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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Emil Rosonow

Erzählungen, Gedichte, und schon sehen wir ihn in der sozialdemokratischen
Bewegung. Das kostet ihn seine gut ausgefüllte Stellung, und er wird Re¬
dakteur an der sozialdemokratischen Zeitung in Chemnitz, heiratet die Tochter
seines Verlegers und zieht im Jahre 1898 als Abgeordneter des 20. Säch¬
sischen Kreises in den Reichstag. Ein glänzender Redner, ein warmherziger
Freund und Vertrauter der erzgebirgischen Arbeiterbevölkerung, hat er nun in
zwei Gesetzgebungsabschnitten des Reichstags mitgewirkt, dazwischen noch eine
Dortnmnder Tageszeitung geleitet, schließlich ganz in Berlin gelebt, bis ihn am
7. Februar 1904 (in Schöneberg) ein heftiger Gelenkrheumatismus aus diesem
Leben abberief. Er hat keines seiner Dramen selbst auf der Bühne gesehen,
aber noch den Erfolg des "Kater Lampe" erleben dürfen.

Das dramatische Werk Rosenows besteht aus vier fertigen Dichtungen und
zwei großen Bruchstücken (sie alle sind jetzt als "Gesammelte Dramen" mit
einer Einleitung von Christian Gaehde bei Hermann Essig in Berlin erschienen).
Die älteste dieser Dichtungen, der Einakter "Daheim", ist in den ersten neun¬
ziger Jahren entstanden und trägt die Zeichen der Zeit deutlich im Gesicht; es
war die Zeit der naturalistischen Hochflut, Gerhart Hauptmann und Max Halbe
waren durchgedrungen, Arno Holz und Johannes Schlaf hatten unter Fontanes
skeptischen Beifall und des Publikums wütender Gegnerschaft die "Familie
Selicke" zur Aufführung gebracht, Georg Hirschfeld seinen Berliner Einakter
"Zu Hause". Man versteht nicht recht, warum Rosenows Werk damals nicht
auf die Bühne gelangte. Das kleine Werk ist, wie so viele seiner Art, nichts als die
Darstellung der Katastrophe einer vorangegangenen längeren Entwicklung, aber es
gelingt Rosenow vollkommen, alle Fäden bloßzulegen, die wir zum Verständnis
der Handlung brauchen, und zwar in dramatischer Form, ohne langwierige
Erklärungen und Erzählungen, Eine proletarische Familie sitzt im großen Elend
im Hintergebäude einer Mieterkaserne. Die eine Tochter ist krank, totkrank,
die andere leichtsinnig, noch schwankend, der Sohn wird eben aus dem Gefängnis
zurückerwartet. Langsam entwirren sich die Fäden: die jüngere Tochter, doppelt
bedrückt durch die Rückkehr des Bruders, die der Familie das letzte Nestchen
bürgerlicher Achtung zu nehmen scheint, gleitet in den Abgrund. Die andere,
endlich rücksichtslos über ihr Leiden aufgeklärt, gibt jede Hoffnung auf -- wir
wohnen zwar nicht ihrem Tode, aber dem letzten Ausmalen höherer Lebenskraft
in dem kranken Körper bei; der Sohn, den nicht Verderbtheit, sondern heißes
Blut zum Vergehen getrieben haben, rafft sich neu empor und wird mit dem
für sie jetzt wertlosen Sparpfennig der kranken Schwester ein neues und, wie
wir gewiß sind, reineres Leben beginnen.

