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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Linn Rosenow

Die Literaturgeschichte der Gegenwart scheint diese Fragen zum mindesten
nicht mit einem Nein beantworten zu lassen -- denn zwei so ganz und gar
dramatische Begabungen wie Stavenhagen und Rosenow sind mitten in der
Jugendfülle dahingegangen, nach einem leidenschaftlich innerlich erfaßten Leben,
und sie haben in der triebhaften Erfassung dessen, was der dramatische Dichter
vor allem braucht, in unserer neueren Dichtung seit Gerhart Hauptmann nicht
ihresgleichen. Gewiß haben wir feinere Künstler, reichere Geister, aber keine Dra¬
matiker mehr von so stark angeborenem, dramatischen Instinkt. Denn darauf
kommt es an, ob der dramatische Dichter von vornherein in dramatischer Hand¬
lung gedacht und empfunden hat. Die übergroße Zahl aller Dramen, und
auch der heutigen deutschen, läßt gerade dieses Zwangsgefühl vermissen, und
immer wieder findet man begabte Erzähler, die glauben, sich dramatisch aus¬
sprechen zu sollen. Bei dem geborenen Dramatiker muß auch ein mißlungenes
Drama noch deutlich erkennbar machen, daß es nicht ein in Gesprächsform
gebrachter Romanstoff, sondern ein in unmittelbarer Handlung, im dramatischen
Gegeneinander empfangener und dann ausgeführter dramatischer Gedanke war.
Es gibt keine Art der Dichtung, die so anzöge und reizte wie diese -- und ich
spreche dabei ausdrücklich nicht von dem äußeren Erfolg und von dem Glanz
und Schimmer der Bühne; ich rede nur künstlerisch davon, wie lockend es für
jeden Dichter ist, sich seine Gestalten in unmittelbarer Aussprache mit- und
gegeneinander vorzustellen. Und dieser Lockruf verführt dann nur allzu oft den
geborenen Erzähler zur dramatischen Bearbeitung, für die ihm weder der Stoff
noch die angeborene Kraft zur Verfügung steht. Dein Lyriker ist es immer
wieder ebenso ergangen.

Bei Fritz Stavenhagen aber kommt dem Leser auf keiner Seite ein ähn¬
liches Gefühl der mangelnden Übereinstimmung von Stoff und Form, von Trieb
und Wille. Auch da, wo er noch nicht reifste Kunst bietet, von seinen besten
Werken ganz zu schweigen, schauen wir immer: hier handelt es sich nicht um
einen Notbau, um das Werk eines Zimmermanns, der eigentlich ein Gärtner
ist, sondern hier schafft immer jemand, der gar nicht anders als im dramatischen
Bilde sehen, keine andere als dramatische Sprache hören kann.

Und vollkommen das Nämliche gilt von Emil Rosenow, dessen äußeres
Schicksal auch manche Verwandtschaft mit dem Stavenhagens hat. Auch er
ging aus sehr kleinen Verhältnissen hervor -- er war der Sohn eines Schuhmacher¬
meisters. Am 9. März 1871 wurde er zu Köln geboren; seine Eltern stammten
jedoch aus dem Kreise Neu-Stettin, so daß seine Abkunft nach Niederdeutschland
hinweist. Die Familie verarmte, und Emil Rosenow kam aus der Mittelschule
in die Volksschule, verließ diese vierzehnjährig und trat, nach kurzer Lehrzeit
bei einem Buchhändler, beim Schaaffhausenschen Bankverein zu Köln ein. Nun
erfaßte ihn der bei all solchen Gestalten immer wiederkehrende ungeheuere
Bildnngsdrang, der sich vor allem in einer fruchtbaren Lesewut ansieht. Acht¬
zehnjährig schreibt Rosenow für Zeitungen, bunt durcheinander Leitaufsätze,


Linn Rosenow

Die Literaturgeschichte der Gegenwart scheint diese Fragen zum mindesten
nicht mit einem Nein beantworten zu lassen — denn zwei so ganz und gar
dramatische Begabungen wie Stavenhagen und Rosenow sind mitten in der
Jugendfülle dahingegangen, nach einem leidenschaftlich innerlich erfaßten Leben,
und sie haben in der triebhaften Erfassung dessen, was der dramatische Dichter
vor allem braucht, in unserer neueren Dichtung seit Gerhart Hauptmann nicht
ihresgleichen. Gewiß haben wir feinere Künstler, reichere Geister, aber keine Dra¬
matiker mehr von so stark angeborenem, dramatischen Instinkt. Denn darauf
kommt es an, ob der dramatische Dichter von vornherein in dramatischer Hand¬
lung gedacht und empfunden hat. Die übergroße Zahl aller Dramen, und
auch der heutigen deutschen, läßt gerade dieses Zwangsgefühl vermissen, und
immer wieder findet man begabte Erzähler, die glauben, sich dramatisch aus¬
sprechen zu sollen. Bei dem geborenen Dramatiker muß auch ein mißlungenes
Drama noch deutlich erkennbar machen, daß es nicht ein in Gesprächsform
gebrachter Romanstoff, sondern ein in unmittelbarer Handlung, im dramatischen
Gegeneinander empfangener und dann ausgeführter dramatischer Gedanke war.
Es gibt keine Art der Dichtung, die so anzöge und reizte wie diese — und ich
spreche dabei ausdrücklich nicht von dem äußeren Erfolg und von dem Glanz
und Schimmer der Bühne; ich rede nur künstlerisch davon, wie lockend es für
jeden Dichter ist, sich seine Gestalten in unmittelbarer Aussprache mit- und
gegeneinander vorzustellen. Und dieser Lockruf verführt dann nur allzu oft den
geborenen Erzähler zur dramatischen Bearbeitung, für die ihm weder der Stoff
noch die angeborene Kraft zur Verfügung steht. Dein Lyriker ist es immer
wieder ebenso ergangen.

