
die Türken fühlten sich jetzt als herrschender Stamm auch gegenüber den Arabern
und anderen Glaubensgenossen, und der Despotismus Abdul Hamids, so
orientalisch er war, hatte nichts mehr von dem Glaubensfanatismus, der alle
nationalen Unterschiede verwischte, wo die Fahne des Propheten wehte. Dieser
neue Despotismus war vielmehr die straffe, persönliche Zusammenfassung der
Ideen und Eigenheiten, die der alttürkische Nationalcharakter in sich barg. Daß
daraus eine Steigerung der nationalen Fähigkeiten, eine Art von Wiedergeburt
des Türkentums hervorging, ist wohl zu erklären, aber das neue Osmanentum,
das nicht mehr von der religiösen Begeisterung und dem Gegensatz gegen die
„Ungläubigen" getragen wurde, war auch nicht mehr sähig, die schon eingeleitete
Befreiung der christlichen Nationalitäten aufzuhalten.

Daraus darf nun freilich nicht geschlossen werden, die christlichen Balkan¬
völker verdankten ihre Befreiung nur dieser Gunst der Umstände. Nichts ist
weniger am Platz als die abfälligen Urteile und das spöttische Lächeln, womit
das alte Europa oft noch das Emporringen dieser Völker begleitet, weil sie die
traurige Vergangenheit der letzten Jahrhunderte, die für sie Jahrhunderte der
Knechtschaft in der schlimmsten, am tiefsten herabwürdigenden Form waren,
noch nicht ganz abgestreift haben. Man muß sich die Natur und Entwicklung des
osmanischen Staatswesens gründlich vor Augen halten, um zu erkennen, was
es für die christlichen Balkanvölker bedeutete, in so kurzer Zeit auch nur die
bescheidene Höhe zu ersteigen, die sie jetzt erreicht haben.

Merkwürdig, daß gerade die Balkanvölker, denen die europäische Welt von
Hause aus vielleicht am wenigsten zugetraut hat, in diesem Vorwärtsschreiten
die Führung übernommen haben und sich jetzt als die zukunftsreichsten darstellen.
Es sind die Rumänen und die Bulgaren. Vielleicht hat sie die eigenartige
Blutmischung dazu prädestiniert. Von den südslawischen Völkern sind die Bul¬
garen das am wenigsten „rassenreine". Ursprünglich waren ja die Bulgaren
ein Volk finnischen Stammes, von dessen einstigen Wirken an den Ufern der
Wolga sich noch heute Spuren erhalten haben. Von diesem frischen, lebens¬
kräftigen Volk zweigt sich ein Teil ab, durchstreift lange Zeit die weiten Steppen


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[0402] Ferdinand, Zar der Bulgaren der Türkei in Europa so bedeutend gehoben hat, die völlige Loslösung der christlichen Nationalitäten der Balkanhalbinsel von der türkischen Oberherrschaft. Es besteht wohl ein innerer Zusammenhang zwischen dieser äußeren Ab- bröckelung des osmanischen Reichs und seiner einstweiligen inneren Kräftigung, die freilich neuerdings in einen neuen Zersetzungsprozeß umzuschlagen scheint. Die Türkei hatte sich mit dem Augenblick, als sie sich nach europäischen: Muster umzubilden begann, von der alten Grundlage ihres Wesens, der religiös- orientalischen, losgelöst; sie mußte ein neues Fundament gewinnen, und das war das national-türkische. Damit wurde die islamitische Idee, die durch den Sultan als Kalifen vertreten wurde, nicht aufgegeben; sie bildete immer noch den festen Kitt, der das Völkergemisch mohammedanischen Glaubens zusammen¬ hielt. Aber der Charakter der Staatseinrichtungen erhielt eine nationale Färbung; die Türken fühlten sich jetzt als herrschender Stamm auch gegenüber den Arabern und anderen Glaubensgenossen, und der Despotismus Abdul Hamids, so orientalisch er war, hatte nichts mehr von dem Glaubensfanatismus, der alle nationalen Unterschiede verwischte, wo die Fahne des Propheten wehte. Dieser neue Despotismus war vielmehr die straffe, persönliche Zusammenfassung der Ideen und Eigenheiten, die der alttürkische Nationalcharakter in sich barg. Daß daraus eine Steigerung der nationalen Fähigkeiten, eine Art von Wiedergeburt des Türkentums hervorging, ist wohl zu erklären, aber das neue Osmanentum, das nicht mehr von der religiösen Begeisterung und dem Gegensatz gegen die „Ungläubigen" getragen wurde, war auch nicht mehr sähig, die schon eingeleitete Befreiung der christlichen Nationalitäten aufzuhalten. Daraus darf nun freilich nicht geschlossen werden, die christlichen Balkan¬ völker verdankten ihre Befreiung nur dieser Gunst der Umstände. Nichts ist weniger am Platz als die abfälligen Urteile und das spöttische Lächeln, womit das alte Europa oft noch das Emporringen dieser Völker begleitet, weil sie die traurige Vergangenheit der letzten Jahrhunderte, die für sie Jahrhunderte der Knechtschaft in der schlimmsten, am tiefsten herabwürdigenden Form waren, noch nicht ganz abgestreift haben. Man muß sich die Natur und Entwicklung des osmanischen Staatswesens gründlich vor Augen halten, um zu erkennen, was es für die christlichen Balkanvölker bedeutete, in so kurzer Zeit auch nur die bescheidene Höhe zu ersteigen, die sie jetzt erreicht haben. Merkwürdig, daß gerade die Balkanvölker, denen die europäische Welt von Hause aus vielleicht am wenigsten zugetraut hat, in diesem Vorwärtsschreiten die Führung übernommen haben und sich jetzt als die zukunftsreichsten darstellen. Es sind die Rumänen und die Bulgaren. Vielleicht hat sie die eigenartige Blutmischung dazu prädestiniert. Von den südslawischen Völkern sind die Bul¬ garen das am wenigsten „rassenreine". Ursprünglich waren ja die Bulgaren ein Volk finnischen Stammes, von dessen einstigen Wirken an den Ufern der Wolga sich noch heute Spuren erhalten haben. Von diesem frischen, lebens¬ kräftigen Volk zweigt sich ein Teil ab, durchstreift lange Zeit die weiten Steppen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/402>, abgerufen am 01.07.2024.