Es handelt sich also in diesem Einakter keineswegs nur um eine Zustands¬
schilderung, die sich auch erzählerisch hätte bewältigen lassen, sondern um dra¬
matische Vorgänge. Der Prüfstein dafür ist immer die Untersuchung, ob die
handelnden Menschen am Schluß auf ihrer Linie weitergerückt sind oder nicht.
Eine bleibt ohne Zweifel stehen: die Mutter; aber das ist auch dramatisch völlig


Emil Rosonow

Erzählungen, Gedichte, und schon sehen wir ihn in der sozialdemokratischen
Bewegung. Das kostet ihn seine gut ausgefüllte Stellung, und er wird Re¬
dakteur an der sozialdemokratischen Zeitung in Chemnitz, heiratet die Tochter
seines Verlegers und zieht im Jahre 1898 als Abgeordneter des 20. Säch¬
sischen Kreises in den Reichstag. Ein glänzender Redner, ein warmherziger
Freund und Vertrauter der erzgebirgischen Arbeiterbevölkerung, hat er nun in
zwei Gesetzgebungsabschnitten des Reichstags mitgewirkt, dazwischen noch eine
Dortnmnder Tageszeitung geleitet, schließlich ganz in Berlin gelebt, bis ihn am
7. Februar 1904 (in Schöneberg) ein heftiger Gelenkrheumatismus aus diesem
Leben abberief. Er hat keines seiner Dramen selbst auf der Bühne gesehen,
aber noch den Erfolg des „Kater Lampe" erleben dürfen.

Das dramatische Werk Rosenows besteht aus vier fertigen Dichtungen und
zwei großen Bruchstücken (sie alle sind jetzt als „Gesammelte Dramen" mit
einer Einleitung von Christian Gaehde bei Hermann Essig in Berlin erschienen).
Die älteste dieser Dichtungen, der Einakter „Daheim", ist in den ersten neun¬
ziger Jahren entstanden und trägt die Zeichen der Zeit deutlich im Gesicht; es
war die Zeit der naturalistischen Hochflut, Gerhart Hauptmann und Max Halbe
waren durchgedrungen, Arno Holz und Johannes Schlaf hatten unter Fontanes
skeptischen Beifall und des Publikums wütender Gegnerschaft die „Familie
Selicke" zur Aufführung gebracht, Georg Hirschfeld seinen Berliner Einakter
„Zu Hause". Man versteht nicht recht, warum Rosenows Werk damals nicht
auf die Bühne gelangte. Das kleine Werk ist, wie so viele seiner Art, nichts als die
Darstellung der Katastrophe einer vorangegangenen längeren Entwicklung, aber es
gelingt Rosenow vollkommen, alle Fäden bloßzulegen, die wir zum Verständnis
der Handlung brauchen, und zwar in dramatischer Form, ohne langwierige
Erklärungen und Erzählungen, Eine proletarische Familie sitzt im großen Elend
im Hintergebäude einer Mieterkaserne. Die eine Tochter ist krank, totkrank,
die andere leichtsinnig, noch schwankend, der Sohn wird eben aus dem Gefängnis
zurückerwartet. Langsam entwirren sich die Fäden: die jüngere Tochter, doppelt
bedrückt durch die Rückkehr des Bruders, die der Familie das letzte Nestchen
bürgerlicher Achtung zu nehmen scheint, gleitet in den Abgrund. Die andere,
endlich rücksichtslos über ihr Leiden aufgeklärt, gibt jede Hoffnung auf — wir
wohnen zwar nicht ihrem Tode, aber dem letzten Ausmalen höherer Lebenskraft
in dem kranken Körper bei; der Sohn, den nicht Verderbtheit, sondern heißes
Blut zum Vergehen getrieben haben, rafft sich neu empor und wird mit dem
für sie jetzt wertlosen Sparpfennig der kranken Schwester ein neues und, wie
wir gewiß sind, reineres Leben beginnen.