Bei Fritz Stavenhagen aber kommt dem Leser auf keiner Seite ein ähn¬
liches Gefühl der mangelnden Übereinstimmung von Stoff und Form, von Trieb
und Wille. Auch da, wo er noch nicht reifste Kunst bietet, von seinen besten
Werken ganz zu schweigen, schauen wir immer: hier handelt es sich nicht um
einen Notbau, um das Werk eines Zimmermanns, der eigentlich ein Gärtner
ist, sondern hier schafft immer jemand, der gar nicht anders als im dramatischen
Bilde sehen, keine andere als dramatische Sprache hören kann.

Und vollkommen das Nämliche gilt von Emil Rosenow, dessen äußeres
Schicksal auch manche Verwandtschaft mit dem Stavenhagens hat. Auch er
ging aus sehr kleinen Verhältnissen hervor — er war der Sohn eines Schuhmacher¬
meisters. Am 9. März 1871 wurde er zu Köln geboren; seine Eltern stammten
jedoch aus dem Kreise Neu-Stettin, so daß seine Abkunft nach Niederdeutschland
hinweist. Die Familie verarmte, und Emil Rosenow kam aus der Mittelschule
in die Volksschule, verließ diese vierzehnjährig und trat, nach kurzer Lehrzeit
bei einem Buchhändler, beim Schaaffhausenschen Bankverein zu Köln ein. Nun
erfaßte ihn der bei all solchen Gestalten immer wiederkehrende ungeheuere
Bildnngsdrang, der sich vor allem in einer fruchtbaren Lesewut ansieht. Acht¬
zehnjährig schreibt Rosenow für Zeitungen, bunt durcheinander Leitaufsätze,


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[0383] Linn Rosenow Die Literaturgeschichte der Gegenwart scheint diese Fragen zum mindesten nicht mit einem Nein beantworten zu lassen — denn zwei so ganz und gar dramatische Begabungen wie Stavenhagen und Rosenow sind mitten in der Jugendfülle dahingegangen, nach einem leidenschaftlich innerlich erfaßten Leben, und sie haben in der triebhaften Erfassung dessen, was der dramatische Dichter vor allem braucht, in unserer neueren Dichtung seit Gerhart Hauptmann nicht ihresgleichen. Gewiß haben wir feinere Künstler, reichere Geister, aber keine Dra¬ matiker mehr von so stark angeborenem, dramatischen Instinkt. Denn darauf kommt es an, ob der dramatische Dichter von vornherein in dramatischer Hand¬ lung gedacht und empfunden hat. Die übergroße Zahl aller Dramen, und auch der heutigen deutschen, läßt gerade dieses Zwangsgefühl vermissen, und immer wieder findet man begabte Erzähler, die glauben, sich dramatisch aus¬ sprechen zu sollen. Bei dem geborenen Dramatiker muß auch ein mißlungenes Drama noch deutlich erkennbar machen, daß es nicht ein in Gesprächsform gebrachter Romanstoff, sondern ein in unmittelbarer Handlung, im dramatischen Gegeneinander empfangener und dann ausgeführter dramatischer Gedanke war. Es gibt keine Art der Dichtung, die so anzöge und reizte wie diese — und ich spreche dabei ausdrücklich nicht von dem äußeren Erfolg und von dem Glanz und Schimmer der Bühne; ich rede nur künstlerisch davon, wie lockend es für jeden Dichter ist, sich seine Gestalten in unmittelbarer Aussprache mit- und gegeneinander vorzustellen. Und dieser Lockruf verführt dann nur allzu oft den geborenen Erzähler zur dramatischen Bearbeitung, für die ihm weder der Stoff noch die angeborene Kraft zur Verfügung steht. Dein Lyriker ist es immer wieder ebenso ergangen. Bei Fritz Stavenhagen aber kommt dem Leser auf keiner Seite ein ähn¬ liches Gefühl der mangelnden Übereinstimmung von Stoff und Form, von Trieb und Wille. Auch da, wo er noch nicht reifste Kunst bietet, von seinen besten Werken ganz zu schweigen, schauen wir immer: hier handelt es sich nicht um einen Notbau, um das Werk eines Zimmermanns, der eigentlich ein Gärtner ist, sondern hier schafft immer jemand, der gar nicht anders als im dramatischen Bilde sehen, keine andere als dramatische Sprache hören kann. Und vollkommen das Nämliche gilt von Emil Rosenow, dessen äußeres Schicksal auch manche Verwandtschaft mit dem Stavenhagens hat. Auch er ging aus sehr kleinen Verhältnissen hervor — er war der Sohn eines Schuhmacher¬ meisters. Am 9. März 1871 wurde er zu Köln geboren; seine Eltern stammten jedoch aus dem Kreise Neu-Stettin, so daß seine Abkunft nach Niederdeutschland hinweist. Die Familie verarmte, und Emil Rosenow kam aus der Mittelschule in die Volksschule, verließ diese vierzehnjährig und trat, nach kurzer Lehrzeit bei einem Buchhändler, beim Schaaffhausenschen Bankverein zu Köln ein. Nun erfaßte ihn der bei all solchen Gestalten immer wiederkehrende ungeheuere Bildnngsdrang, der sich vor allem in einer fruchtbaren Lesewut ansieht. Acht¬ zehnjährig schreibt Rosenow für Zeitungen, bunt durcheinander Leitaufsätze,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/383>, abgerufen am 01.07.2024.