Es handelt sich also in diesem Einakter keineswegs nur um eine Zustands¬
schilderung, die sich auch erzählerisch hätte bewältigen lassen, sondern um dra¬
matische Vorgänge. Der Prüfstein dafür ist immer die Untersuchung, ob die
handelnden Menschen am Schluß auf ihrer Linie weitergerückt sind oder nicht.
Eine bleibt ohne Zweifel stehen: die Mutter; aber das ist auch dramatisch völlig


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[0384] Emil Rosonow Erzählungen, Gedichte, und schon sehen wir ihn in der sozialdemokratischen Bewegung. Das kostet ihn seine gut ausgefüllte Stellung, und er wird Re¬ dakteur an der sozialdemokratischen Zeitung in Chemnitz, heiratet die Tochter seines Verlegers und zieht im Jahre 1898 als Abgeordneter des 20. Säch¬ sischen Kreises in den Reichstag. Ein glänzender Redner, ein warmherziger Freund und Vertrauter der erzgebirgischen Arbeiterbevölkerung, hat er nun in zwei Gesetzgebungsabschnitten des Reichstags mitgewirkt, dazwischen noch eine Dortnmnder Tageszeitung geleitet, schließlich ganz in Berlin gelebt, bis ihn am 7. Februar 1904 (in Schöneberg) ein heftiger Gelenkrheumatismus aus diesem Leben abberief. Er hat keines seiner Dramen selbst auf der Bühne gesehen, aber noch den Erfolg des „Kater Lampe" erleben dürfen. Das dramatische Werk Rosenows besteht aus vier fertigen Dichtungen und zwei großen Bruchstücken (sie alle sind jetzt als „Gesammelte Dramen" mit einer Einleitung von Christian Gaehde bei Hermann Essig in Berlin erschienen). Die älteste dieser Dichtungen, der Einakter „Daheim", ist in den ersten neun¬ ziger Jahren entstanden und trägt die Zeichen der Zeit deutlich im Gesicht; es war die Zeit der naturalistischen Hochflut, Gerhart Hauptmann und Max Halbe waren durchgedrungen, Arno Holz und Johannes Schlaf hatten unter Fontanes skeptischen Beifall und des Publikums wütender Gegnerschaft die „Familie Selicke" zur Aufführung gebracht, Georg Hirschfeld seinen Berliner Einakter „Zu Hause". Man versteht nicht recht, warum Rosenows Werk damals nicht auf die Bühne gelangte. Das kleine Werk ist, wie so viele seiner Art, nichts als die Darstellung der Katastrophe einer vorangegangenen längeren Entwicklung, aber es gelingt Rosenow vollkommen, alle Fäden bloßzulegen, die wir zum Verständnis der Handlung brauchen, und zwar in dramatischer Form, ohne langwierige Erklärungen und Erzählungen, Eine proletarische Familie sitzt im großen Elend im Hintergebäude einer Mieterkaserne. Die eine Tochter ist krank, totkrank, die andere leichtsinnig, noch schwankend, der Sohn wird eben aus dem Gefängnis zurückerwartet. Langsam entwirren sich die Fäden: die jüngere Tochter, doppelt bedrückt durch die Rückkehr des Bruders, die der Familie das letzte Nestchen bürgerlicher Achtung zu nehmen scheint, gleitet in den Abgrund. Die andere, endlich rücksichtslos über ihr Leiden aufgeklärt, gibt jede Hoffnung auf — wir wohnen zwar nicht ihrem Tode, aber dem letzten Ausmalen höherer Lebenskraft in dem kranken Körper bei; der Sohn, den nicht Verderbtheit, sondern heißes Blut zum Vergehen getrieben haben, rafft sich neu empor und wird mit dem für sie jetzt wertlosen Sparpfennig der kranken Schwester ein neues und, wie wir gewiß sind, reineres Leben beginnen. Es handelt sich also in diesem Einakter keineswegs nur um eine Zustands¬ schilderung, die sich auch erzählerisch hätte bewältigen lassen, sondern um dra¬ matische Vorgänge. Der Prüfstein dafür ist immer die Untersuchung, ob die handelnden Menschen am Schluß auf ihrer Linie weitergerückt sind oder nicht. Eine bleibt ohne Zweifel stehen: die Mutter; aber das ist auch dramatisch völlig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/384>, abgerufen am 03.07.2024.